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Große Koalition ringt um Moria-Flüchtlinge: Nur nicht wieder ewig streiten

September 15
01:19 2020
Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos Icon: vergrößern

Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos

Foto: Milos Bicanski / Getty Images

Um die historische Niederlage geht es erst ganz am Ende. Denn als die SPD-Vorsitzenden am Montag mit Kanzlerkandidat Olaf Scholz aus dem Willy-Brandt-Haus und vor die Kameras treten, geht es zunächst um Flüchtlinge, um die Forderungen an den Koalitionspartner.

Norbert Walter-Borjans ist es schließlich, der dann doch ein paar Worte sagt zum schlechtesten Ergebnis der SPD bei einer Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen.

Und was sagt Walter-Borjans? Die SPD sei klar zweitstärkste Kraft geworden und habe die Talsohle der Europawahl 2019 durchschritten. Die hohen Verluste (minus 7 Prozentpunkte)? Das schwache Abschneiden in zahlreichen Städten und Gemeinden? Der SPD-Vorsitzende redet die Lage nichtsdestotrotz schön.

Klar ist: Die Wahl in NRW war ein Stimmungstest für die Vorsitzenden – und für Scholz. Dieser Test ging daneben. Die SPD hat die x-te Wahl verloren, nun mal wieder in ihrem Stammland.

Scholz will Entscheidung bis Mittwoch

Umso schneller wollen die Genossen das Thema an diesem Tag abhaken – obwohl in zwei Wochen noch 26 Stichwahlen in NRW stattfinden. Für drängender hält die SPD an diesem Tag die Lage der Flüchtlinge aus dem abgebrannten Lager Moria. Die Sozialdemokraten wollen deutlich mehr Menschen von der griechischen Insel Lesbos aufnehmen als jene 150 Minderjährigen, deren Kommen Innenminister Horst Seehofer (CSU) am Freitag angekündigt hatte.

Das sei "völlig ungenügend", heißt es in einer Resolution des SPD-Parteivorstands: Seehofers Erklärung könne "nur ein erster, kleiner Schritt sein". Länder und Kommunen wollten deutlich mehr Flüchtlinge aufnehmen, so die SPD. Diese Bereitschaft müsse Seehofer "endlich konstruktiv aufgreifen".

Die Sozialdemokraten sind bei diesem Thema so einig wie selten. Im Parteivorstand gab es laut Teilnehmern lediglich einzelne, die warnten, man dürfe jetzt nicht naiv sein. Die meisten jedoch forderten, Deutschland müsse mehr tun. Sprich: mehr Flüchtlinge aufnehmen.

Innerhalb von 48 Stunden soll es eine Verständigung in der Bundesregierung geben, sagte Scholz. Saskia Esken hatte am Sonntag noch verlangt, eine Entscheidung müsse bereits am Montag her. Auch ihre Forderung, eine hohe vierstellige Zahl an Flüchtlingen aufzunehmen, wiederholte sie nicht. Stattdessen sagte die Parteivorsitzende, Deutschland müsse einen "substanziellen Beitrag" leisten.

Die SPD hat sich lange schwer getan mit der Situation der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln. Doch nun treten die Genossen geschlossen auf. Und sie merken, dass sich der Koalitionspartner deutlich schwerer tut. Die Union habe Angst vor dem Thema, sagt ein Vorstandsmitglied.

Für CDU und CSU ist die Diskussion tatsächlich unangenehm. Die Umfragen sind gerade so paradiesisch, dass viele in der Union den Status Quo am liebsten einfrieren und jede unangenehme Debatte jenseits von Corona verschieben würden, eine um Flüchtlinge ganz besonders. Aber Moria lässt sich nicht einfach wegdrücken, Angela Merkel ist gefragt, und damit die gesamte Union.

Irgendwie muss die Bundesregierung helfen. Nur wie?

In der CDU-Präsidiumssitzung am Montag wurde deutlich, wie sehr sich die Partei mit der Frage quält, wie sehr sie noch mit den Erfahrungen von 2015 beschäftigt ist, als die Kanzlerin sich in der Flüchtlingskrise für einen humanitären Ansatz entschied. Mehrere Redner warnten vor einem erneuten Alleingang und einer Wiederholung des "Fehlers" von damals, darunter Jens Spahn, der Gesundheitsminister, der mit dem Satz zitiert wird: "Die Stimmung ist anders als 2015." Es dürfe jetzt keine endlosen Debatten geben.

Auch Ralph Brinkhaus, der Fraktionsvorsitzende, warnte davor, allzu große Kontingente aufzunehmen. Man dürfe sich von der SPD nicht erpressen lassen, es könne nicht immer nur Deutschland sein, das helfe. Die Ministerpräsidenten Volker Bouffier aus Hessen und Michael Kretschmer aus Sachsen äußerten sich ebenfalls in diese Richtung.

In der SPD stößt das auf Unverständnis. Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) nennt das Argument "eine Phantomdiskussion": "Wir sind nicht allein", sagte Pistorius dem SPIEGEL. "Wir sind zehn Länder inklusive der Schweiz. Das ist nicht nichts." Deutschland könne nicht auf alle 27 Mitgliedstaaten warten.

Das Dilemma der Kanzlerin

Kretschmer, so heißt es aus der CDU weiter, habe gefordert, auch mal ein Signal in die andere Richtung zu setzen: Hilfen seien richtig – aber jene Menschen, die sich unrechtmäßig in Deutschland aufhielten, müssten auch konsequenter abgeschoben werden.

Die Kanzlerin ist im Dilemma. Berlin hat die EU-Ratspräsidentschaft inne, Angela Merkel muss also eine Lösung präsentieren. Gleichzeitig muss sie auf so ziemlich alle Seiten Rücksicht nehmen:

  • Auf die Griechen, die Unterstützung brauchen;

  • auf jene in ihrer Partei, die vor den strategischen Risiken warnen;

  • auf die SPD, die Druck macht.

  • Und über allem schwebt die Sorge, dass die Türkei die Lage ganz genau beobachtet und sofort Flüchtlinge Richtung Deutschland schicken würde, wenn die Bundesregierung sich allzu großzügig gibt.

Eine Sitzung des Koalitionsauschuss' will Merkel dem Vernehmen nach keinesfalls – allein schon deshalb nicht, um den Eindruck zu vermeiden, das Thema belaste die Koalition. Es soll nun rasch entschieden werden. Je länger die Debatte um Moria geführt werde, so die Sorge in der Union, desto stärker könne die AfD profitieren.

Im Präsidium nannte Merkel Teilnehmern zufolge keine konkrete Zahl. Frustriert soll sie die seit Jahren festgefahrenen Gespräche über eine europäische Lösung kommentiert haben.

Wie diffus die Lage in der Union ist, zeigt sich auch an der CSU. Während Innenminister Seehofer in der Diskussion seit Tagen bremst, zeigt sich Parteichef Markus Söder offen dafür, mehr Flüchtlinge aufzunehmen als bislang geplant.

Söder hat seine eigenen Erfahrungen mit dem Flüchtlingsthema gehabt.

Im Landtagswahlkampf gab er den Hardliner und schoss wochenlang gegen Merkels Kurs in der Hoffnung, der AfD so das Wasser abgraben zu können. Die Strategie ging schief, Söder fuhr ein schwaches Wahlergebnis ein, er spricht heute von einer "Nahtoderfahrung". Söders Erkenntnis aus dem damaligen Wahlkampf ist, dass man es drehen und wenden kann, wie man will: Das Asylthema nutzt nur den Populisten.

Wie Merkel scheint er die neue Debatte so schnell wie möglich beenden zu wollen.

Icon: Der Spiegel

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