Nur 10.000 Arten: “Das Wattenmeer ist ein extremer Lebensraum”
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Im Winter ist es im Wattenmeer eisig kalt, im Sommer sehr heiß. Zweimal am Tag haben die Organismen im Gezeitenbereich kein Wasser, obwohl die meisten von ihnen darauf angewiesen sind. Das sorgt für einen besonderen Artenmix, den der Meeresökologe Christian Buschbaum seit Jahren erforscht.
ntv.de: Wie viele Arten beherbergt das Wattenmeer gerade?
Christian Buschbaum: Ganz genau kann man das gar nicht sagen. Es gibt einen groben Wert, danach sind es etwa 10.000 Arten. Darunter fallen unter anderem Vögel, Muscheln, Schnecken und Krebse, die alle vergleichsweise auffällig sind. Aber je mehr man guckt, desto mehr Arten findet man. In einer Handvoll Sand können Dutzende von Arten zwischen den Sandkörnern vorkommen. 10.000 Arten klingt viel, das Wattenmeer ist aber vergleichsweise artenarm. Das liegt daran, dass das Wattenmeer ein relativ junger Lebensraum ist. Er ist erst vor 7000 bis 8000 Jahren nach der letzten Eiszeit entstanden. Und es gibt auch keine Arten, die nur hier vorkommen, also endemische Arten. Das Wattenmeer ist durch schon vorhandene Arten vom Rand her besiedelt worden.
Was zeichnet die Arten im Wattenmeer aus?
Sie sind, salopp gesagt, leidensfähig. Das Wattenmeer ist ein extremer Lebensraum. Im Winter ist es kalt, im Sommer heiß. Zweimal am Tag haben die Organismen im Gezeitenbereich kein Wasser, obwohl die meisten von ihnen darauf angewiesen sind. Der Boden wird ständig durch Wellenschlag aufgewühlt. Kurz gesagt, es gibt vergleichsweise wenige Arten. Diese sind aber sehr erfolgreich, weil sie mit den extremen Bedingungen sehr gut umgehen können.
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Wie hat sich die Artenvielfalt im Wattenmeer in den vergangenen 100 Jahren entwickelt?
Wenn man nur die Anzahl der Arten nimmt, hat sie im Laufe der Zeit zugenommen. Es gibt immer noch weitgehend die gleichen Arten, die es auch vor 100 oder vor 60 Jahren gab. Aber der globale Warentransport über die großen Schifffahrtswege und Aquakultur-Bemühungen haben dazu geführt, dass Arten von fremden Küsten durch den Menschen ins Wattenmeer eingeschleppt worden sind, was zu einem Anstieg der Arten geführt hat. Damit übersteigt im Wattenmeer die Anzahl der durch den Menschen eingeführten Arten die, welche durch den Menschen beispielsweise durch Fischerei verschwunden sind. In den vergangenen 100 Jahren sind etwa 100 Arten dazugekommen und die derzeitige Einschleppungsrate mit bis zu zwei neuen Arten pro Jahr ist hoch.
Ist das gut oder schlecht? Oder lässt sich das nicht so einfach sagen?
Es ist eine typische menschliche Eigenschaft, etwas zu bewerten. Wenn man über eingeschleppte Arten spricht, bewirkt das in der Regel immer negative Assoziationen. Das ist nicht nur bei Arten so, sondern auch gesamtgesellschaftlich. Mit den zunehmenden Arteneinschleppungen haben wir uns gefragt, welche heimischen Organismen darunter leiden und haben an Fallbeispielen Untersuchungen durchgeführt. Unser Ergebnis: Bisher gibt es keinen einzigen Fall, bei dem eine eingeschleppte Art eine heimische Art mit ähnlichen Lebensansprüchen verdrängt hat. Es sind alle noch da.
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Wie erklären Sie sich das?
Küsten sind sehr offene Systeme, die Arten können ausweichen. Das ist anders als ein See an Land, der räumlich klar abgegrenzt ist. Und noch sind nicht alle Gebiete im Wattenmeer von spezifischen Arten besetzt, die dort leben könnten. Man kann das vielleicht mit einem Haus vergleichen, in dem nur die Hälfte der Räume bewohnt ist. Da bestehen wenig Schwierigkeiten, wenn noch ein paar Bewohner dazukommen. Wenn das Haus voll besetzt ist, wird es schwieriger, aber auch da würde die Natur vermutlich Lösungen finden.
Welche neu eingewanderte Art ist dafür ein Beispiel?
In den 1980er-Jahren wurden pazifische Austern für Aquakulturzwecke ins nördliche Wattenmeer um Sylt herum eingebracht. Man dachte zu dem Zeitpunkt, dass es zu kalt für sie ist, um sich zu vermehren. Das haben sie aber getan. Austern geben Spermien und Eier ins Wasser ab. Daraus entstehen Larven, und die setzen sich dann am Meeresboden fest. Im Wattenmeer um Sylt haben sich die Larven auf heimischen Miesmuschelbänken angesiedelt. Die Austern brauchen einen harten Untergrund, um sich festzusetzen, und das waren die Ansammlungen von Tausenden von Miesmuscheln, die aneinandergeheftet auf dem Boden liegen. Wir haben befürchtet, dass die Miesmuscheln darunter leiden würden. Aber heute wissen wir, dass das nicht der Fall ist.
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Was ist passiert?
Die beiden Arten leben nebeneinander und kommen bestens miteinander klar, obwohl sie die gleichen Lebensansprüche haben. Beide sind filtrierende Organismen und ernähren sich von Nahrungspartikeln, die im Wasser treiben. Bei unseren intensiven Untersuchungen haben wir herausgefunden, dass die Miesmuscheln sogar von den Austern profitieren können. Vögel und Krebse fressen gern Miesmuscheln. Jetzt sitzen die Miesmuscheln aber in diesem gemischten Riff aus Austern und Miesmuscheln ganz unten am Boden und darüber sind die Austern. An den Boden zu den Miesmuscheln kommen aber weder Krebse noch Vögel so gut hin. Miesmuscheln sind dort also besser vor Räubern geschützt. Sie werden im Mittel nicht mehr ganz so groß, weil es am Boden nicht so viel Nahrung gibt. Aber besser kleiner bleiben und überleben als gefressen werden.
Gibt es auch Arten, die in diesen 100 Jahren verloren gegangen sind?
Es gibt einzelne Arten, die weniger geworden sind und auch einige Beispiele, die ganz verschwunden sind. Gerade Ende des 19. Jahrhunderts und zu Anfang des 20. Jahrhunderts waren Europäische Austern im Wattenmeer verbreitet. Diese wurden sehr stark befischt und sind dadurch verschwunden. Mit ihnen auch viele assoziierte Organismen, die in diesen Austernbänken gelebt haben. Aber dafür ist keine neue Art oder der Klimawandel verantwortlich, das war die Fischerei.
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Inwiefern ist es normal, dass Arten sich anpassen, aber manchmal auch verschwinden?
Der Mensch mag eigentlich keine Veränderung. Unsere Lebensumstände sollen, wenn sie gut sind, so bleiben. So funktionieren Ökosysteme aber nicht, sie verändern sich. Das Wattenmeer ohne jeglichen Einfluss des Menschen würde heute auch anders aussehen als vor 100 Jahren. Manchmal gibt es einen harten Winter mit lang anhaltendem Frost, oder es gibt einen sehr starken Sturm im Frühjahr, der alles durcheinanderwirbelt, oder vielleicht auch beides zusammen. Dann werden neue Entwicklungsprozesse eingeleitet und dadurch entstehen ökologische Prozesse und Muster, die vielleicht ohne ein solches Zufallsereignis gar nicht stattfinden würden. Im Endeffekt ist die Veränderung der Nordseeküste die Regel und nicht die Ausnahme und Zufälle bestimmen das Geschehen.
Ab welchem Punkt wird es schwierig?
Die Funktionen eines Lebensraums sind wichtig: Mehrere Millionen Vögel nutzen das Wattenmeer jedes Frühjahr und jeden Herbst als Futterplatz. Sie fressen hier, um Energie aufzutanken, um dann in die Brutgebiete oder wieder zurück in die Überwinterungsgebiete zu fliegen. In diesem Fall ist die Funktion des Wattenmeers, Nahrung bereitzustellen. Solange diese Funktion vorhanden ist, leiden die Vögel nicht. Wird diese durch den Menschen gefährdet, hat das dramatische Auswirkungen. Aber es können sich auch durch natürliche Prozesse Funktionen eines Lebensraumes verändern. In der Natur gibt es keine Garantien, dass alles so bleibt, wie es ist.
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Sie haben im August eine Übersicht über Forschung zu Klimawandeleffekten an der Wattenmeer Station auf Sylt vorgelegt. Gibt es etwas in dieser Untersuchung, das Ihnen Sorgen macht?
Mir macht tatsächlich derzeit der Meeresspiegelanstieg mehr Sorgen als der Temperaturanstieg. Wir haben die gesamte Nordseeküste nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Niederlanden und in Dänemark durch Deiche geschützt. Das Wattenmeer liegt zwischen steigendem Meeresspiegel und der Mauer aus Deichen und ist somit in ein Korsett gedrängt. Das Wattenmeer kann mitwachsen, wenn der Meeresspiegel nicht zu schnell steigt und wenn wir dem Wasser Platz geben. Das tun wir aber derzeit nicht. Auf lange Sicht müssen wir uns darüber Gedanken machen, wie wir mit der Nordseeküste umgehen und ob wir nicht ein angepassteres Küstenschutzmanagement brauchen, als wir bisher haben. Davon würden wir Menschen profitieren und letztlich auch die Artenvielfalt.
Wie meinen Sie das?
Die Flüsse sind ein gutes Beispiel. Wir haben alle Flüsse begradigt, eingedeicht und wenn dort was passiert, passiert ganz viel. Wenn an der Nordseeküste vor dem Deich das Meer immer höher wird, besteht die gleiche Gefahr. Das ist wie vor einer Staumauer in den Bergen. Wir können sicher nicht entlang der gesamten deutschen Nordseeküste alle Deiche wegnehmen. Dahinter ist ja auch Infrastruktur, die geschützt werden muss.
Für mehr Leben
Wie steht es um den Lebensraum unserer Meerestiere? Wie schützen wir Nashörner vor Wilderern? Was bringen Vogelhäuschen im eigenen Garten? Vom 16. bis 20. September 2024 stehen in der diesjährigen Nachhaltigkeitswoche, die RTL zusammen mit ntv, Vox, dem Stern, GEO, Brigitte & RTL+ veranstaltet, die Themenbereiche (Unter-)Wasserwelt & Artenvielfalt crossmedial im Mittelpunkt.
Wie könnte die Lösung aussehen?
Die Diskrepanz zwischen dem Gebiet vor dem Deich und hinter dem Deich wird immer größer und letztlich wird wahrscheinlich irgendwann auch monetär bewertet werden, was Küstenschutz in 100 Jahren kostet. Wir haben jetzt noch die Zeit, über Konzepte nachzudenken, die ökonomisch und auch ökologisch sinnvoll sind. Dazu gehört beispielsweise, dem Meer kontrolliert Platz zu geben, aber vielleicht auch Ideen, die wir jetzt noch nicht im Kopf haben. An unserem Papier waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Teildisziplinen beteiligt, die im nördlichen Wattenmeer forschen: Geologen, Ökologen, Modellierer. Vielleicht kann das eine Beispielstudie auch für andere Küstengebiete sein, wodurch ein Nachdenken angestoßen wird. Viele Leute verbringen ihren Urlaub im Wattenmeer. Durch die zunehmend heißen Sommer im Süden werden es vermutlich sogar noch mehr Menschen. Ich glaube, wir müssen uns überlegen, wie wir in Zukunft mit dem wertvollen Lebensraum Meer umgehen wollen. Dies birgt auch Chancen, von der die Natur, aber auch wir Menschen langfristig profitieren können.
Mit Christian Buschbaum sprach Solveig Bach
Quelle: ntv.de