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Corona-Pandemie: Warum steigen die Fallzahlen trotz der Lockerungen nicht?

May 31
23:20 2020
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Himmelfahrt in Frankfurt am Main: Weil sich derzeit viele im Freien aufhalten, ist das Infektionsrisiko niedriger

Ralph Peters/ imago images

Wer in diesen Tagen durch deutsche Innenstädte läuft, könnte den Eindruck bekommen, die Normalität sei zurückgekehrt: Die Terrassen von Restaurants und Cafés sind voll, Menschen gehen shoppen, Sicherheitsabstände werden nur noch selten gewahrt. Die vormals strengen Corona-Maßnahmen sind gelockert worden – und einige scheinen die Lockerungen noch lockerer zu nehmen, als sie eigentlich gemeint waren.

Doch trotz des veränderten Verhaltens der Menschen tut sich in den Statistiken, auf die ganz Deutschland seit Wochen mit Spannung blickt: wenig. Es ist kein sprunghafter Anstieg der Neuinfektionen zu verzeichnen, wie ihn manche Experten im Falle von Lockerungen voraussagten, und auch keine starke Erhöhung der viel beachteten Ansteckungsrate. Dem Robert Koch-Institut (RKI) wurden zuletzt etwa 200 bis 700 neue Corona-Fälle pro Tag gemeldet. An einigen Tagen Anfang April waren es noch rund 6000 Neuinfizierte gewesen. Und im Schnitt steckt jeder Infizierte höchstens eine weitere Person an, die sogenannte Reproduktionszahl R hat in den vergangenen Wochen zwischen 0,77 und 1,03 geschwankt.

Die möglichen Gründe für diese positive Entwicklung sind vielfältig. Einer sticht jedem, der in Supermärkten einkauft oder mit Bus und Bahn fährt, sofort ins Auge: Die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes wird überwiegend eingehalten. Glaubt man einer neuen Studie, die in dieser Woche im renommierten Fachmagazin "Science" veröffentlicht wurde, zahlt sich genau das aus. Die Forscher von der Universität Kalifornien und der Sun-Yat-sen-Nationaluniversität in der taiwanesischen Stadt Kaohsiung analysieren, dass jene Länder, die eine Maskenpflicht eingeführt haben, bei der Eindämmung der Corona-Pandemie bislang am erfolgreichsten gewesen seien. Und sie stellen fest, dass richtig angepasste Masken eine starke Ausbreitung von Viren durch asymptomatische Infizierte effektiv verhinderten.

Kritik an Empfehlung des Robert Koch-Instituts

Dass die oberste Seuchenbehörde in Deutschland, das RKI, zu Beginn der Pandemie noch offiziell vom Tragen der Schutzmasken abriet, sorgt nicht erst im Nachhinein für Kopfschütteln. Für den SPD-Gesundheitspolitiker und studierten Epidemiologen Karl Lauterbach war es "ein klarer Fehler". Die Studienlage sei schon damals deutlich gewesen. "Das Robert Koch-Institut hat noch zu einem Zeitpunkt vom Maskentragen abgeraten, als klar war, dass wir sie sofort verpflichtend machen würden, wenn wir sie in ausreichender Zahl hätten", sagt Lauterbach dem SPIEGEL.

Laut der jüngst veröffentlichten "Science"-Studie können Viruströpfchen beim Niesen und Husten deutlich weiter fliegen als gedacht. Die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), zwei Meter Abstand zu halten, basiere auf Erkenntnissen über die Verbreitung der Tröpfchen aus den Dreißigerjahren, schreiben die Forscher. Mittlerweile wisse man aber, dass größere Viruströpfchen mehr als sechs Meter weit katapultiert werden könnten. Schon deshalb sei das Tragen von Masken wichtig – und das Einhalten von ausreichend Abstand erst recht.

Eine weitere Erkenntnis, die sich in der Forschung immer weiter durchsetzt, besteht darin, dass sogenannte Aerosole eine überraschend große Bedeutung einnehmen. Nachdem sich Anfang März rund 80 Mitglieder eines Chores in der Berliner Domkantorei getroffen hatten, um gemeinsam zu singen, wurden 30 Teilnehmer positiv auf Sars-CoV-2 getestet. Von der Domverwaltung hieß es später, die lange Verweildauer in einem Raum habe "es offensichtlich unerheblich gemacht, wie weit man voneinander weg sitzt". Mittlerweile sind sich die Forscher sicher: Schuld an solchen Infektionsereignissen sind winzige Schwebeteilchen, die sich in der Luft befinden. Durch Niesen, Husten oder Sprechen fliegen sie als unsichtbare Mikrotröpfchen umher – und sie können mit Viren behaftet sein.

Forscher loben vorsichtiges Verhalten

"Die Aerosol-Übertragung ist unterschätzt worden", sagt Lauterbach. Insbesondere in Innenräumen mache sie sehr viel aus. "Wir müssen davon ausgehen, dass die Wahrscheinlichkeit einer Infektion in Innenräumen 18 bis 20 Mal höher ist als draußen." Weil sich die Menschen aber gerade jetzt im Frühling zunehmend an der frischen Luft aufhielten, komme dieser Effekt immer weniger zum Tragen. "Sorgen macht mir der Herbst. Dann könnte das exponentielle Wachstum zurückkommen."

Nach Ansicht von Forschern wirkt sich derzeit auch positiv aus, dass große Teile der Bevölkerung die Gefahr des neuartigen Coronavirus in den vergangenen Monaten sehr ernst genommen hätten – und zwar auch unabhängig von den politisch beschlossenen Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren. Aus Sorge vor einer Ansteckung seien viele Menschen bereits vor den Beschränkungen weniger unterwegs gewesen, sagt die Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung der Nachrichtenagentur dpa. "Und auch jetzt gehen noch nicht alle gleich wieder normal einkaufen." Das trage zu einer niedrigen Ansteckungsrate bei.

Auf die von der Politik beschlossenen Corona-Maßnahmen hätte man gleichwohl nicht verzichten dürfen – darin sind sich die meisten Forscher einig. "Wir haben mit vergleichsweise milden Maßnahmen eine Pandemiewelle gestoppt, und zwar total effizient", sagt Christian Drosten von der Berliner Charité im SPIEGEL-Gespräch. Ohne frühe Informationen aus der Wissenschaft für die Politik und umfangreiche Testmöglichkeiten "hätten wir in Deutschland jetzt 50.000 bis 100.000 Tote mehr", so der Virologe.

"Der Lockdown hat sehr stark gewirkt und die Nachwirkungen des Lockdowns, also ein weiteres Absinken der Fälle, sind noch zu beobachten", sagt auch Lauterbach. Eine Pandemie, die sich exponentiell ausbreite, falle ebenso schnell wieder ab, wenn sich die Richtung drehe.

Großveranstaltungen als Gefahr

Neben den positiven Effekten der Corona-Beschränkungen, der Maskenpflicht und zunehmenden Aktivitäten an der frischen Luft nennen die Fachleute noch einen weiteren wichtigen Aspekt: Man verstehe immer besser, dass die Verbreitung des Virus vor allem über wenige sogenannte Superspreader erfolge, die den Erreger an viele Menschen weitergäben, sagt Drosten. Die Forscher sprechen hierbei vom sogenannten Dispersionsfaktor k: Je kleiner er ist, desto mehr Infektionen lassen sich auf eine oder wenige Personen zurückführen. Während der k-Wert bei der Grippe etwa 1 beträgt, liegt er bei Covid-19 in Deutschland schätzungsweise zwischen 0,1 und 0,2.

Erfahrungen aus dem österreichischen Wintersportort Ischgl oder aus Südkorea zeigen, dass aus Infizierten vor allem dann Superspreader werden können, wenn sie in Bars, Klubs oder bei großen Events engen Kontakt zu einer großen Zahl an Menschen haben. Deshalb halten die Wissenschaftler die bisherigen Beschränkungen in diesem Bereich für besonders effektiv. "Jetzt Großveranstaltungen zuzulassen, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit zu sehr vielen Infektionen führen, das sehen wir im Moment an vielen Beispielen", sagt die Virologin Sandra Ciesek von der Uniklinik in Frankfurt dem SPIEGEL.

Insgesamt warnen die Experten davor, die Infektionsgefahr wegen der bislang vielversprechenden Daten zu unterschätzen. Ciesek betont, die Entwicklung der Fallzahlen werde wesentlich dadurch bedingt, wie konsequent Hygiene- und Abstandsregeln sowie das Tragen von Masken weiter von den Menschen umgesetzt würden. "Ob eine zweite Welle entsteht und wie stark diese ausfallen wird, hängt von dem Verhalten der Menschen ab", sagt die Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie. "Vernachlässigen wir die Gefahr, die durch dieses Coronavirus unverändert ausgeht, könnte sie signifikant ausfallen."

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, die Sun-Yat-sen-Nationaluniversität in Kaohsiung sei eine chinesische Hochschule. Sie befindet sich aber nicht in der Volksrepublik China, sondern in Taiwan. Wir haben das präzisiert.

Icon: Der Spiegel

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