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Hongkong – Aktivisten scheitern bei Flucht: In Chinas Fängen

September 18
20:47 2020
Pressekonferenz mit Verwandten der Festgenommenen: Anwälte würden durchweg nicht zu Inhaftierten vorgelassen Icon: vergrößern

Pressekonferenz mit Verwandten der Festgenommenen: Anwälte würden durchweg nicht zu Inhaftierten vorgelassen

Foto: JEROME FAVRE/EPA-EFE/Shutterstock

Die zwölf Hongkonger hatten einen waghalsigen Plan. Früh an einem Augustmorgen waren eine Frau und elf Männer, zwischen 16 und 33 Jahren alt, in ein Motorboot gestiegen und hatten auf Taiwan zugehalten. Als Anhänger der Protestbewegung standen sie in ihrer Heimatstadt vor diversen Gerichtsprozessen. Auf der demokratisch regierten Insel winkte die Freiheit. Mitstreitern war die Flucht auf diesem Weg schon geglückt.

Im Spätsommer ist das Südchinesische Meer meist ruhig, die rund 700 Kilometer lange Reise nach Taiwan auf einem kleinen Boot war dennoch gefährlich. Teils monatelang hatten sich die zwölf Hongkonger darauf vorbereitet. Sie hatten diskret ein Boot organisiert und es zu navigieren gelernt. Es war ein Fluchtversuch wie im Film – der allerdings scheiterte: Sie kamen gerade mal 50 Seemeilen weit, bis Chinas Küstenwache sie aufgriff.

Seither sind sie auf dem Festland in Gewahrsam. "Ich habe versucht, meine Mandantin zu besuchen, doch mir wurde mitgeteilt, sie habe mich gegen zwei andere Anwälte ausgetauscht", sagt der chinesische Anwalt Lu Siwei, Rechtsbeistand der Frau aus der Gruppe. Auf einer tränenreichen Pressekonferenz berichteten Angehörige, die von ihnen beauftragten Anwälte würden durchweg nicht zu den Inhaftierten vorgelassen, auch die Familien hätten sie nicht sprechen dürfen.

Wandel des Hoffnungsortes Hongkong

Die vereitelte Flucht wirft ein Schlaglicht darauf, wie sehr Hongkong sich innerhalb weniger Monate gewandelt hat. Einst war die Stadt ein Hoffnungsort für Menschen, die vor Armut, politischer Verfolgung und Krieg flüchteten, ein Refugium für ungezählte Festlandchinesen und mehr als 50.000 Boatpeople aus Vietnam. Heute, nachdem die Polizei die Proteste niedergerungen und Peking der Stadt ein neues sogenanntes Staatssicherheitsgesetz aufgezwungen hat, versuchen junge Leute, von dort zu entkommen, als sei Hongkong die DDR.

Hongkongs Regierung beharrt darauf, die zwölf seien Verdächtige in Kriminalfällen, die sich der Justiz entzogen hätten. Tatsächlich waren sie alle zuvor im Zuge der Proteste festgenommen worden; elf von ihnen war gerichtlich untersagt, die Stadt zu verlassen. Einige hätten sich wohl auch in einem Rechtsstaat wie Deutschland einem Verfahren stellen müssen, etwa vier angebliche Mitglieder der radikalen Frontliner-Gruppe "Drachentöter", denen Bombenbau zur Last gelegt wird.

Zu der Gruppe gehört aber auch Andy Li, ein bekannter Aktivist, über dem ein Verfahren nach dem Staatssicherheitsgesetz schwebt. Li war am selben Tag wie der kritische Medienunternehmer Jimmy Lai verhaftet und nur gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt worden. Sein Fall illustriert, unter welchem Druck Demokratieaktivisten stehen, gegen die das neue Gesetz in Stellung gebracht wird.

Der Fall des Aktivisten Li

Im vergangenen November, am Vorabend der Hongkonger Bezirksratswahlen, tigerte Li durch eine Hotelsuite im Stadtteil Kowloon. Ein spindeldünner 29-Jähriger voll nervöser Energie, strähniges Haar, die Füße in Pantoffeln. Die Suite diente als Hauptquartier einer Aktion, die Li federführend organisiert hatte und die das Hongkonger Recht nicht brechen, sondern im Gegenteil seine Einhaltung garantieren sollte: Gemeinsam mit Unterstützern hatte Li eine internationale Wahlbeobachtermission auf die Beine gestellt.

"Weil die Regierung versagt hat, übernimmt jetzt die Bevölkerung die Verantwortung", begründete er sein Engagement, das er mit seinem Job als Programmierer balancierte. "Wir, das Volk, empfinden es so, dass unsere Regierung und die Strafverfolgungsbehörden nicht im Interesse der Bevölkerung handeln, sondern auf Anweisung Pekings", sagte er. "Der Staat existiert aber für die Menschen, nicht andersherum."

Um die Mission zu finanzieren, hatten die Aktivisten um Li über die Spendenplattform GoFundMe rund 1,8 Millionen Dollar eingesammelt. Als Wahlbeobachter flogen sie 19 Experten aus zehn Ländern ein. Das Mitglied des britischen Oberhauses Lord David Alton, der die Mission leitete, zeigte sich von der professionellen Organisation begeistert: "Es ist wundervoll zu sehen, wie leidenschaftlich sich diese jungen Leute für die Demokratie einsetzen", sagte er. Die Wahlen gewannen die sogenannten Pandemokraten haushoch.

Heute bezichtigen Hongkongs Strafverfolgungsbehörden Li des "Zusammenwirkens mit ausländischen Mächten" – ein Straftatbestand unter dem neuen Staatssicherheitsgesetz, das als Höchststrafe lebenslange Haft vorsieht. Zudem werfen sie ihm Geldwäsche vor.

Justizverfahren auf dem chinesischen Festland

Nach der gescheiterten Flucht stehen diese Vorwürfe zunächst zurück, schließlich befinden sich Li und die elf anderen derzeit nicht in Hongkong, sondern in der Volksrepublik. Die Behörden im südchinesischen Shenzhen haben bekannt gegeben, die zwölf müssten sich dort zunächst wegen illegalen Grenzübertritts verantworten. Laut dem Anwalt Lu kann ein Schuldspruch bis zu ein Jahr in einem chinesischen Gefängnis bedeuten, bevor sie nach Hongkong überstellt werden.

In einer E-Mail an den SPIEGEL prognostiziert Lord Alton einen "klassischen kommunistischen Schauprozess": "Angesichts einer Verurteilungsrate von 99 Prozent in China muss man kein Wahrsager sein, um das Ergebnis vorherzusagen."

Tatsächlich hat Peking sein Urteil offenbar schon gefällt. Die zwölf seien keine Demokratieaktivisten, twitterte die chinesische Außenamtssprecherin Hua Chunying, sondern "Elemente, die Hongkong von China abzuspalten versuchen".

Das war eine Meinungsäußerung und noch kein Richterspruch. Dennoch kann man sie kaum anders denn als Einschüchterung verstehen: Auch Separatismus kann unter Hongkongs sogenanntem Staatssicherheitsgesetz mit lebenslanger Haft bestraft werden.

Icon: Der Spiegel

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