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Einzelhandel in der Krise: Wie sieht die Zukunft der Innenstädte aus?

July 11
23:37 2020
Ehemalige Hertie-Filiale in Frankfurt: Schandfleck für die Innenstadt Icon: vergrößern

Ehemalige Hertie-Filiale in Frankfurt: Schandfleck für die Innenstadt

Foto: imago images

Zum Beispiel Delmenhorst in Niedersachsen. Eine Kleinstadt, irgendwo zwischen Oldenburg und Bremen, 77.000 Einwohner, zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufstrebender Industriestandort, in dem die Nordwolle bis zu 4000 Menschen auf 13 Hektar Gelände Arbeit und Wohnraum bot. Die Gemeinde prosperierte. In den Siebzigerjahren kam mit dem Karstadt-Warenhaus gar ein Hauch von Metropole in die Fußgängerzone. Ein grauer Betonklotz zwar, aber einer mit farbenfrohem, weltläufigem Sortiment.

Es hätte so schön werden können an der Delme. Doch mit dem Ende der Nordwolle in den Achtzigerjahren begann der Abstieg: vom attraktiven Arbeits- und Lebensort zur Schlafstadt für das nahe gelegene Bremen. 2009 schloss schließlich das Kaufhaus auf der Langen Straße. Seither steht der Betonklotz leer, mehrere Investoren haben sich an der Wiederbelebung verhoben, der Stadtrat ist zerstritten, die umliegenden Kaufleute klagen, die Lokalzeitungen schreiben vom "Schandfleck" in der Fußgängerzone.

Ein Horrorszenario für jeden Bürgermeister. Aber eines, das vielen von ihnen drohen könnte.

Größter Umbruch der Geschichte

Der stationäre Einzelhandel in Deutschland ist mitten im wohl größten Umbruch seiner Geschichte. Der Handelsverband Deutschland (HDE) geht von 50.000 Geschäften aus, die durch die Corona-Pandemie schließen müssen. Vor allem Modeketten kriseln seit Monaten vor sich hin – und wurden durch Corona besonders hart getroffen. Gerry Weber etwa kam gerade aus der Insolvenz, als die Pandemie in Europa ankam. Nun steht die nächste Sanierung an, Hunderte weitere Mitarbeiter sollen gehen. Die Damenmode-Filialisten Hallhuber und AppelrathCüpper beantragten noch im April die Insolvenz in Eigenverwaltung. Bei Esprit soll jede zweite eigene Filiale in Deutschland geschlossen werden. Und der Warenhauskonzern Galeria Karstadt Kaufhof will inzwischen zwar nur noch 50 seiner 172 Häuser in Deutschland schließen, doch schon das stellt viele Stadtplaner und Rathauschefs vor eine große Frage: Was tun, um Verhältnisse wie in Delmenhorst zu verhindern? Wie belebt man ein Riesen-Kaufhaus wieder? Und: Wie sehen die Innenstädte aus, wenn Einzelhändler flächendeckend die Fahne hissen?

Die Antworten auf diese Fragen sind, je nach Sichtweise, sehr verschieden. Während Immobilieninvestoren und Projektentwickler weiterhin die Attraktivität und Notwendigkeit der Innenstadt als Handelsort predigen, um ihr Geschäftsmodell und ihre hohen Mieten zu retten, will Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) "wieder mehr Wohnen und Arbeiten in der Innenstadt ermöglichen". So, sagte der Präsident des Deutschen Städtetages dem "Tagesspiegel", solle die Fußgängerzone vor dem Kollaps gerettet werden.

Gemein ist vielen Konzepten, dass die Nachnutzung der großen Kaufhäuser darin eine Schlüsselrolle spielt. Bislang galten sie als "Anker" für die Innenstadt. Wo ein Kaufhof oder Karstadt steht, so die Rechnung, da steigt die Kundenfrequenz, der Umsatz, die Attraktivität – auch für die umliegenden Eisdielen, Pizzerien, Reisebüros oder Friseure. Wer aber mietet heute noch mehrere zehntausend Quadratmeter Verkaufsfläche, wenn nicht ein Warenhaus?

"In den Städten herrscht eine große Unsicherheit", sagt Boris Hedde, Geschäftsführer des Instituts für Handelsforschung IFH in Köln. Die einen überlegten, die leerstehenden Immobilien in Microhubs für Start-ups umzumodeln, andere, die Stadtverwaltung dort unterzubringen. "Es gibt keinen Masterplan", sagt Hedde. Klar sei nur: Alle Städte müssten sich überlegen, was eine attraktive Innenstadt wirklich ausmache.

Im Berliner Szenerestaurant Neni empfängt am Donnerstagnachmittag jemand, der darüber schon vor dem Corona-Shutdown nachgedacht hat. Stephan Gerhard, Hotel-Investor und Gründer der Beratungsgesellschaft Treugast, will die leerstehenden Warenhäuser in "urbane Treffpunkte" umbauen, wie er das nennt. Er hat viele bunte Bilder dabei, mit denen er dieser Tage bei Immobiliengesellschaften, privaten Vermietern und Bürgermeistern vorstellig wird. Der Zeitpunkt, glaubt Gerhard, ist jetzt günstig – aber flüchtig. "Wenn so ein Bau erstmal Monate oder Jahre leersteht, dann ist die Innenstadt drum herum verödet. Wir brauchen bis zum Jahresende die erste Umsetzung", sagt er.

Gerhards Konzept gleicht einem Sammelsurium. Offline und Online, Handel, Wohnen, Kultur und Gastronomie. Ins Kellergeschoss der ehemaligen Kaufhäuser zöge demnach wahlweise eine Diskothek oder eine Arena für E-Sports genannte Computerzocker, darüber eine Fläche für Pop-up-Shops, von Gerhard "Brand Experience Space" getauft, auf der Markenhersteller sich wochen- oder monatsweise einmieten, um aktuelle Produkte zu präsentieren – die die Kunden anschließend von daheim im Internet bestellen. Es gibt eine Bühne für Modenschauen oder Veranstaltungen mit Influencern, ein Apartmenthotel mit begrünten Wänden, ein "Hot Tub Cinema", eine Etage für "Co-Working", schließlich "Urban Farming", Restaurant und Bar der gehobenen Klasse im Dachgeschoss, ähnlich dem Neni, das Gerhard mitentwickelte und in dem er gerade seinen Käsekuchen verspeist. Umbaukosten pro Standort: etwa 20 Millionen Euro, zahlbar vom Vermieter. Dafür verspricht der Entwickler einen "neuen Kunden-Magneten" – und gleichbleibende oder gar höhere Mieterträge. "Wir sind jung, urban, grün. Wir bringen die Menschen zurück in die Stadt."

Eldorado für Berater

Albert Sahle hätte da eine andere Idee. Wenn auch eine radikale. Sein Unternehmen ist Eigentümer des traditionsreichen Karstadt-Hauses auf der Frankfurter Zeil, einer von Deutschlands Top-Einkaufsstraßen. Dennoch hatte Galeria Karstadt Kaufhof zunächst geplant, das Haus zu schließen: zu hoch die Miete, zu gering der Abstand zum nächsten Kaufhof an der Frankfurter Hauptwache.

"Ich wäre nicht böse drum", sagt Sahle. "Das Haus ist für die Bedürfnisse des modernen Einzelhandels eigentlich ungeeignet." Das fange schon bei den zu niedrigen Deckenhöhen an. Seine Lösung: abreißen, für 60 Millionen Euro neu bauen, Supermarkt ins Untergeschoss, Drogerie oder Textilhändler ins Erdgeschoss und den ersten Stock. Darüber Büros und ein Hotel. Die Pläne liegen in der Schublade. Interessenten für all das gebe es genug. "Wir könnten die Pacht verdoppeln", sagt Sahle. Vorerst gehe er aber davon aus, dass Karstadt-Kaufhof die Filiale doch noch weiter betreiben werde, über eine Million Euro Mietnachlass hat Sahle angeboten. Sein "letztes Wort". Neu bauen kann er immer noch, wenn Warenhäuser in ein paar Jahren endgültig ein Geschäftsmodell von gestern sind, glaubt er.

Büros, Restaurants und Kinos also sollen es richten. Ob das in Zeiten von Kontaktbeschränkungen und Maskenpflicht die richtigen Ideen sind? "Galeria-Karstadt-Kaufhof ist ein Eldorado für Berater", sagt Gerrit Heinemann, Professor für Handel an der Hochschule Niederrhein. "Wenn die Konzepte so wahnsinnig toll wären, wären sie doch längst umgesetzt worden." Wenn überhaupt, dann funktioniere derlei nur an ein paar ausgesuchten Standorten.

Und wenn tatsächlich die Hälfte aller 400.000 Einzelhandelsfilialen in Deutschland nach Corona schließen müsse, wie von ihm prognostiziert? Dann, sagt Heinemann, brauche es für Städte wie Göppingen, Singen, Bremerhaven, Essen oder Neubrandenburg andere Lösungen: abreißen, zurückbauen, Fußgängerzonen verkleinern und dann die Baunutzungsverordnungen so ändern, dass Wohnen in der Innenstadt wieder möglich werde. "Es macht ja keinen Sinn, Leerstand in der Innenstadt zu haben, aber Wohnraum dringend zu brauchen", sagt er. "Lieber eine schöne Schlafstadt, als eine hässliche Einkaufsstadt."

Damit mag Heinemann recht haben. Allerdings braucht es dafür wohl vor allem eines: mutige Bürgermeister.

Icon: Der Spiegel

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