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Weltstar rettet seinen Trainer: Bellingham schubst England von der Müllhalde

July 01
00:06 2024
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Fußball-EM 30.06.24 03:02 min Highlights Achtelfinale: ENG – SVK Last-Minute-Fallrückzieher rettet England gegen Slowakei

Englands wankendes Milliardenteam hat sich dank seiner Topstars gerade noch vor einem blamablen EM-Aus im Achtelfinale gerettet. Aber kann dieser Pragmatismus nah am Abgrund wirklich reichen, um den großen Traum zu erfüllen?

Um 19.54 Uhr hätte dieses Fußballspiel gar nicht mehr laufen dürfen. Um 19.54 Uhr hätte die nächste große Fußball-Nation nach Italien eigentlich den eigenen Zerfall verarbeiten müssen. Gegen die gigantische Wut des Anhangs. Doch um 19.54 Uhr flog Jude Bellingham durch die Luft und schickte den Ball per Seitfallzieher ins Tor der Slowakei. Die größte Blamage dieser Europameisterschaft wäre perfekt gewesen. Der biedere David hätte den phasenweise erschütternd schwachen Goliath in Gelsenkirchen in Trümmer gelegt. Was wäre das für eine Geschichte gewesen, ausgerechnet in "Gelsenkörken", um das es so viel Aufregung gegeben hatte.

In der fünften Minute der Nachspielzeit aber kam Bellingham. Gute Gründe für diese Extra-Minuten hatte es eigentlich nicht gegeben. Aber England war's egal. Der Löwe brüllte, Real Madrids Weltstar Bellingham baute sich vor der Tribüne auf, auf der anderen Seite flogen die weißen Trikots vom Körper. Jeder Engländer suchte seinen eigenen Weg, den Wahnsinn von "Gelsenkörken" zu verarbeiten.

Bis zu dieser 95. Minute lag Englands Fußball in Trümmern. Der Zustand der Mannschaft gleicht dem Zustand des Landes. Es ist ein Zerfall, der kaum zumutbar ist. Einen "Müll" hatten sie sich in der Stadt der Abraumhalden zusammengespielt, wie sich ein Reporter aus dem Mutterland des Fußballs echauffierte. Die nächste "Scheiße" war das, wie der kritische Experte Gary Lineker schon nach dem zweiten Spiel der Three Lions bei diesem Turnier geurteilt hatte. Im Land geht die große Verzweiflung um. Der Titel soll her. 58 Jahre der Schmerzen sollen endlich enden. Aber derzeit schlägt die Schmerztherapie nicht an. Der Fußball der Engländer verursacht heftige Leiden. Psychisch und physisch. Grausam bis zur Grenze des Unerträglichen stümpern die Superstars von Trainer Gareth Southgate über den Rasen. Geht das noch als Pragmatismus durch oder ist das nur katastrophal, erschütternd?

England – Slowakei 2:1 (1:1, 0:1) n.V.

Tore: 0:1 Schranz (25.), 1:1 Bellingham (90.+5), 2:1 Kane (91.)
England: Pickford – Walker, Stones, Guehi, Trippier (66. Palmer) – Mainoo (84. Eze), Rice – Saka, Bellingham (106. Konsa), Foden (90. Toney) – Kane (106. Gallagher). – Trainer: Southgate
Slowakei: Dubravka – Pekarík (109. Tupta), Vavro, Skriniar, Hancko – Stanislav Lobotka, Kucka (82. Bénes), Duda (81. Bero) – Ivan Schranz (90. Gyömbér), Strelec (61. Boženík), Haraslin (61. Suslov). – Trainer: Calzona
Schiedsrichter: Umut Meler (Türkei)
Gelbe Karten: Guehi (2), Mainoo, Bellingham – Kucka, Škriniar, Pekarík, Vavro, Gyömbér
Zuschauer: 50.000 (ausverkauft) in Gelsenkirchen

Die Fans im Land haben sich entschieden. Sie können mit dem Plan von Southgate nichts (mehr) anfangen. Nach dem Gruppenfinale gegen Slowenien (0:0) flogen Bierbecher in seine Richtung, er wurde ausgebuht. Ganz der Gentleman, der er ist, nahm er die Wut mit offenen Armen an. Als sein Name an diesem Sonntagabend, rund 30 Minuten vor Anpfiff, erstmals vom Stadionsprecher verkündet worden war, gab's laute Pfiffe. Southgate, da lehnt man sich nicht zu weit aus dem Fenster, hilft zur Versöhnung nur der Titel. Und den will er ja haben. Er will dem Land als Trainer schenken, das ihm als Spieler nicht gelungen war. 1996 war er der tragische Held bei der Heim-EM. Er vergab den Elfmeter, ehe Andreas Möller für Deutschland zum Sieg traf.

"Prayer for free"

Und Southgate hat einen monströsen Kader für dieses Vorhaben mit nach Deutschland gebracht. Der Marktwert des Aufgebots liegt bei 1,5 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Das DFB-Team ist ein bisschen mehr als die Hälfte wert (831 Millionen). Auch die Franzosen, der zweite große Favorit auf den Titel, fallen mit 1,23 Milliarden noch ab. Aber so gigantisch die einzelnen Werte auch sind, so absurd dilettantisch tritt England auf. Nach 25 Minuten blamierte die Slowakei die Hintermannschaft der Three Lions. Der 30 Jahre alte Ivan Schranz von Slavia Prag, in etwa so viel wert wie der linke Zeh von Weltstar Jude Bellingham (zwei Millionen Euro), lief in den freien Raum, wurde perfekt bedient, schob sich vor Marc Guehi und vollendete souverän. England war geschockt. Torwart Jordan Pickford schimpfte wie ein Taxifahrer im Londoner Stadtverkehr, raunzte Gott und die Welt an.

Die heilige Instanz war schon vor dem Spiel eine wichtige Anlaufstelle gewesen. "Prayer for free" bot eine kleine Gruppe an, kostenlose Gebete. Mehrere Fans machten davon Gebrauch, sie schlossen die Augen, hielten sich an den Händen, beteten für eine gute Abwehr und gute Angriffe. Ob das eine fromme Gegenbewegung zum Trainer war? Unklar. Aber offensichtlich gab es Probleme bei der Übermittlung. Klassiker beim Fußballspiel: Zwischen senden und empfangen von Nachrichten vergeht reichlich Zeit! An diesem Abend dauerte es dann eben bis zur 95. Minute. Der Fußballgott hatte sich Bellingham als Abgesandten ausgesucht. "Jude macht, was Jude macht. Was für ein unglaubliches Tor", sagte Kapitän Harry Kane: "Das war eines der besten Tore in der Geschichte unseres Landes, denke ich." "Alles, was er anfasst, wird zu Gold", jubelte die BBC. Die "Daily Mail" schrieb von den "Comeback-Königen" – und Lineker meinte bei X: "Deshalb ist er ein Superstar. Juuuuuuude." Die Wahl dieses großen Komparativs offenbart die große Befreiung der Löwen.

Die hatten mindestens mal die ersten 45 Minuten gespielt, wie eine angekettete Raubkatze im Zoo. Lethargisch, ohne Ambitionen, große Dinge zu erledigen. Dazu mischten sich Fehlpässe, die nicht zu erklären sind. Über nur wenige Meter wurde der Ball nicht zum Mitspieler gebracht. Flanken segelten ins Nirwana. Selbst leidgeprüfte Schalker wunderten sich über das Nichts an Fußball, dass die besten Spieler der Welt auf den Rasen brachten (oder eben nicht). John Stones, sonst eine hochgeschätzte Fachkraft bei Pep Guardiolas Manchester City, war völlig verzweifelt und bisweilen sorglos. Er suchte nach Spielpartnern, die versteckten sich aber clever. Blöd nur, dass dieses Spiel halt nicht Verstecken, sondern Fußball heißt. Phil Foden, bester Spieler der Premier League, traute sich kaum was zu. Kieran Tripper sogar noch weniger. Kane fand nicht statt. Die Liste lässt sich fortsetzen.

Keine Tiefe, keine Breite, kein Tempo, kein Mut

Southgate ertrug das weitgehend gleichmütig. Mal sprang er auf und klatsche, viel mehr Emotionen und aktives Coaching lieferte er nicht. Ganz im Gegenteil zu Bundestrainer Julian Nagelsmann am Samstag gegen Dänemark, im Starkstrom-Modus fegte er durch seine Coaching-Zone. Wie ein Löwe auf Beutezeug. Southgate dagegen gab die Samtpfote. In England verzweifeln sie daran. Dass England zum Zeitpunkt des 0:1 schon mehrere kritische Situationen zu überstehen hatte, ließ den Zorn auf den Rängen immer mehr anwachsen. Als sich Guehi und Stones nach 30 Minuten den Ball immer noch so leidenschaftslos zupassten, als würde die Mannschaft haushoch führen und nur noch das Ende erwarten, brach ein mächtiges Pfeifkonzert los. Southgate reagierte, erhob sich. Aber Lösungen fanden seine Engländer nicht. Wie auch, ohne Tiefe, ohne Breite, ohne Tempo, ohne Mut. Gary Neville, Ex-Nationalspieler und mittlerweile Experte, schimpfte: "Es ist unrealistisch zu glauben, dass man mit unserer Spielweise ein Turnier einen Monat lang überstehen kann." Noch aber leben sie.

In der zweiten Halbzeit ließ der Trainer seine Löwen von der Kette. Aber die wussten mit ihrer neu gewonnenen Freiheit vorerst wenig anzufangen. Wie eine junge Katze beim ersten Gartengang tasteten sie sich langsam vor, entdeckten nach und nach das neue Revier. Die Slowaken wurden immer tiefer reingedrückt, hatten aber selten Probleme, die meist verunglückten Flanken der Engländer zu verteidigen. Da es sonst nichts Überraschendes gab, wurden sie auch nicht auf dem falschen Fuß erwischt. Der Druck wurde allerdings immer gigantischer, die Gegenwehr immer geringer. Und als das Spiel noch lief, ohne, dass es ersichtliche Gründe dafür gab, traf der "tote" Weltstar die Slowaken ins Herz. Bellingham hatte vor dem Spiel bekannt, wie ausgelaugt er von dieser Saison sei. Aber er entdeckt irgendwo immer noch ein Restprozent Akku, bevor sein Motor versagt. Es ist ein Kampf mit sich, mit seinem müden Körper. In seiner großen Unzufriedenheit neigt er zu abwertenden Gesten gegen das eigene Team und den Schiedsrichter. Da sind schon ein paar unangenehme Allüren dabei.

"Wer sonst?!"

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Dieses England rettet sich durch die individuelle Klasse seiner Einzelspieler durch das Turnier. Und immer wieder muss es Bellingham richten, der so erschöpft spielt, so verzweifelt wirkt, attackiert wird und sich immer wieder aufrafft. Wieder einmal im "Drecksloch" Gelsenkirchen, mit dem sich die englischen Fans nach ihrer Auftaktwut längst versöhnt haben und wo sich Bellingham durch seine BVB-Vergangenheit zum großen Helden am falschen Ort erhebt. Schon gegen Serbien hatte er hier getroffen. "Jude ist aus einem bestimmten Grund dort, wo er ist. Er ist zu solchen Dingen fähig, das macht er im Training. Ich habe es von ihm erwartet", sagte der spät eingewechselte Ivan Toney. Der Retter selbst sagte: "Ich bin glücklich. Jede Chance, die man hat, sollte man nutzen." Nach seinem Seitfallzieher war er allerdings weniger zurückhaltend gewesen, laut Lippenlesern sagte er: "Wer sonst?!" Und auf die Frage, wer das Skript für seine Dramen schreibt, antwortete er: "Ich!" Aber er war nicht der einzige Protagonist der spektakulären Rettungsmission des taumelnden Mutterlands. Kaum lief die Verlängerung, traf Kane per Kopf. England drehte frei. Das Wunder, was sonst eine Blamage gewesen wäre, war geschafft.

Southgate, dessen Weiterleben als Nationaltrainer am seidenen Faden hing, hatte wieder seine ganz eigene Sicht auf die Dinge: "Ich hatte nie das Gefühl, dass heute Abend das Ende unseres Turniers sein würde." Die Bilder, die er danach lieferte, sprachen allerdings eine ganz andere Sprache. Ganz viel Zeit nahm er sich, seine Helden zu herzen. Bellingham, Kane und wie sie alle heißen. Die Fans brüllten sich im Stadion "Sweet Caroline" aus den erlösten Körpern und summten später, auf dem Weg zur Bahn, "Hey Jude". Ihre Gebete wurden erhört. Am Samstag nun geht es gegen die Schweiz. Jene Schweiz, die Italien dem eigenen Zerfall preisgab.

Quelle: ntv.de

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