Alina Bronskys “Pi mal Daumen”: Die Schönheit von Freundschaft und Mathematik
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Eine Freundschaft zwischen einem 16-jährigen wohlhabenden Wunderkind und einer 53-jährigen Großmutter mit drei Jobs, ist das vorstellbar? Auf jeden Fall, wenn die Geschichte wie bei Alina Bronsky in einem Mathematikstudiengang spielt und einen Hauch von Märchen enthält.
Oscar und Monika haben auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam. Oscar ist 16, Moni 53, Oscar stammt aus einem wohlhabenden adligen Elternhaus, Moni hat drei Jobs, Oscar ist sozial speziell, Moni ständig von Kindern, Schwieger- und Enkelkindern umgeben.
Nun aber sitzen die beiden als Erstsemester zusammen im Mathematikstudium, auch wenn Oscar das zunächst nicht ganz wahrhaben will. Denn Moni mit ihren Ikea-Taschen voller Gerödel, die meist auch noch ein verrrotztes Kleinkind dabeihat, passt so gar nicht in seine Vorstellung einer Mathematikerin. Deshalb hält er sie zunächst auch eher für eine Kantinenfrau, die sich verlaufen hat. Tatsächlich ist auch Monika Kosinsky alles andere als überzeugt, dass sie in diesen Hörsaal gehört. Aber sie ist eben auch in dem Alter, in dem man sich fragt, was aus Lebensträumen noch werden kann.
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Oscar hingegen ist vollkommen sicher, dass er hier intellektuell brillieren wird, hat er doch schon vor Jahren seinen Karriereplan entworfen, der ihn schließlich zu einer Zusammenarbeit mit seinem Idol, dem Träger der Fields-Medaille Daniel Johannsen führen soll. Doch er lebt das erste Mal außerhalb des elterlichen Kokons und ist nur mittelmäßig darauf vorbereitet, seinen Alltag ohne die Mitwirkung von Mama und Personal auf die Reihe zu bekommen. Erschwerend kommt hinzu, dass er eine ordentliche Portion Neurospicyness mitbekommen hat. Das macht die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne Gummihandschuhe schwierig, ebenso wie das Essen in der Mensa, weil es vegan sein muss und er ohnehin nur Tofu mit Erbsen und Reis isst.
Ist Moni dumm?
Ausgerechnet diese beiden Studierenden sitzen nun also im Hörsaal nebeneinander, wobei Oscar wegen Monis Fliederparfüm kaum atmen kann. Das hindert das ungleiche Duo aber nicht daran, mit jeder Vorlesungswoche vertrauter zu werden. Zunächst sieht es so aus, als müsse Oscar Moni nicht nur den Studienbetrieb erklären, sondern ihr auch helfen, überhaupt irgendwelche Punkte zu machen. Er gibt Übungen ab, auf denen beide Namen stehen, obwohl Moni keine der Aufgaben bearbeitet hat.
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Denn Moni schafft nicht jede Vorlesung, immer wieder kommen ihr Tochter Püppi und die Enkel Justin, Quentin und Keanu dazwischen. Was Moni an Lebenstüchtigkeit und Multi-Tasking-Fähigkeiten hat, geht ihrer Tochter und deren Mann Ronny leider ab. Und so muss sie in ihrer Mutter- und Großmutter-Rolle immer wieder einspringen, in Elterngesprächen oder beim Kinderarzt sitzen, statt sich in die Schönheit von Algebra oder Vektoren zu vertiefen. Überdies kommt Oscar relativ schnell dahinter, dass Monis Familie keine Ahnung von deren Ausflug in die Welt der Wissenschaft hat.
Zu diesem Zeitpunkt hält Oscar Moni auch nicht mehr für dumm, nur noch für ineffektiv. Außerdem hat die Senioren-Studentin erstaunlich enge Beziehungen in die Professoren-Riege. Nicht nur Professor Herbst, sondern auch der von ihm vergötterte Professor Johannsen sind mit Moni auf eine Weise vertraut, die ihm Rätsel aufgibt.
Ein bisschen heilere Welt
Alina Bronsky zeigt mit "Pi mal Daumen" wieder einmal, dass sie wirklich gut schreiben kann. Wer bereits "Der Zopf meiner Großmutter" oder "Barbara stirbt nicht" gelesen hat, weiß das natürlich schon. Alle anderen dürfen auf das Urteil der unabhängigen Buchhandlungen vertrauen, die Bronskys neuesten Roman zu ihrem Lieblingsbuch 2024 gewählt haben.
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An Bronskys Erzählung ist einiges märchenhaft, manches sogar ein wenig inkonsistent. Aber die Erzählung aus Oscars Sicht und mit seiner Stimme entfaltet einen wirklichen Zauber. Von Mathematik muss man glücklicherweise gar keine Ahnung haben, obwohl Bronsky nach einem eigenen Ausflug an die Uni in ihren 30ern definitiv weiß, wovon sie schreibt. Auf 270 Seiten folgt man Moni und Oscar durch vier Semester, nach denen im Leben beider nicht mehr viel so ist, wie an ihrem ersten Uni-Tag.
Es macht Spaß, mit Oscar und Moni in den leicht räudigen Uni-Fluren oder an den Mensa-Tischen zu sein, während sie versuchen, einander zu verstehen oder auch zu helfen. Bronsky ist mit den unterschiedlichen Wirklichkeiten von reichen und weniger wohlhabenden Menschen eher subtil und humorvoll. Trotzdem wird überdeutlich, dass Moni und auch noch ihre Enkel sich den Bildungsaufstieg viel härter erkämpfen müssen, als es sich Oscars Familie auch nur vorstellen kann.
Manchem mag die Herzenswärme von Moni und ihrer Familie zu naiv erscheinen und ein bisschen zu sehr den Eindruck erwecken, dass ärmere Menschen bessere Menschen sind. Andererseits tut es gut, davon zu lesen, dass Menschen einander zugewandt sein können, auch wenn sie sich zunächst sehr fremd sind.
Quelle: ntv.de