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Minsk: Die Umarmungsstrategie der Demonstranten

August 15
12:27 2020
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Foto: Natalia Fedosenko / imago images/ITAR-TASS

Minsk wirkt derzeit wie eine Stadt, die aus einem bösen Traum erwacht ist. Eine heitere Stimmung scheint in der belarussischen Hauptstadt zu herrschen, als hätte es die Polizeigewalt und die Brutalität der vergangenen Woche nicht gegeben.

Im Zentrum, auf dem Unabhängigkeitsplatz, sind am Freitagabend einige Tausend junge Menschen zusammengekommen, zu neuen Protesten gegen die manipulierte Wiederwahl von Präsident Alexander Lukaschenko. Auffällig viele Frauen sind darunter, manche haben sich Blumenkränze aufgesetzt. Man steht in Grüppchen auf dem großen Platz, viele haben sich vor dem Parlament hingesetzt. Es gibt weder Reden noch Lautsprecher noch sichtbare Organisatoren. Wenn nicht skandiert oder gesungen wird, dann herrscht friedliche Stille über dem Platz.

"Wir sind in Frieden gekommen!", ruft die Menge manchmal, oder "Armee und Volk gemeinsam", oder sogar: "Wir lieben euch!" Das gilt den Uniformierten in Helm und Maske, die in zehn Meter Abstand von der Menge auf den Stufen des Parlaments stehen. Es sind nur wenige Dutzend, und überhaupt ist im gesamten Zentrum fast keine Polizei zu sehen. Nicht nur die Protestierenden, auch die Führung des Landes um den Autokraten Alexander Lukaschenko versucht sich derzeit offenbar in Deeskalation. Als am Nachmittag klar wurde, dass die Sicherheitskräfte die Protestierenden nicht vertreiben wollen, wurden sie sogar von Frauen umarmt. In den Gucklöchern ihrer Schilde stecken Blumen.

Kontrast zu den grausamen Misshandlungen

Es ist ein merkwürdiger Kontrast zu den Festnahmen – nach offiziellen Angaben 6700 Menschen -, die es zuvor gegeben hat, zu den grausamen Misshandlungen und Demütigungen im Polizeigewahrsam. Und es kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der grundlegende Konflikt im Land nicht beigelegt ist. Autokrat Lukaschenko, seit 26 Jahren an der Macht, hat sich einen überwältigenden Wahlsieg zuschreiben lassen, und an diesem Freitagnachmittag bestätigt die Zentrale Wahlkommission das völlig unglaubhafte Wahlergebnis: 80,1 Prozent für den Präsidenten, nur zehn Prozent für die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja, die ins Exil gezwungen wurde.

"Ich kenne fast niemand, der für Lukaschenko gestimmt hat", sagt Inga Lyssaja. Die Englischlehrerin ist mit 56 Jahren deutlich älter als der Durchschnitt auf dem Platz und erinnert sich, wie schon 2010 auf demselben Unabhängigkeitsplatz Wählerproteste niedergeschlagen wurden. Damals funktionierte Lukaschenkos Taktik: so viel Angst einzuflößen, dass auf Jahre hinaus wieder Ruhe herrscht. Auch Lyssaja wurde nach den Protesten zum KGB vorgeladen, der belarussischen Staatssicherheit. Diesmal, sagt sie, scheint die Taktik von damals nicht mehr zu funktionieren – "jedenfalls möchte ich das glauben."

Tatsächlich sind an diesem Freitagabend weniger Menschen auf dem Platz als damals, am Wahlabend 2010. Aber die Proteste haben dafür diesmal das ganze Land erfasst, und in mehreren Großbetrieben wurde für Montag ein Streik angekündigt.

"Mein ganzer Rücken ist blau"

Zehn Autominuten südwestlich vom Parlament ist die Gewalt der vergangenen Tage noch förmlich zu spüren. Vor einer Gefängnismauer mit Stacheldraht stehen zwei Schlangen – junge Männer vor allem, viele haben sich gegen die kühle Abendluft Decken umgeworfen. Manche haben grün-blaue Flecken im Gesicht. Es sind Protestierer oder wahllos festgenommene Passanten, die in den beiden Arrestanstalten hinter der Mauer festgehalten und dann wieder freigelassen wurden. Jetzt warten sie darauf, ihre Habseligkeiten abholen zu dürfen. "Mein ganzer Rücken ist blau", sagt der 36 Jahre alte Oleg, "ich musste auf allen vieren herumkriechen und wurde dabei geschlagen." Das Gefängnis an der Okrestina-Straße ist berüchtigt. Ab und zu öffnet sich eine der beiden Türen. Ein verzweifelter Vater bestürmt den Gefängnisoffizier, wo sein Sohn sei. Noch immer gibt es keine verlässlichen Listen, wer wo einsitzt. Und an diesem Tag wird niemand mehr freigelassen.

Aber es gibt Hilfe: An die hundert Freiwilligen haben in dem Park vor den Arrestanstalten eine kleine Zeltstadt aufgebaut. Für die Freigelassenen und für ihre Angehörigen gibt es Wasser und Esspakete und Hygieneartikel, psychologische Hilfe, juristischen Rat, ärztliche Versorgung.

Gespräche mit einem Polizeioffizier

Der Kfz-Mechaniker Andrej, 33, hat selbst in der Okrestina-Straße eingesessen, sie haben ihm mit Knüppeln auf die Nieren geschlagen, jetzt will er selbst helfen und Entlassene umsonst nach Hause fahren. "Nieren wachsen nach", sagt er lächelnd. Fünf Tage hat Andrej in mehreren Arrestgefängnissen verbracht, "Hooliganismus", also Pöbelei, wird ihm vorgeworfen.

Seine Frau Viktoria erzählt: "Wir waren in der Stadt, an unseren weißen Armbändern konnte man uns als Anhänger der Opposition erkennen. Es war noch am Tag vor der Wahl, und ich ging auf die Sonderpolizei zu, die am Weg stand, und sagte ihnen: "Wir lieben euch!" Das war gut gemeint, ich wollte deeskalieren. Aber dann haben sie Andrej gesagt: 'Deine Frau hat eine lockere Zunge', und haben ihn mitgenommen."

Eine Woche später, am Freitagabend auf dem Unabhängigkeitsplatz, scheint die Deeskalation besser zu funktionieren. Die meisten Protestierer sind nach Hause gegangen, die anderen räumen sorgfältig Papier- und Blumenreste weg, einige haben einen Polizeioffizier in Gespräche verwickelt. "Ich will doch mein Land nicht verlassen!", sagt ein Jurastudent höflich und verzweifelt zugleich. "Was läuft denn falsch in unserem Land?", hält der Offizier ungerührt dagegen. "Es wird gelogen!", ruft einer dazwischen. Als die letzten Sicherheitskräfte von den Stufen abgezogen werden, ruft die Menge: "Bravo!" und klatscht. Es ist in diesen Tagen in Minsk schon ein Lob wert, wenn man als friedlicher Demonstrant nicht verprügelt wird.

Icon: Der Spiegel

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