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Kita-Leitungen in der Corona-Krise: Alte Probleme, neue Ängste

September 18
10:07 2020
Kita in Köln (Symbolbild): "Kinder haben Rotznasen. Wir stehen ganz vorne an der Ansteckungsfront" Icon: vergrößern

Kita in Köln (Symbolbild): "Kinder haben Rotznasen. Wir stehen ganz vorne an der Ansteckungsfront"

Foto: Arne Dedert / picture alliance/dpa

Die Hand holt aus, schlägt auf die Öffnung einer Wasserflasche, der Glasboden löst sich und landet klirrend auf der Bühne. Mit dieser kurzen Choreografie untermalt der Coach und Kampfsportkünstler Marc Gassert seine Mahnung an das Publikum: "Wenn Sie zu viel Stress im System haben, können Sie die Scherben Ihrer selbst auf dem Boden aufsammeln. Dann sind Sie für zwei Jahre raus."

Angesprochen sind rund 600 Erzieherinnen und Erzieher, die sich zwei Tage beim Kitaleitungskongress in Berlin treffen. Neben dem Training mit Gassert, der unter anderem Frühindikatoren für ein zu hohes Stresslevel vermittelt, stehen Vorträge über Teammanagement, Arbeitsschutz oder Qualitätssteigerung in Kitas auf dem Programm. Doch über allem steht die Frage: Wie können die Leitungen ihre Einrichtungen durch die Krise führen, wie gelingt der Alltag in Zeiten der Pandemie?

Seit Ende Juni hatten die ersten Bundesländer wie Brandenburg, Baden-Württemberg und Berlin ihren Kitas wieder so etwas wie Normalbetrieb verordnet, nach und nach folgten die anderen Bundesländer. Die Öffnung begann früher als bei den Schulen und verlief vergleichsweise geräuschlos. Infektionsbedingte Schließungen von Kitas sind selten, einer Befragung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) zufolge waren zwischen Juni und Mitte August weit weniger als ein Prozent der Einrichtungen in Deutschland betroffen. Heißt das also, bei den Kitas läuft alles glatt?

"Die Kitas standen schon vor Corona vor großen Herausforderungen. Corona hat diese Probleme verschärft", sagt Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) und damit auch Interessenvertretung des Kita-Personals.

Alte Probleme verschärft: Personalmangel

Das größte Problem: ein massiver Personalmangel. Das bestätigen Studien immer wieder – für die aktuelle Situation und die Zukunft. Es fielen zuletzt zwar nur etwa vier Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter coronabedingt bei der Kinderbetreuung aus, zeigt die Befragung des DJI. Die Pandemie kratzt aber trotzdem weiter am Personalbestand. Etwa, weil unterschiedliche Gruppen in den Randzeiten nicht mehr zusammengelegt werden dürfen. Darunter leiden entweder die Betreuungszeiten – oder die Qualität.

Der SPIEGEL hat bei dem Kongress mit zahlreichen Erzieherinnen und Erziehern aus ganz Deutschland gesprochen. Die meisten wollen anonym bleiben, weil die Träger ihrer Einrichtungen Pressegespräche genehmigen müssen.

Eine Erzieherin aus Mecklenburg-Vorpommern berichtet etwa, in ihrer Einrichtung müssten die Hortkinder die letzte Stunde mangels Personal nun teils allein spielen. Die Fachkraft schaue nur ab und an durch die Tür. Ihren Job als Leitung hat sie vor Kurzem erst aufgegeben, unter anderem, weil sie ständig als Vertretung einspringen musste. "Abends musste ich dann noch an den Schreibtisch. Die Doppelbelastung war zu viel."

Die Politik solle sich "endlich ehrlich machen", fordert Beckmann vom VBE. Es könne nicht sein, dass sie einen Regelbetrieb ankündigt und bei den Eltern die Erwartung wecke, fortan laufe alles normal. "Das müssen die Kitas dann ausbaden", sagt Beckmann. Eine Fachberaterin aus Berlin bestätigt den Eindruck. Den Erzieherinnen und Erziehern werde viel abverlangt. "Die kurze Welle der Sympathie schlug schnell um in eine Reihe von Forderungen, was die Kollegen alles leisten sollen."

Der Erhebung des DJI zufolge meistern die Kitas die Herausforderung aber ganz gut. Die Befragten sollten auf einer Skala von 1 (leicht) bis 6 (schwer) angeben, wie schwierig es für sie aktuell ist, eine bedarfsgerechte Betreuung zu gewährleisten. Das Ergebnis: im Schnitt eine 2,3.

Neue Ängste: Ansteckung

Die Ängste der Kita-Beschäftigten würden dabei aber nicht berücksichtigt. "Kinder haben Rotznasen. Wir stehen ganz vorne an der Ansteckungsfront", sagt etwa ein Leiter einer Berliner Kita.

Dass der zuständige Senat entschieden habe, auch Kinder mit Husten und Schnupfen in die Kitas zu lassen, stoße bei den Erzieherinnen und Erziehern auf Unverständnis. Die Symptome ähnelten denen von Corona einfach zu sehr. "Ich möchte den Eltern nicht zu nahe treten, aber ich weiß nicht, ob das Kind morgens nicht noch ein Fieberzäpfchen bekommen hat", berichtet die Fachberaterin aus der Hauptstadt.

Auch Kita-Leitungen in anderen Bundesländern sind über die jeweiligen Regeln, wie mit Kindern mit Erkältungssymptomen umgegangen werden soll, verärgert. In Mecklenburg-Vorpommern dürfen Kinder nun sogar mit einer Körpertemperatur bis 38,5 Grad gebracht werden. Vor Corona hätten sie die Eltern schon bei 38,2 angerufen, denn erfahrungsgemäß steige die Temperatur dann schnell. "Ein krankes Kind gehört nach Hause", sagt eine Leiterin aus Mecklenburg-Vorpommern, "unsere Erfahrungen werden überhaupt nicht berücksichtigt."

Die Leiterin zweier kommunaler Kitas in Schleswig-Holstein hat vor allem die Kommunikation gestört: Sie sei von den zuständigen Stellen nicht rechtzeitig informiert worden. "Die Eltern wussten noch vor uns von der neuen Schnupfen-Regel, die das Kultusministerium im Internet veröffentlicht hat", erzählt sie.

Vorgaben mit Folgen: Umsetzung der Hygieneregeln

Die Leitungen sind zwar nicht mehr so oft mit neuen Regeln konfrontiert wie noch zu Beginn der Pandemie, doch die ständigen Neuerungen wurden als sehr belastend erlebt, berichtet auch der VBE-Vorsitzende Beckmann.

Bei der praktischen Umsetzung hapert es mancherorts zudem immer noch. Drei Gesprächspartnerinnen aus Mecklenburg-Vorpommern berichten unisono, dass sie Probleme haben, die Maskenpflicht bei den Eltern durchzusetzen. Ein Kraftakt sei zudem, alle Kinder beim Eintreffen erst mal zum obligatorischen Händewaschen zu bringen. Das größte Problem aber sei, dass die Kinder ständig Spielzeug oder Kuscheltiere von zu Hause mitbringen. "Es ist schwer, einen Konsens zwischen Hygieneregeln und dem Wohlbefinden der Kinder zu finden", sagt eine der Leiterinnen.

Auch die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder leiden unter den Hygieneauflagen, sagt die Fachberaterin aus Berlin. "Wir müssen die Selbstbestimmung der Kinder ein Stück weit beschränken." Beim Essen zum Beispiel dürften sich die Kinder nicht mehr selbst Essen auf den Teller schöpfen. Ähnlich ist es beim offenen Konzept, das eingestellt werden musste, damit sich weniger Kinder begegnen.

Ein weiteres Problem ist der Austausch mit den Eltern. Wegen der Abstandsregeln gibt es keine Feste, kein Eltern-Café, kaum Gespräche. Eltern sollen sich beim Bringen und Abholen beeilen und dürfen die Gruppenräume nicht betreten. Die Eltern hätten kaum noch Einblick, "wie gut wir unseren Betreuungs- und Bildungsauftrag umsetzen. Das Vertrauensverhältnis erlebt gerade eine große Belastungsprobe", sagt der Leiter der kleinen Berliner Kita.

Die Pädagogin Eva Jermer, die gemeinsam mit Adolf Timm und dem renommierten Bildungsforscher Klaus Hurrelmann jüngst einen Ratgeber für Eltern mit Kindern von 0 bis 6 veröffentlicht hat, betont, wie "unendlich wichtig" die Einbindung der Eltern sei. Sie berichtet von einer Kita-Leitung in Hamburg, die die "Tür- und Angel-Gespräche" jetzt nach draußen verlegt habe. Das sei eine tolle Möglichkeit, vorausgesetzt, die örtlichen Gegebenheiten ließen das zu.

Überhaupt versuche sie, die Pandemie als Chance zu sehen, die Politik endlich aufzurütteln. Es sei schon seit Jahren so, dass die Arbeit in den Kitas nicht geschätzt werde, deshalb finde sich auch kaum noch Personal, so Jermer: "Corona ist nur der Tropfen, der das Fass jetzt zum Überlaufen bringt."

Icon: Der Spiegel

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