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Polizeigewalt in Großbritannien: Neue Erkenntnisse zum Tod von Mark Duggan

June 13
22:04 2020
Ein undatiertes Porträt von Mark Duggan, der im August 2011 durch eine Polizeikugel starb Icon: vergrößern

Ein undatiertes Porträt von Mark Duggan, der im August 2011 durch eine Polizeikugel starb

REX FEATURES/ action press

Kurz vor seinem Tod tippt Mark Duggan eine Nachricht in sein Blackberry: "The feds are following me", schreibt er, "die Polizei verfolgt mich".

Es ist der 4. August 2011, ein früher Sommerabend in London. Duggan, damals ein Mann von 29 Jahren, besorgt sich an diesem Tag eine Waffe im Norden der Stadt, danach besteigt er ein Taxi in Richtung seiner Wohnung im Stadtteil Tottenham. Die Waffe steckt er in eine schwarze Socke und transportiert sie verdeckt in einem Schuhkarton.

Unklar ist, ob Duggan weiß, dass er seit Längerem unter Beobachtung der "Operation Trident" steht, einer umstrittenen Polizeieinheit, die auf Waffenkriminalität in der schwarzen Londoner Community spezialisiert ist. Dass ihm die Beamten an jenem Tag folgen, merkt er jedenfalls.

Es sind insgesamt elf Polizisten in drei Zivilwagen, sie bringen das Minicab mit einem "hard stop" zum Stehen. Wenig später ist Duggan, Vater von drei Kindern, tot. Zwischen dem Anhalten des Wagens und den tödlichen Schüssen vergehen fünf Sekunden.

Fünf Sekunden, in denen Duggan aus der Hintertür des Taxis steigt und sich ein erster Schuss durch seinen rechten Arm bohrt. Danach ein zweiter, der tödliche, in seine Brust, beide abgefeuert von einem Polizisten, von dem bis heute kein Name, nur ein Code bekannt ist, V53.

Fünf Sekunden, in deren Folge Zehntausende Menschen in ganz London gegen Polizeigewalt durch die Straßen ziehen, die London Riots werden die größten Proteste, die Großbritannien in den vergangenen Jahrzehnten erlebte. Fünf Menschen sterben dabei, 3000 Protestierende werden verhaftet. "Fuck the police", rufen sie.

Die Umstände dieser fünf Sekunden sind auch neun Jahre später nicht restlos geklärt. Die Frage, ob Mark Duggan in Notwehr getötet wurde, muss aufgrund von Recherchen des Investigativteams Forensic Architecture, die dem SPIEGEL exklusiv vorliegen, neu gestellt werden.

Angesichts des gewaltsamen Todes von George Floyd und des Ausnahmezustands in den USA entfalten die Ergebnisse eine besondere Wucht. Der Fall Duggan spielt in der "Black Lives Matter"-Bewegung in Großbritannien eine große Rolle. Mark Duggan war, wie Floyd, schwarz.

Waren die Schüsse tatsächlich Notwehr?

Der Polizist, V53, gab später zu Protokoll, er dachte, Duggan habe, als er aus dem Taxi gestiegen sei, eine Waffe in der rechten Hand gehalten und diese in seine Richtung bewegt. Er habe das Feuer aus Angst um sein Leben eröffnet.

Tatsächlich wurde am Tatort zwar die fragliche Waffe gefunden, sie steckte noch in der schwarzen Socke und war nicht geladen; allerdings sieben Meter entfernt von der Stelle, an der Duggan starb, hinter einem Zaun im Gras. Es fanden sich darauf keinerlei Spuren von Duggans DNA, kein Blut, keine Fingerabdrücke. Außerdem konnte sich keiner der befragten Beamten erinnern, dass Duggan die Waffe etwa geworfen oder irgendeine Art von Wurfbewegung gemacht hätte.

Wie gelangte Mark Duggans Waffe ins Gras?

Die Frage ist zentral, um zu klären, ob die Schüsse auf Duggan tatsächlich Notwehr waren, ob er also bewaffnet aus dem Taxi stieg.

Die Aufsichtsbehörde der britischen Polizei fand auf die Frage keine endgültige Antwort, dennoch entschied mit acht zu zwei Stimmen im Jahr 2014 eine Jury: Die Schüsse auf Mark Duggan waren rechtmäßig. Mark Duggans Familie, Anwälte und Aktivisten zweifeln an der offiziellen Version. Im Abschlussbericht der Independent Police Complaints Commission IPCC aus dem Jahr 2015 steht dennoch, keiner der Scotland-Yard-Beamten müsse wegen des Falls Mark Duggan Konsequenzen fürchten.

Die Rechercheure von Forensic Architecture (FA) kommen nun zu einem anderen Schluss. FA besuchte den Tatort, sichtete Hunderte öffentlich zugängliche Dokumente, darunter Zeugenaussagen, Zeichnungen, Fotos, Videos und Expertenberichte. Die Recherchen zeigen: Die Schlussfolgerungen der Untersuchungsberichte, die allesamt den schießenden Beamten entlasten, weisen erhebliche Mängel auf.

Keiner der Berichte zog auch nur in Betracht, dass einer oder mehrere Polizisten die Waffe erst nach Duggans Tod auf der entsprechenden Stelle im Gras deponierten – um sich selbst zu entlasten.

Wie gelangte Mark Duggans Waffe ins Gras?

Es gibt drei Möglichkeiten:

  • Duggan hat die Waffe vor den Schüssen aus dem Auto geworfen.

  • Er warf sie während der Schießerei über den Zaun.

  • Oder aber: Sie wurde hinterher von Beamten hinter den Zaun gelegt.

Das Forensic-Architecture-Video zeigt ausführlich, wie die Rechercheure vorgingen und welche Schlüsse sie ziehen. Hier zusammengefasst die wichtigsten Ergebnisse:

Hat Mark Duggan seine Waffe weggeworfen, während er beschossen wurde?

  • Laut dem Bericht des IPCC von 2015 ist dies das "wahrscheinlichste" Szenario. FA befragte Biomechaniker, die zu dem Schluss kommen: Mark Duggan hätte, um die 1.050 Gramm schwere Waffe sieben Meter weit zu werfen, eine ausladende Armbewegung tätigen müssen. Möglich ist es zwar, dass alle vier Polizisten, in deren Blickfeld Duggan war, den Wurf übersehen haben. Jedoch ist es extrem unwahrscheinlich.

  • Der schießende Polizist V53 stand drei bis fünf Meter von Duggan entfernt, selbst er gab zu Protokoll, er habe Duggan die ganze Zeit mit seinen Augen fixiert, jedoch keinen Wurf beobachtet: "Es würde verdammt viel aufklären, wenn ich sagen könnte: 'Ja, ich sah das Geschütz durch die Luft fliegen, und es landete wo auch immer', aber ich habe es nicht gesehen", sagte V53 der Untersuchungskommission.

  • Biomechanische und gerichtsmedizinische Experten kamen zu dem Schluss, Mark Duggan wäre körperlich – und gegeben die Schmerzen durch den ersten Schuss – gar nicht mehr in der Lage gewesen, die Waffe sieben Meter weit über einen Zaun zu werfen.

Könnte Duggan die Waffe vor dem Schusswechsel unbemerkt weggeworfen haben?

Eher nein. Forensic Architecture ließ die Szene biomechanisch und forensisch untersuchen und baute den Tatort mit Virtual Reality nach, das Ergebnis: Wie oben bereits beschrieben, ist es auch in dem Fall sehr unwahrscheinlich, dass keiner der Polizisten den Wurf oder das Wurfgeschoss beobachtete. Auch durchs Fenster kann Duggan die Waffe nicht geworfen haben, denn dieses war fast ganz geschlossen. Der Taxifahrer gab zu Protokoll, Duggan sei, sobald der Wagen zum Stehen gekommen sei, ausgestiegen. Wahrscheinlich, um zu flüchten.

Haben ein oder mehrere Polizisten Duggans Waffe nach der Erschießung im Gras deponiert?

Der IPCC-Bericht schließt diese Möglichkeit als "unwahrscheinlich" aus und verweist auf Videos, die Zeugen kurz nach dem Schusswechsel von der Situation aufnahmen. Hätte ein Polizist die Waffe aus dem Taxi geholt, hätte man es auf den Videos nachvollziehen können, so die Kommission.

Forensic Architecture identifizierte allerdings mehrere "blind spots", Zeitabschnitte, in denen die Beamten nicht in Sichtweite der Zeugenkameras waren. Oder Bereiche um den Tatort, die durch die Kameras zu bestimmten Zeitpunkten nicht eingefangen wurden. In diesen Momenten hätten mehrere der anwesenden Polizisten die Waffe vom Rücksitz des Taxis holen und an der entsprechenden Stelle im Gras platzieren können. Beweise, dass die Beamten dies tatsächlich taten, kann FA aber nicht liefern.

Laut der Menschenrechtsorganisation Equality and Human Rights Commission werden nichtweiße Menschen in London dreimal häufiger von der Polizei durchsucht und verurteilt.

Damals, 2014, als die Jury den Polizisten V53 freisprach, stellte sich Mark Duggans Tante, Carole, mit erhobener Faust vor die Kameras. "Er wurde exekutiert", rief sie, und dann: "Keine Gerechtigkeit, kein Frieden."

Vergangene Woche, nach der Veröffentlichung von Forensic Architecture, gab die britische Polizeiaufsicht ein Statement heraus. Man erwäge, so die Behörde, die Ermittlungen im Fall Mark Duggan wieder aufzunehmen.

Icon: Der Spiegel

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