Gewissensfrage “Paragraf 218”: Warum blockieren Sie die Legalisierung von Abtreibungen, Christian Lindner?
Politik

FDP-Chef Lindner im "ntv Salon": Neben Abtreibungen ging es auch um die AfD, Bildung, Klimaschutz und die Farbe des ersten Kinderzimmers.
Losgelöst vom Fraktionszwang streben Hunderte Bundestagsabgeordnete eine Neuregelung von Paragraf 218 des Strafgesetzbuches an. Lediglich Union und AfD stellen sich geschlossen gegen die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Doch Anfang der Woche scheitert das Vorhaben am Widerstand der FDP. Im "ntv Salon" erklärt Parteichef Lindner, was osteuropäische Mehrheitsverhältnisse damit zu tun haben – und welches Vorgehen er sich wünscht.
ntv.de: Die FDP ist die Freiheitspartei. Der Paragraf 218 ist für viele Frauen ein Freiheitsthema. Viele wünschen sich, dass Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisiert werden. Warum wehren Sie sich dagegen?
Christian Lindner: Wir wehren uns überhaupt nicht dagegen.

Kommentare 05.12.24 Abtreibungsreform im Bundestag Lasst die Kettensäge fallen – Paragraf 218 muss weg!
Sie haben gesagt: Es gibt einen Konsens. Den müssen wir beibehalten. Wir fassen das nicht an.
Die Lage ist anders. Wir haben Paragraf 219a abgeschafft und damit Medizinern die öffentliche Information über legalen Schwangerschaftsabbruch erlaubt.
Dafür haben Sie sehr viele FDP-Anhänger gefeiert.
Richtig. 218 ist aber eine ethische Frage. Ethische Fragen werden im Deutschen Bundestag in der Regel mit einer intensiven, auch fraktionsübergreifenden Debatte besprochen und gelöst.
Die gab es über Jahre. Es gab eine Expertenkommission, diverse Ausschüsse …
Es gab die Expertenkommission, aber die Debatte so nicht. Aus dem Grund ist meine Fraktion der Meinung, und ich auch: Man sollte es nicht übers Knie brechen. Aber ich mache Ihnen ein Zugeständnis.
Großzügig.
Darum geht es mir nicht. Wir sind uns darüber im Klaren, dass insbesondere die Union Paragraf 218 nicht abschaffen, sondern am Status quo festhalten möchte. Meine Fraktion ist sicherlich wesentlich veränderungsbereiter. Das ist gewiss kein Geheimnis. Deshalb sollte im nächsten Koalitionsvertrag eine Bestimmung aufgenommen werden, dass die mögliche Abschaffung von Paragraf 218 von der Koalitionsdisziplin ausgenommen wird. Diese Frage sollte man ausdrücklich als medizinethische Frage und als eine der Emanzipation besprechen – ohne Fixierung auf Koalitionsbeschlüsse, im Wege von Gruppeninitiativen. Dann bleibt Raum für eine entsprechende Parlamentsmehrheit.

Politik 12.02.25 Lindner blockt nur eine Frage ab "Die Farbe des Kinderzimmers lässt krasseste Rückschlüsse zu"
Aktuell sieht es aber nicht so aus, als würde es im nächsten Bundestag noch eine Mehrheit für die Abschaffung geben. Die Union wird wahrscheinlich deutlich stärker werden, die AfD auch. Viele sagen, der aktuelle Bundestag war die letzte Chance für eine Änderung. Haben Sie nicht eine Chance verpasst, mit dieser Frage auch Stimmen von Wählern und vor allem Wählerinnen zu gewinnen?
Wenn Ihre Prognose zutrifft und nur der aktuelle Bundestag eine Mehrheit für diese Frage hat, würde doch aber die Gefahr bestehen, dass der nächste Bundestag die Einigung einfach wieder zurückdreht. Genau das möchte ich nicht. Ich möchte keine Entscheidungen, die mit einer Zufallsmehrheit im 20. Deutschen Bundestag beschlossen und im nächsten Bundestag sofort wieder zurückgedreht wird. Deshalb hat es sich bewährt, sehr lange und sehr intensiv fraktionsübergreifend zu sprechen und einen gesellschaftlichen Konsens herzustellen, den aus Respekt vor der intensiven Debatte niemand mehr wagt, aufzumachen.
Mit diesem Argument lässt sich doch aber alles ändern.
Gerade bei solchen Fragen darf man die Gesellschaft nicht immer weiter auseinandertreiben, sondern muss einen Konsens herstellen, der längere Zeit trägt. Wir haben in Osteuropa gesehen, dass eine Veränderung der politischen Mehrheitsverhältnisse dramatische Veränderungen der Gesellschaftspolitik verursachen kann. Bedauerlicherweise ebenso in den USA. Deshalb bin ich bei dieser Frage vorsichtig. Auch wenn ich Ihrer Auffassung zuneigen würde, bin ich beim Verfahren der Meinung: Wir sollten uns Zeit nehmen. Der nächste Deutsche Bundestag wird das sicherlich weise voranbringen.

Politik 12.02.25 Was Christian Lindner triggert "Dann gehen Sie doch nach Venezuela!"
Sind Sie denn persönlich der Meinung, dass Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisiert werden sollten?
Das würde ich gerne im Zuge so einer Diskussion im nächsten Bundestag besprechen. Das Thema ist enorm wichtig. Es betrifft allerdings nicht nur Paragraf 218, sondern auch: Haben wir eigentlich genug Frauenärztinnen und Frauenärzte überall in Deutschland, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen können? Haben wir an vielen Stellen nämlich nicht, …
Die fehlen doch gerade wegen dieses Paragrafen.
… auch im ländlichen Raum in Bayern beispielsweise. Und wie sieht es mit der Finanzierung des Schwangerschaftsabbruchs aus? Der Kostenübernahme? Es gibt viele Fragen, die für die Lebenswirklichkeit von Frauen in dieser Konfliktsituation von großer Bedeutung sind. Das nur eng zu schnüren auf das Strafgesetzbuch, wird der Frage nicht gerecht. Ich biete Ihnen gerne an: Fortsetzung folgt. Wir werden intensiv an das Thema herangehen. Die nächste Legislaturperiode beginnt in wenigen Tagen. Insofern muss sich niemand lange gedulden, bis es wieder aufgenommen wird.
Wir freuen uns auf den Gesetzesvorschlag der FDP dazu.
Es wird ein Gruppenantrag!
Mit Christian Lindner sprachen Clara Pfeffer und Tilman Aretz. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das vollständige Gespräch können Sie sich hier als Podcast anhören oder hier anschauen.
Quelle: ntv.de