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Thailand – Konflikt zwischen Mensch und Tier: Wenn Elefanten Menschen töten

June 05
00:15 2023

Sie kann vom Garten aus die Stelle sehen, dort hinten bei den Eukalyptusbäumen, zu der sie eilte und sofort verstand. Weil es so still war, weil über dem grausamen Moment eine seltsame Ruhe lag.

Piyawan Daonan steht in ihrer Einfahrt, in Tha Thakiap, einem Distrikt in der thailändischen Provinz Chachoengsao. Sie ist 42 Jahre alt, Mutter von zwei Kindern, eine zierliche Frau, die nachts fast nur mit Medikamenten schlafen kann und begleitet von Albträumen, seit sie Witwe ist. Sie zeigt, ohne selbst mit hinüberzublicken, zu dem Ort, wenige Hundert Meter entfernt, an dem der Elefant ihren Mann niedertrampelte.

Sie sitzt, die Haare nach hinten gebunden, auf einem der verblichenen Plastikhocker vor dem Haus, verscheucht Fliegen aus ihrem Gesicht und erzählt. Von ihrem Ehemann, der an einem Tag im Mai 2022 rüberging zur Plantage, um reife Cashewnüsse zu ernten. Gegen halb sechs setzt die Dämmerung ein, deshalb sei er immer vorher zurückgekommen. An diesem Tag sei es aber fünf geworden, halb sechs, sechs am Abend. Die Sonne ging unter. In der Rückschau meint sich Piyawan zu erinnern, einen Hilferuf vernommen zu haben, aber vielleicht, sagt sie, trüge sie die Erinnerung.

Sie schaut nach. Sieht die Erntegeräte herumliegen. Sieht die Fußabdrücke eines großen Tiers, zerwühltes Gras, die Stiefel ihres Mannes, einer hier, einer dort, seine Kleidungsstücke. Piyawan holt einen Nachbarn. Zusammen finden sie den Körper des Ehemannes, den Körper von Siripong Daonan, Anfang 40, auf dem Bauch liegend, leblos.

Zwischen 2017 und 2022 sind in Thailand mehr als 135 Menschen durch Elefanten zu Tode gekommen, in diesem Jahr schon 15. Die Tiere zerstören oft den Großteil der Ernten auf den Feldern. Bauern geraten in finanzielle Not, geben ihren Beruf auf, ziehen weg.

Piyawan erzählt, dass der Elefant immer noch in Sichtweite vom Unglücksort gewesen sei, »er wirkte aufgekratzt, aggressiv, wie nach einem Kampf«. Wie immer mehr Dorfbewohner kamen, um den Elefanten in Richtung Wald zurückzudrängen. Sie selbst blieb bei ihrem Mann, um ihn zu schützen, wenigstens jetzt.

Piyawan trägt ein Fußballtrikot, das ihr fast zu den Knien reicht und vorn beflockt ist mit zwei goldenen Elefanten, dem Logo der bekannten thailändischen Biermarke »Chang«. Chang heißt Elefant. Elefanten stehen in Thailand für Stärke und Loyalität, für Erhabenheit und Weisheit. Erfolgreiche Unternehmen werben mit dem Tier als Symbol. Es gibt ein Bild vom alten thailändischen König Bhumibol, das in vielen Garküchen des Landes über dem Herd hängt, wo ein geschmückter Elefant dem König den langen Rüssel reicht. Bis 1916, als Thailand noch Siam hieß, zierte ein weißer Elefant die Nationalflagge.

Der Elefant ist das Tier der Nation.

Der Elefant ist das Tier, das in Piyawans Heimat, in den Provinzen rund um den Nationalpark Ang Rue Nai, seit einigen Jahren für Tod und Verwüstung sorgt.

2023: »Frau von Elefant zu Tode getrampelt«

2021: »Mangobauer während der Ernte von Elefant angegriffen, tot«

2016: »Wilder Elefant tötet Dorfbewohner, Herde überfällt Felder«

2014: »Sechs Tote bei Autounfall, Zusammenstoß mit wildem Elefanten«

Piyawan Daonan ist in der Gegend aufgewachsen. Es habe in ihrer Kindheit nie Elefanten in der Nähe der Menschen gegeben, erzählt sie. Erst vor acht oder neun Jahren seien die Tiere auf einmal da gewesen. Sie versteht wie viele andere nicht: Wieso?

Sie müssen ganz nah sein, sagt Navee Cheachean zur Truppe, er zeigt auf die großen Abdrücke im getrockneten Schlamm. Es ist ein Abend Ende März, und eine Gruppe Männer und Frauen mit Stirnlampen auf den Köpfen zieht über die Feldwege. Cheachean ist der Präsident der »Chonburi Elephant Volunteers«. Es gibt Dutzende solcher Freiwilligengruppen rund um den Nationalpark Ang Rue Nai, so was wie eine Freiwillige Elefanten-Feuerwehr. Junge Leute, Männer und Frauen in Tarnanzügen, die mit ihren Pick-ups raus zu den Plantagen fahren. Die sich Lotion gegen Zecken in den Nacken schmieren und sich mit Entencurry und gekochten Eiern stärken. 20-Jährige aus den thailändischen Dörfern, in denen, wenn die Sonne untergegangen ist, und sie geht früh unter, sonst nicht viel passiert, außer ein bisschen Bier trinken und Musik hören vor den Eingängen der Häuser.Jetzt jagen sie nachts die Tiere aus den Dörfern.

Eine Bäuerin hat angerufen, dass sie Hilfe brauche, dass die Elefanten vorhin in ihrem Hain standen und es auf die reifen Durianfrüchte abgesehen hätten.

Navee sagt: »Niemand hilft uns. Die Politik schaut weg. Wir sind die Einzigen, die den Leuten hier beistehen.«

Ein Helfer sagt: »Für diesen Job brauchst du ein Herz und keine Angst.«

Bevor ein wilder Elefant aus dem Dickicht tritt, bevor man ihn sieht, kann man ihn hören. Sein tiefes, feuchtes Schnaufen. Vielleicht vernimmt man ein paar seiner Schritte; wie Wurzeln unter seinem Gewicht brechen; wie er immer wieder anhält, horcht, atmet, abwägt, ob er aus dem Schutz des Waldes treten kann.

Ein Knall, die Freiwilligen zucken. Der Rest der Crew ist ein paar Hundert Meter weit weg und zündet mit Sprengstoff gefüllte Bälle, die sie »Pingpongs« nennen. Die sollen die Elefanten erschrecken, ohne sie zu verletzen.Die Männer und Frauen kesseln den Ort, an dem sie die Tiere vermuten, von zwei Seiten ein, wie ein »V«. Feuern weiter den Hügel rauf. Treiben die Tiere raus aus den Orten, die die Menschen für sich beanspruchen. Manchmal bis zur Dämmerung des nächsten Morgens. Sie verteidigen die Linien der Zivilisation.

Die Geschichte von Mensch und Elefant in Thailand ist eine vom Kampf um Raum zum Leben, der im vergangenen Jahrhundert begann.

Wäre man um das Jahr 1960 mit einer Drohne über den Osten Thailands geflogen, hätte man aus der Luft vor allem dies gesehen: dunklen, dichten Wald. Die Hälfte des Landes bestand aus Dschungel. Fliegt man heute über die Provinzen dort, etwa wo die Witwe Piyawan Daonan lebt, fängt die Kamera ein: zersiedelte Landschaft, hektarweise in Rechtecken abgemessene Plantagen. Gummibäume. Ölpalmen. Reisfelder. Zuckerrohr. Eukalyptus. Durian. Dazwischen kleine Siedlungen, die Dörfer der Bauernfamilien.

Der Wald in Thailand ist in den vergangenen siebzig Jahren, während sich die Einwohnerzahl verdreifachte, um mehr als die Hälfte geschrumpft, angetrieben durch Initiativen der Regierung. Die verfolgte das Ziel, die Gegenden im Osten zu bevölkern, die Flächen dort als Farmland zu nutzen, um die wachsende Bevölkerung zu ernähren und ins Ausland zu exportieren. Viele Menschen aus anderen Teilen des Landes zogen in die Gegend, rodeten Wald, erwarben günstig das frei gelegte Land, bestellten es. Die gigantischen Waldflächen wurden nach und nach zu isolierten grünen Inseln, eingehegt von Zivilisation.

Anfang des 20. Jahrhunderts lebten noch mehr als 100.000 Elefanten in Thailand. Anfang der Nullerjahre waren es weniger als 3000 im ganzen Land. Thailand raubte dem Elefanten seinen Platz, und hätte es beinahe fertiggebracht, sein Nationaltier auszurotten.

Die Politik reagierte: Das, was vom Dschungel übrig geblieben war, wurde eilig geschützt, als Nationalparks und Reservate für Wildtiere. Der »Wildlife Conservation and Protection Act B.E. 2562« verbietet die Jagd auf Elefanten, sie gelten als gefährdet. Endlich hatten die Elefanten in den Wäldern ihre Ruhe. Niemand zählte nach, wie viele Jungtiere geboren wurden.

Doch der Schutz des wilden Tiers klappte so gut, dass nach und nach die Herden zu groß wurden für das Reservat, der Hunger trieb die ersten Elefanten aus dem Wald. Draußen fanden sie Felder voll Ananas und Zuckerrohr, Maniok, Mangostan, Passionsfruchtbäume, Felder, auf denen gerade die zarte Reissaat aufgegangen war. Hier können sie sich für Tage satt fressen. Sie können ihren Durst stillen, weil umweit der Felder stets Wasserrückhaltebecken zu finden sind. Gummibaumplantagen bieten genauso viel Schutz wie der große Dschungel.

Anfang der Nullerjahre standen die ersten Elefanten in den Vorgärten der Dorfbewohner.

Navee, der Anführer, sagt, oberstes Gebot: Keinem Elefanten näher als zehn Meter kommen, sonst bist du tot.

Um ein Problem anzugehen, muss man zuerst ermessen, wie groß es ist.

Bevor er zum Anführer wurde, hatte Navee in der Gegend Jackfrüchte angebaut, die er nach China exportierte, dann Eukalyptus. Die Elefanten, erzählt er, seien jeden Tag gekommen. Er sei mehrmals umgezogen, anderer Ort, andere Erntefolge, aber die Tiere kamen und zerstörten. Navee schloss sich dem örtlichen Ranger an. Sie fanden viele Lehrbücher darüber, wie man den Elefanten schützt. Sie fanden keins darüber, was man macht, wenn der Schutz funktioniert hat. Also studierte Navee draußen die Tiere. Wann sie wohin gehen.

Und vor allem, er zählte: Wie viele wilde Elefanten gibt es überhaupt?

Es könnten, sagt Navee, inzwischen mehr wilde Elefanten in und um das Ang-Rue-Nai-Reservat leben als offiziell bekannt. 300 drinnen, 400 draußen. Die Bestände haben sich gut erholt. Ein Erfolg. Doch die Politik ziert sich, ihn zu verkünden, offiziell sind es immer noch insgesamt 300. In Europa ziehen der Wolf und der Bär eine Spur der Verwüstung, in Thailand der Elefant. Wer die wilden Tiere zählt, muss sich aber auch dieser Frage stellen: Wie viel Platz steht dem Tier zu?

Navee zitiert, was er gelernt hat:

Strecke, die ein wilder Elefant zum täglichen Sattfressen in der Natur ablaufen muss: etwa zehn Kilometer.

Für Elefanten geeignete Fläche des Reservates Ang Rue Nai: 1000 Quadratkilometer.

Navee sagt: Dass es den Tieren drinnen irgendwann zu eng werden würde, hätte man ausrechnen können.

Dorfbewohner sichten immer öfter Elefantenbabys. Die Herden wachsen wegen der vielen Nahrung schneller als in der Wildnis – inzwischen um acht anstatt um ein Prozent, schätzen Ranger und Forstbeamte. Die Elefanten finden Gefallen am Lebensraum der Menschen.

Es gibt einen Elefanten namens »Mango«, der nachts durchs Dorf geht und in die Küchen der Leute einbricht. Der Wachmann einer Baustelle, der in den Nächten oft Besuch bekommt von »Ten Wheels«, dem größten Elefanten der Gegend, sagt: Es gibt kaum einen Elefanten, dessen Körper nicht durch die Sprengsätze der Menschen gezeichnet ist, und dass ein Elefant nichts vergesse.

Die Regierung hat Hunderte Kilometer Zäune und Barrikaden aufgestellt um das Reservat herum, manche aus Maschendraht, manche aus Beton, alle meterhoch. Doch die Tiere drücken sie zur Seite wie Gymnastikmatten.

Es gibt Einsatzzentralen der Wildtierbehörden, in denen Überwachungskameras ausgewertet werden, die zeigen, wo und wann Elefanten in welche Richtung unterwegs sind. Doch die Tiere sind schneller als das System.

Anführer Navee sagt, die lokalen Politiker hörten manchmal zu, die in Bangkok nicht. Die Freiwilligen zahlten alles selbst: die Pingpongs, das Benzin. Sie haben meistens keine Versicherung, falls sie sich verletzen.

Der Mensch denke immer noch, dass der Elefant in den Wald gehöre. Aber das stimme nicht mehr. Ein Krieg sei vorbei, wenn einer viel stärker sei als der andere, sagt Navee. Oder wenn zwei sich auf einen Kompromiss einigten. Der Elefant kann mit den Menschen leben. Der Mensch auch mit ihm?

Die Politik hat ihre Antwort gegeben: Es gibt Pläne über eine neue Wirtschaftszone im Osten Thailands. Unternehmen sollen angesiedelt werden. Grünfläche wird Beton weichen. Der Verteilungskampf um Raum noch größer werden.

Es gibt Lösungsvorschläge. Ranger und Wissenschaftler, die finden, Geburtenkontrolle wäre eine Möglichkeit, um die Herden zu minimieren. Elefantenkühe werden aus der Luft mit Hormonen beschossen, was teuer und aufwendig ist. Es gibt, um bestimmte Gebiete zu entlasten, die Idee von Korridoren zwischen den Nationalparks und Umsiedlungsprogrammen, die aber nicht beliebt sind, weil das Problem dann in eine andere Region verfrachtet wird.

In Botswana, wo sich die Elefanten in den vergangenen Jahren auch stark vermehrt haben, ist das gezielte Schießen von Elefanten wieder erlaubt. Aber der Abschuss des Nationaltiers, wer würde das hier öffentlich fordern?

Der Asiatische Elefant, bis zu drei Meter hoch, bis zu fünf Tonnen schwer, das größte Landsäugetier des Kontinents, lebt seit Millionen Jahren in Thailand. Die ersten Vorfahren des thailändischen Volks setzten ihren Fuß vor 1000 Jahren in die Gegend.

Der Mensch, sagt Navee, fliegt ins Weltall, er sucht nach neuen Planeten, auf denen er leben könnte, wenn es auf der Erde zu eng geworden ist. Die Elefanten, sagt der Ranger, seien gar nicht so anders. Sie suchten nach neuen Orten, an denen sie leben können, weil der Raum, den ihnen der Mensch gelassen hat, zu eng geworden ist.

Diese Recherche und der Fotograf wurden auch unterstützt vom Rainforest Journalism Fund des Pulitzer Center.

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