England explodiert vorm Finale: Spaniens EM-Riesen bekommen zur Unzeit ein großes Problem

Fußball-EM 10.07.24 03:06 min Highlights Halbfinale: NED – ENG Drama in der Nachspielzeit – England trotzt Xavi-Traumtor
Spaniens Fußballer sind der große Favorit auf den EM-Titel. Überragend stark spielt die Mannschaft bei diesem Turnier bislang auf. Anders als England. Die Three Lions rumpeln sich ins Halbfinale – dort aber gibt es die große Explosion.
Bis zu diesem Mittwochabend 21 Uhr schien die Sache glasklar: Der nächste Europameister heißt Spanien! Wie wunderbar hatte diese Mannschaft in diesem Turnier Fußball gespielt. Der alles könnende Super-Computer Rodri steuert die Maschine, die Hochbegabten Lamie Yamal und Nico Williams geben dem iberischen Spiel das Feuer, der glücklich ins Team rotierte (Noch)-Leipziger Dani Olmo die Raffinesse und Zielstrebigkeit.
Doch dann pfiff Felix Zwayer an eben diesem Mittwochabend das zweite Halbfinale in Dortmund an – und der englische Löwe ging gegen die Niederlande endlich auf Beutejagd. Man hatte sich schon große Sorgen um das Raubtier von der Insel gemacht. Wie lethargisch es war, wie appetitlos. Es fraß immer nur so viel, dass es sich gerade noch auf den vier Beinen halten konnte. Dass es am Sonntag in majestätischer Größe zum König werden könnte, das hatte wahrlich niemand geglaubt. Außer dem Löwen selbst. Und Dompteur Gareth Southgate.
Der Trainer der englischen Nationalmannschaft erlebte im Westfalenstadion seine große Erlösung. Vor jedem Spiel bei dieser EM hatten sich die richtenden Experten in ihre TV-Roben geschmissen und waren bereit zur Verurteilung: Schuldig im Sinne der Anklage! Die war scharfzüngig formuliert: Dieser verdammte Technokrat führt das milliardenschwere Starensemble ins Verderben, sprich abermals am Titel vorbei. Nach 58 Jahren, könnte man meinen, habe sich der Patient England an das chronische Leiden gewöhnt. Aber die Sache ist ganz anders: Englands Schmerzen werden immer größer und es gibt nur Medikament am Markt, was die Linderung verspricht: der Titel! Aber bislang fiel der Hammer der Richter als Urteilsspruch nicht. Denn Southgates England "is still on the pitch". England ist noch dabei. England fordert Spanien in Berlin heraus.
Foden steht exemplarisch für Englands Weg
Und England ist bei diesem Turnier ganz plötzlich die beste Version seiner selbst. Zwischen Gelsenkörken und Dortmund haben viele Spieler ihre Form wiedergefunden, ihren Platz im System mit Leben gefüllt. Aktuellstes Beispiel: Phil Foden. Der beste Spieler der abgelaufenen Premier-League-Saison stolperte bislang durch die EM. So richtig wollte nichts gelingen. Wer nicht weiß, wie Foden aussieht, der wäre niemals auf die Idee gekommen, dass der Kerl mit der Nummer elf ein Genie am Ball ist, torgefährlich, trickreich. Doch dann kam Dortmund und der Star von Manchester City rückte erneut von der Außenbahn näher ans Zentrum. Das behagt ihm mehr. Er dribbelte, er schoss, er belohnte sich zwar nicht, aber hatte großen Einfluss auf das Wirken seines Teams.
Nun ist es immer noch nicht so, dass diese anderthalb Milliarden Euro schwere Truppe als perfekt aufeinander abgestimmtes Kollektiv funktioniert. Noch immer gibt es Baustellen, noch immer greifen nicht alle Rädchen so, wie sie könnten. Bei Jude Bellingham hakelt es gerade ein bisschen, auch bei Harry Kane. Dafür sind John Stones und Kyle Walker aber mittlerweile richtig "on fire". Der Rolls-Royce beschleunigt, gerade noch rechtzeitig. Auf der Insel sind sie völlig losgelöst, wenn diese Adaption von Peter Schilling erlaubt ist. Der "Guardian" überwarf sich vor Glück und bestaunte Southgates Wandlung von einem "Technokraten zu einem rücksichtslosen Abenteurer".
Offensive Explosion des Trainers
So weit geht seine Wandlung womöglich noch nicht. Auch wenn er eines Freibeuters würdig den Sieg mit großen Gesten und bisher ungeahnten Emotionen feierte. Mindestens die ersten 45 Minuten gegen die Niederlande waren eine offensive Explosion des Trainers gewesen. England hat Tempo, Tiefe, manchmal gar Raffinesse. Die Fans rieben sich die Augen, die Experten auch. In diesen 45 Minuten reifte die Überzeugung, dass 58 Jahre voller Schmerzen an diesem Sonntag tatsächlich enden können. Ein Vater riss sich nach Schlusspfiff das Trikot vom Leib, sein Sohn, keine zehn Jahre alt, tat es ihm nach. Sie brüllten: Football is coming home! Sie brüllten, als gäbe es kein Morgen mehr. Die Leidenschaft für diesen historischen Moment könnte kaum größer sein.
Für Spanien kommt diese Explosion der Engländer zur Unzeit. Bislang hatte der iberische Stier das Turnier doch beherrscht. Kroatien wurde in der Vorrunde aus dem Weg getrampelt, Italien erst recht. Die Albaner bekamen die Kraft des spanischen B-Teams zu spüren. Die Furia Roja absolvierte die perfekte Vorrunde, spielte sich überall in die Herzen. Weil alles so herrlich leicht aussah. Weil die Mannschaft spielte und nicht verwaltete. Weil sie der Gegenentwurf zu England und Frankreich war. Weil sie die Liebe zum Ball dem eiskalten Pragmatismus der zwei anderen Giganten entgegenstellte. Georgien im Achtelfinale war keine Prüfung. Die folgte gegen Deutschland. Doch zeigten die Spanier ihre robuste Seite, ihre Widerstandskraft. Und gönnten sich ein wenig Drama, mit dem höchst umstrittenen Handspiel von Marc Cucurella. Nicht nur Grandezza ist Bestandteil ihres Portfolios, sondern auch die Grätsche. Frankreich im Halbfinale bekam das auch zu spüren.
"Das wird ein riesiges Spektakel"
Spanien hat alles beieinander, was ein Champion braucht. Arbeiter, ein Genie, zwei Magier, eine beeindruckende Abgezocktheit und reichlich Offensivpower. Die Furia Roja erzielte 13 Tore und würde mit einem weiteren Treffer den Rekord von Frankreich (1984) für ein EM-Turnier einstellen. Die Spanier erzielten fast doppelt so viele Tore wie England (7) und stellen neun unterschiedliche Torschützen. Besonders frappierend ist der Unterschied auch bei den abgegebenen Schüssen: Obwohl Harry Kane der Spieler mit den meisten Abschlüssen ist (17), feuerte Spanien 39 Schüsse (!) mehr ab als die Three Lions und hatte fast doppelt so viele Großchancen (21 zu 11). Bei der Verwertung hat allerdings England die Nase vorn (36 gegenüber 29 Prozent).
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Diese kreative und kaum ausrechenbare Mixtur stellen sie nun dem Heldenfußball der Engländer entgegen, die plötzlich die Kraft des Superstar-Kollektivs in sich entdeckt haben. Spaniens Trainer ängstigt diese Aussicht auf einen vor Selbstbewusstsein fast platzenden Gegner nicht, im Gegenteil. Er setzt auf ein furioses Finale. Die 22 Protagonisten taugen für einen gigantischen Blockbuster. "Das wird ein riesiges Spektakel, dem wir mit großer Hoffnung begegnen", sagte Luis de la Fuente in einer Videobotschaft. Sein Team darf nun auf den vierten EM-Triumph für Spanien nach 1964, 2008 und 2012 hoffen. Damit hätten die Iberer einen Titel mehr als die DFB-Auswahl und wären am späten Sonntagabend alleiniger Rekord-Europameister.
Im Endspiel, findet de la Fuente, treffen "sehr unterschiedliche Spielsysteme" aufeinander. "England ist körperlich sehr stark. Wir wollen unseren Stil durchsetzen, das Spiel dominieren und versuchen, keine Fehler zu machen." Bei einem so wichtigen Endspiele gebe es allerdings auch "viele psychologische Aspekte". Spanien hat bei der EM bisher alle Spiele gewonnen, die meisten beeindruckend stark. Das häufig gurkige England dagegen hat mehrfach das Drama beschworen: Last-Minute-Rettung gegen die Slowakei (durch den spektakulären Fallrückziehertreffer) von Jude Bellingham), grandioses Elfmeterschießen gegen die Schweizer, Joker-Erlösung in der 90. Minute gegen die Niederlande. Im Umgang mit zu überwindenden Krisen während eines Spiels sind die mit dem Rücken-zur-Wand-Engländer aktuell deutlich erprobter als Spanien, auch wenn die mit dem Siegtreffer gegen Deutschland im Viertelfinale in der 119. Minute ebenfalls Puls im hohen Euphorie-Bereich hatten.
Quelle: ntv.de