Ruth Bader Ginsburg gestorben: Amerikas Justiz-Ikone

Heldin des liberalen Amerika: Ruth Bader Ginsburg
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Sie hatte geahnt, was auf das Land zukommen würde: "Mein glühendster Wunsch ist, dass meine Richterstelle nicht besetzt wird, bevor ein neuer Präsident vereidigt ist." Das diktierte Ruth Bader Ginsburg erst vor wenigen Tagen ihrer Enkelin Clara Spera in den Block. Nun ist geschehen, was für die demokratische Partei und viele Bürgerrechtler in den USA ein Albtraum bedeutet: Ginsburg, Ikone der US-Frauenbewegung und seit 27 Jahren Richterin am Supreme Court der USA, ist noch in der Amtszeit von Donald Trump gestorben. Am Freitag erlag sie mit Alter von 87 Jahren einer Krebserkrankung.
Die Folgen für das Land und den Präsidentschaftswahlkampf sind kaum zu überschätzen: Mit dem Tod von Ginsburg hat Präsident Trump die Chance, das höchste amerikanische Gericht auf Jahrzehnte hinaus zu prägen. Seit seiner Wahl im November 2016 hat Trump schon zwei konservative Richter berufen. Ende Januar 2017 nominierte er Neil Gorsuch, der nur deshalb Richter werden konnte, weil die Republikaner im US-Senat über Monate die Stelle des verstorbenen Richters Antonin Scalia freigehalten und sich geweigert hatten, Merrick Garland zu bestätigen, den der scheidende demokratische Präsident Barack Obama nominiert hatte. Gut anderthalb Jahre später rückte Brett Kavanaugh in den Supreme Court auf – und dies, obwohl die Psychologieprofessorin Christine Blasey Ford während der Anhörungen im US-Senat ausgesagt hatte, Kavanaugh habe sie als Teenager sexuell missbraucht.
Richter am Supreme Court werden auf Lebenszeit berufen, weshalb Präsidenten mit der Nominierung die Richtung des Landes weit über die eigene Amtszeit hinaus prägen können. Sollte es Trump gelingen, den Posten Ginsburgs noch in seiner laufenden Amtszeit neu zu besetzen, hätte die konservative Seite eine komfortable Mehrheit von sechs zu drei Stimmen. Der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden drängt deshalb darauf, dass erst der neu vereidigte Präsident einen Nachfolger vorschlagen solle. Aber das wird wohl ein frommer Wunsch bleiben. Mitch McConnell, Mehrheitsführer der Republikaner im US-Senat, stellte noch in der Nacht zum Samstag klar, dass seine Leute über einen möglichen Vorschlag des Präsidenten abstimmen werden.
Die Folgen für die USA wären tief greifend: Es würde bedeuten, dass das konservative Lager am Gericht in Zukunft selbst dann obsiegen wird, wenn sich einzelne Richter auf die liberale Seite schlagen. Trump hat es immer wieder als eines seiner zentralen Verdienste gepriesen, dass er Bundesgerichte mit konservativen Juristen besetzt hat. Umso größer war dann die Enttäuschung im Weißen Haus, als der Supreme Court in den vergangenen Monaten Entscheidungen traf, mit denen die Demokraten höchst zufrieden waren: So stimmte Richter Gorsuch für ein Urteil, dass die Diskriminierung von Homosexuellen und Transmenschen am Arbeitsplatz verbietet. Der oberste Richter John Roberts wiederum, der auf Vorschlag von Präsident George W. Bush ans Gericht gekommen war, sorgte mit dafür, dass eine liberale Einwanderungsregel, die noch unter Obama erlassen worden war, in Kraft blieb.
Viele Frauen in den USA fürchten, dass das Recht auf Abtreibung fallen könnte, wenn das Oberste Gericht erst einmal fest in der Hand von Konservativen liegt. Zu den bedeutendsten, aber auch umstrittensten Entscheidungen des Obersten Gerichts gehört Roe v. Wade. Das Urteil aus dem Jahr 1973 legt fest, dass es das Recht von schwangeren Frauen ist, selbst über eine Abtreibung zu entscheiden. Aber auch auf anderen Gebieten – etwa dem Umweltschutz oder der Sozialfürsorge – könnten Regelungen kippen, die Demokraten erlassen haben.
Führende liberale Stimme
Ginsburg wurde im März 1933 im New Yorker Stadtteil Brooklyn geboren, legte ihren Jura-Abschluss an der Columbia University ab und lehrte später an der Rutgers University in New Jersey. Im Jahr 1993 wurde Ginsburg von Bill Clinton für den Supreme Court nominiert, der US-Senat bestätigte sie mit einer überwältigenden Mehrheit von 96 zu 3 Stimmen. Am Gericht avancierte sie schnell zu der führenden liberalen Stimme. In einem Interview mit der "New York Times" im Jahr 2009 sagte sie, Abtreibung sei eine jener grundsätzlichen Fragen, bei denen sich der Staat nicht in die Entscheidung von Frauen einmischen solle.
Obwohl Ginsburg eine Heldin des liberalen Amerika war, gab es in den vergangenen Jahren – wenn auch vor allem hinter vorgehaltener Hand – auch kritische Stimmen. Viele Demokraten nahmen es ihr übel, dass sie die Amtsjahre Obamas nicht für einen würdevollen Rückzug genutzt hat, um so dem demokratischen Präsidenten die Gelegenheit zu geben, einen linksliberalen Nachfolger am Gericht zu bestimmen. Ginsburg litt über 20 Jahre an Krebs, beharrte aber bis zuletzt darauf, dass es ihre Gesundheit zulasse, die Amtsgeschäfte weiterzuführen.
Ginsburg hat kein Geheimnis daraus gemacht, wie wenig sie von Donald Trump hält. In einem Interview nannte sie ihn einen "Schwindler", auch wenn sie später einräumte, dass die Bemerkung angesichts ihrer Verpflichtung zur politischen Neutralität eher unklug gewesen sei. Trump hat nun die Gelegenheit, sich auf seine Art zu rächen. Zwar fand er am Freitagabend am Rande einer Wahlkampfveranstaltung anerkennende Worte für die Richterin: "Sie hat ein großartiges Leben geführt", erklärte der Präsident. "Egal, ob man mit ihr übereinstimmte oder nicht, es war ein großartiges Leben." Aber Trump ist Politiker genug, um zu wissen, welche Chance er nun in den Händen hält. Sein Wahlkampf dümpelte in den vergangenen Wochen eher träge dahin. Die Aussicht aber, einen dritten konservativen Richter an den Supreme Court zu berufen, könnte seiner Kampagne neues Leben einhauchen.
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