“Bravo, Madame Pelicot!”: Vom Stolz, der Scham – und der richtigen Seite
Panorama
Gisèle Pelicot ist eine Heldin: Unfreiwillig, möchte man sagen, denn was ihr angetan wurde, ist an Grausamkeit kaum zu überbieten. Dass sie mit erhobenem Kopf und stolzem Blick in Erinnerung bleiben wird, liegt allein an ihr und ihrer Stärke. Seit Beginn des Prozesses gegen ihren Ex-Mann und weitere Angeklagte entwickelt sich Gisèle Pelicot zu einer Ikone der Frauenbewegung.
Wir wissen inzwischen sehr genau, was vorgefallen ist, dank Gisèle Pelicot: Sie hat veranlasst, dass die Videos, auf denen zu sehen ist, wie sie von Männern vergewaltigt oder sexuell missbraucht wird, vor Gericht gezeigt werden. Gisèle Pelicot möchte der ganzen Welt dennoch entgegenrufen, dass sie kein Opfer ist. Auch wenn dies eine naheliegende Bezeichnung wäre für eine Frau, die in bewusstlosem Zustand von Dutzenden von Männern sexuell missbraucht wurde. Auf ihren ausdrücklichen Wunsch findet dieser Prozess nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt – jeder soll wissen, was sie erleiden musste. Und das ist viel – das ist unangenehm intim, das ist kaum auszuhalten. Manche Menschen verlassen den Gerichtssaal, wenn die Videos gezeigt werden. Gisèle Pelicot wünscht jedoch, dass die unglaublichen Taten, die ihr geschehen sind, ans Licht kommen. Vielleicht auch um zu zeigen, dass sie kein Einzelfall sind.
Die Journalistin Johanna Adorjàn beschreibt für die "Süddeutsche Zeitung" Szenen aus dem Gerichtsaal. Es sind Szenen, die erschüttern: "Es ist totenstill im Gerichtssaal in Avignon. Auf drei großen Bildschirmen wird jetzt ein Video gezeigt, auf dem eine Frau zu sehen ist, die mit geschlossenen Augen auf einem Bett liegt. Aus ihrem offenstehenden Mund kommt ein regelmäßiges Schnarchgeräusch. Es ist das einzige Geräusch, das zu hören ist. Der Raum, in dem die Frau liegt, ist ein Schlafzimmer, das Licht ist gedimmt, sie trägt nur Unterwäsche. Ein grauhaariger Mann beugt sich über sie. Vorsichtig, als wolle er sie unter keinen Umständen wecken, hebt er ihre Unterhose an und schlüpft mit seinen Fingern unter den Stoff. Kurz danach ist zu sehen, wie sich sein Kopf zwischen ihren Beinen auf und ab bewegt. Die Frau schnarcht noch immer."
Während dieses Video, das von Gisèle Pelicots damaligem Ehemann (von dem sie inzwischen geschieden ist), aufgenommen wurde, gezeigt wird, ist sie anwesend. Ihre Haltung: gerade. Ihr Aussehen: selbstbewusst. Wie es in ihr aussieht, kann niemand wissen. Der Eindruck, den sie vor und im Gericht hinterlässt, ist auf jeden Fall der einer starken Frau. Eine gut aussehende, etwas ältere Dame ist Gisèle Pelicot, sie könnte direkt vom Brunch mit einer Freundin kommen oder aus dem Tennisklub, wo sie mit ihrem gleichaltrigen Mann eine morgendliche Runde Bälle geschlagen hat.
Und später würde sie dann die Enkel von der Schule abholen – das wären Möglichkeiten im Leben einer 72-Jährigen, wenn alles gut gegangen wäre. Ist es aber nicht. Gisèle Pelicot wird die nächsten Wochen in einem Gerichtssaal verbringen, denn sie wurde zehn Jahre lang von ihrem Ehemann unter Drogen gesetzt und in bewusstlosem Zustand, ohne ihr Wissen, von ihm und fremden Männern vergewaltigt, befingert, gefilmt.
Was sind das für Männer?
Die Seite, auf der Dominique Pelicot seine Mittäter fand – oder sie ihn – heißt auf Deutsch übersetzt "Ohne ihr Wissen" und impliziert, dass diejenigen, die diese Seiten besuchen, sehr genau wissen, was vor sich geht. Im Gegenteil zu denen, die auf dieser Seite ohne ihr Wissen "angeboten" werden. Pelicot filmte die Taten. 83 Männer sind auf seinen Videos zu sehen. 50 davon wurden mithilfe von Gesichtserkennungs-Software identifiziert. Diese Männer sind nun, zusammen mit Dominique Pelicot, angeklagt. Der Prozess findet in Avignon statt und wird noch Monate dauern.
Man fragt sich: Was sind das für Männer? Männer, die eine bewusstlose Frau vergewaltigen. Sie eventuell "nur berühren", oder küssen. An den intimsten Stellen. Die sich dabei zuschauen, sich filmen lassen. Die sich über eine Frau stülpen, die leicht schnarcht und nichts mitbekommt. Was sagt das über diese Männer? Nach den Beschreibungen von Prozessbeobachtern sollen es "ganz normale Männer jeden Alters, aus allen Schichten" sein. 83. Dreiundachtzig! So viele Männer hat der Ehemann von Gisèle Pelicot angeschleppt, damit sie seine Frau "nehmen". Und er immer mittendrin. Um die 200 Mal.
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Nur 15 von ihnen geben ihre Taten zu. Einer behauptet zum Beispiel, die "schlafende Frau" zwar zwischen den Beinen geküsst, keineswegs aber seine Zunge benutzt zu haben, wie Adorjàn in ihrem Artikel beschreibt. Dieser "feine" Unterschied könnte darüber entscheiden, für wie viele Jahre er ins Gefängnis kommt.
Später, wenn die Männer fertig waren, gab es vielleicht Kaffee und Kuchen bei den Pelicots, oder Abendessen mit Freunden oder den erwachsenen Kindern, denn ihr Leben soll in total normalen Bahnen verlaufen sein, wenn man davon absieht, was der Ehemann seiner Ehefrau über Jahre angetan hat. Und Gisèle hat sich an solchen Tagen oder Abenden vielleicht immer wieder gefragt, warum ihr so schwummrig ist, warum sie ein so komisches Gefühl zwischen den Beinen hat, warum es sie juckt, kratzt, wehtut. Aber wie sollte sie auch darauf kommen, dass ihr eigener Ehemann ihr antut, was sich niemand vorzustellen vermag?
Also – was sagt das über "die Männer"? Von 85 Männern, die bei den Pelicots die Schlafzimmertür öffneten, sollen nur zwei von ihrem Vorhaben abgelassen haben, als ihnen klar wurde, dass die Frau, die ihnen dargeboten wurde, nicht bei Bewusstsein war. Macht sie das zu besseren Männern? Wohl kaum, aber die erschreckende Zahl von 83 Männern bediente sich an der wie leblos daliegenden Frau. "Weil ihr Ehemann ihnen dazu die Erlaubnis gab?", fragt Adorjàn, die einige Tage im Gerichtssaal verbrachte. "Das würde ein Denken voraussetzen, in dem die Frau ihrem Mann gehört. In dem der Mann über seine Frau verfügen darf wie über einen Gegenstand. In dem es nicht der Einwilligung einer Frau bedarf, um sich ihrer sexuell zu bedienen", konstatiert sie in der "Süddeutschen". Und so wirft ein solches Vorgehen die Frage auf: Wie tief steckt das Schlimmste aus jahrtausendealten, patriarchalischen Strukturen in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts? Die Antwort ist leider simpel: Tief. Fest. Unabänderbar?
Hätte schlimmer sein können …
Während der Prozess nun seit mehreren Tagen läuft und Gisèle Pelicot jeden Tag – mal mit, mal ohne Sonnenbrille – das Gebäude betritt, wird sie begleitet vom Applaus immer zahlreicher werdenden Frauen. Sie rufen ihr zu, dass sie eine Heldin ist – und im Gerichtssaal eröffnen sich immer weitere, unfassbare Nebenschauplätze:
- Ein französischer Bürgermeister hat sich mit einer verharmlosenden Bemerkung disqualifiziert: "Es hätte schlimmer sein können", sagte er der BBC, "es waren keine Kinder beteiligt, (…) niemand wurde getötet", so der 74 Jahre alte Louis Bonnet. Er, der Bürgermeister von Mazan, dem Wohnort des Hauptangeklagten, bat kurz darauf zwar um Verzeihung für seine Worte, aber auch nur, weil er einen solchen Sturm der Entrüstung ausgelöst hatte, dass er wahrscheinlich nie wieder auf die Straße hätte gehen können.
Zurück in den Gerichtssaal: Dort werden Fotos und Videos gezeigt, die Dominique Pelicot persönlich von den Taten angefertigt hatte.
- Säuberlich, auf seiner Festplatte im Ordner "Missbrauch" angelegt, kommen diverse "Unterordner" zum Vorschein. Die Zuschauer im Gericht sollten den Saal verlassen, Journalisten konnten bleiben. An dieser Stelle wäre – erneut – eine Triggerwarnung angebracht, denn auf den Videos ist zu sehen, wie die bewusstlose Gisèle auf dem Rücken liegt und sich die Männer an ihr vergehen. Immer wieder wird als "Entschuldigung", angeführt, man habe gedacht, es mit einem "freizügigen Paar" zu tun zu haben, und ihre "Regungslosigeit" gehöre zum "Spiel".
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Die Gesellschaft ändern
Der Vorsitzende Richter entschied anschließend, weitere Fotos und Videos nicht mehr in Anwesenheit von Journalisten zu zeigen – wogegen die Anwälte von Gisèle Pelicot protestierten. "Dieser Prozess hat die Macht, die Gesellschaft zu ändern. Aber dafür braucht es den Mut, sich der Realität der Vergewaltigung zu stellen", argumentierte Stéphane Babonneau. Die Anwälte des Hauptangeklagten stimmten der Vorführung weiterer Videos schließlich zu.
- Ein anderer Mittäter hatte sich an seiner eigenen Frau in derselben Weise vergangen wie der Hauptangeklagte an Gisèle Pelicot – nach dessen Anweisung und unter dessen Beteiligung. Er steht unter Verdacht, zwischen 2015 und 2018 seine eigene Frau mit einem Schlafmittel betäubt zu haben, das er von Dominique Pelicot erhalten habe, um sie anschließend gemeinsam mit Pelicot zu vergewaltigen.
Natürlich wird nun nach Erklärungen für das Verhalten der Männer, die an den Ungeheuerlichkeiten teilnahmen, gesucht: "Wenn ich Herrn Pelicot nicht kennengelernt hätte, wäre es nicht dazu gekommen", soll einer der Angeklagten gesagt haben. Aber Pelicot habe ihn an seinen Vater erinnert und das, was dieser ihm angetan habe. Bei allem Verständnis für das Leid in dieser schrecklichen Kindheit – ob diese Erklärungen zu mildernden Urteilen führen werden, wird sich herausstellen. Seine Frau hatte in der vergangenen Woche bereits ausgesagt, dass sie keine Klage gegen ihren Mann eingereicht habe, um die fünf Kinder zu schützen. "Es ist unglaublich, was er getan hat, er war doch so ein wunderbarer Mann", sagte sie. Sie werde ihm dennoch "niemals verzeihen".
Und dann auch noch Verleumdungen
Gisèle Pelicot ihrerseits musste sich an einem der Verhandlungstage bereits gegen Aussagen einiger Mitangeklagter wehren.
- Sie argumentierten, sie hätten gedacht, lediglich an Sexspielen eines freizügigen Paares teilgenommen zu haben. "Seit ich diesen Gerichtssaal betreten habe, habe ich mich erniedrigt gefühlt", so Gisèle Pelicot: "Man hat mich als Alkoholikerin bezeichnet und behauptet, ich sei betrunken gewesen. Man hat mich damit zu einer Komplizin von Herrn Pelicot gemacht." Sie verstehe mittlerweile im Übrigen, warum Opfer sexueller Gewalttaten diese nicht anzeigen würden.
Sie habe jedoch niemals ihre Einwilligung gegeben, weder ihrem damaligen Mann noch den Fremden, die gekommen waren, sie zu vergewaltigen. "Ich war wie im Koma, das wird auf den Videos zu sehen sein, die gezeigt werden sollen", betonte sie von Anfang an und unterstreicht: "Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung." Dieser Satz ging an die Adresse des Verteidigers Guillaume De Palma, der die Taten seiner Mandanten herunterzuspielen schien. De Palma bat anschließend um Verzeihung für seine "verletzende" Äußerung.
"Habe ihn 50 Jahre geliebt"
Gisèle Pelicot ist in Frankreich zu einem Symbol des Kampfs gegen Gewalt an Frauen geworden. Sie erzählt vor Gericht, dass sie völliges Vertrauen in Dominique Pelicot gehabt und ihn "50 Jahre lang geliebt" hätte. Wenn sie in den Pausen den Gerichtssaal verlässt, wird sie mit großem Applaus und manchmal mit Blumen empfangen.
Ihr angeklagter Ex-Mann wandte sich vor Gericht inzwischen direkt an sie: "Ich bin schuldig. (…) Ich bitte um Verzeihung, auch wenn das inakzeptabel ist." Gisèle habe das "nicht verdient", ergänzt er. "Sie war wunderbar, und ich war völlig neben der Spur", so Pelicot. Auch er beruft sich, wie bereits andere Angeklagte, auf mehrere traumatische Kindheitserlebnisse – so sei er mit neun Jahren im Krankenhaus von einem Pfleger vergewaltigt worden. Und wieder die Frage, die jede und jeder für sich am besten selbst beantwortet: Entschuldigt das diese Taten?
Als wäre es nicht genug, was er seiner Ehefrau angetan hat, fragen sich nun auch andere, wie weit er gegangen ist: Pelicot wies die Vorwürfe seiner Tochter zurück, die vor Gericht vermutet hatte, dass ihr Vater sie auch betäubt hatte. Bei den Durchsuchungen waren bei ihm auch Nacktfotos seiner offenbar schlafenden Tochter und seiner beiden Schwiegertöchter gefunden worden. "Caroline, ich habe dich niemals angefasst, niemals betäubt, niemals vergewaltigt. Das ist unmöglich", so Pelicot. Ein Vater aber, der Nacktfotos von seiner schlafenden Tochter und seinen Schwiegertöchtern auf dem Handy mit sich trägt, verdient es, dass das Buch von Caroline Pelicot diesen Titel trägt: "Und ich habe aufgehört, dich Papa zu nennen (Et j'ai cessé de t'appeler Papa)." Der Prozess soll noch bis zum 20. Dezember laufen.
Quelle: ntv.de, mit dpa, Reuters, AFP