Wie weit reicht ein Netz-Hit?: Auf Tiktok hat die Linke einen Vorteil: Heidi Reichinnek
Politik
Mit ihrer Brandmauer-Rede verdoppelt die Linken-Politikerin Heidi Reichinnek ihre Gefolgschaft auf Social Media. Doch was bedeutet dieser Erfolg für die Partei außerhalb des Netzes?
Der rote Pony hüpft, Heidi Reichinneks rechter Zeigefinger klackt immer wieder hart auf das Pult. Zehnmal in zehn Sekunden. Ihre Stimme überschlägt sich fast, als sie ruft: "Das ist das verdammte Problem und Sie verstehen es bis jetzt noch nicht!" Die Linken-Vorsitzende wirft Union und FDP vor, gezielt Mehrheiten mit der AfD gesucht zu haben. Ihre Rede im Bundestag erntet Widerspruch, aber auch Applaus.
Im Netz entfacht sie einen Sturm der Begeisterung: Laut Angaben der Linken erreicht das Video ihrer Brandmauer-Rede rund 30 Millionen Aufrufe. Auf Instagram und Tiktok verbreiten sich Ausschnitte in rasantem Tempo. Ein Nutzer kommentiert: "Mega emotional, das sind Politiker, denen wir glauben." Eine Nutzerin schreibt: "Ich liebe Heidi Reichinnek. So. Jetzt isses raus." Knapp 2500 Menschen gefällt das.
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Laut Recherchen des Medienmagazins "Meedia" verdoppelt Reichinnek die Zahl ihrer Instagram-Follower nach der Rede von 130.000 auf 288.000. Auf Tiktok wächst ihr Publikum binnen Tagen von 348.000 auf 460.000.
"Sie hat einen eigenen Stil erfunden"
Dieser Erfolg sei kein Zufall: "Heidi Reichinnek war eine der ersten Politikerinnen, die Tiktok kontinuierlich nutzten", sagt Politikberater Martin Fuchs auf ntv.de-Anfrage. Sie sei schon lange eine der reichweitenstärksten Akteurinnen neben der AfD. Reichinnek selbst sagt: "Ich bin 2021 zu Tiktok gegangen, weil es mir wichtig war, auch auf diesem Weg Menschen zu erreichen, weil ich auf Augenhöhe mit den Leuten sprechen möchte." In der vergangenen Woche hätten sich viele Menschen bedankt, "dass ich ihren Frust und ihre Wut in den Bundestag getragen habe", sagte sie in einem Interview mit RTL/ntv.
"Sie hat einen eigenen Stil erfunden", sagt Fuchs: Die Linken-Politikerin sei authentisch, bereite komplexe politische Themen plattformspezifisch auf – ohne dabei nur auf Fundamentalopposition zu setzen. Das habe sie zur "Kultfigur in #politiktok" gemacht. Reichinneks Social-Media-Erfolg ging dabei ihrem Aufstieg in der Partei voraus. "Sie war erst eine Größe auf Tiktok, bevor sie es auch im politischen Establishment der Linken wurde", so Fuchs.
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Auch Medienwissenschaftlerin Katharina Kleinen-von Königslöw von der Universität Hamburg sagt: Die Linke versteht Social Media. Besonders Reichinnek füge sich mit ihren Videos in die Tiktok-Ästhetik ein, liefere, was sich die Menschen auf der Plattform wünschten – und würde dann "entsprechend relativ schnell vom Algorithmus gepusht".
Inhalte schwappen über
Gleichzeitig hat die Linke einen inhaltlichen Vorteil zu Union, FDP, Grünen und SPD: Sie betreibt Fundamentalopposition. "Negative Campaigning gehört zu Tiktok – und solche Videos können Oppositionsparteien besser erstellen", sagt Kleinen-von Königslöw im Gespräch mit ntv.de.
Das Gefühl für die Plattform und die Fundamentalopposition: Im Fall der Brandmauer-Rede wirkt beides zusammen. Das Thema sei perfekt für Social Media, sagt Kleinen-von Königslöw. "Die Brandmauer – das lädt zur Visualisierung ein." Das gemeinsame Abstimmen von Union und AfD: "Das lässt sich gut zuspitzen und emotional verpacken in eine sehr grundsätzliche Frage." Heidi Reichinnek ist das gelungen.
Aber was ist der Netz-Erfolg wert für die Partei? Tiktok-Fans allein bringen wenig. Sie sind zu jung und zu wenige: Nur jeder achte Wahlberechtigte ist jünger als 30 Jahre, jeder zweite dagegen ist älter als 50 Jahre. Soziale Medien seien sehr durchlässig, gibt Kleinen-von Königslöw zu bedenken: Inhalte schwappten über – auf Instagram, Facebook, in Whatsapp-Gruppen. "Wenn etwas auf Tiktok gut läuft, wird es auch auf anderen Plattformen geteilt und erreicht damit ganz andere Bevölkerungsgruppen."
"Demos organisieren sich stark über soziale Medien"
Auch Politikberater Fuchs sagt: "Der Erfolg ist extrem wertvoll für die Partei." Die Aufmerksamkeit, die Reichinneks Rede erzeugt habe, sei unbezahlbar und anderswo nur schwer zu erzeugen. Dass nun – wie in diesem Artikel – die klassischen Medien das Thema aufgriffen, werde "dem Hype weiteren Auftrieb geben", so Fuchs.
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Neben Reichinnek ziehen weitere Linken-Politiker im Netz Aufmerksamkeit auf sich – Caren Lay, Gregor Gysi und die anderen Silberlocken. Ihren Stil beschreibt Fuchs so: klare Inhalte, Selbstironie, ein Gespür für die Plattform. In den Augen des Politikberaters befeuert das auch die tausenden Neueintritte, die die Partei in den vergangenen Wochen verzeichnen konnte.
Noch wichtiger womöglich: Social Media mobilisiere, sagt Kleinen-von Königslöw: "Demos organisieren sich stark über soziale Medien." Zu den Demos für den Erhalt der Brandmauer etwa gingen nicht nur Jugendliche – auf der Straße stünden auch Ältere. So bleibt Reichinneks Brandmauer-Rede nicht auf Tiktok. Sie schwappt weit über die Plattform hinaus, schlägt Wellen.
Quelle: ntv.de