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Was kann man aus der Kuba-Krise für den Ukraine-Krieg lernen?

October 25
01:56 2022

Chruschtschow stationierte vor 60 Jahren Raketen auf Kuba, nun droht Wladimir Putin in der Ukraine mit Atomwaffen. Der SPIEGEL hat Expertinnen und Experten gefragt: Was kann man aus der Eskalation von 1962 lernen?

Seit der Kubakrise im Oktober 1962 stand die Welt nie dichter vor einem nuklearen Konflikt als heute. Im Ukrainekrieg droht Russlands Herrscher Wladimir Putin mal indirekt, mal offen mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen. Anfang Oktober warnte US-Präsident Joe Biden vor dem »Armageddon« , einer endzeitlichen atomaren Entscheidungsschlacht.

Vor 60 Jahren hatte der Ost-West-Konflikt einen Höhepunkt erreicht. Gut ein Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer war die Sowjetunion weit damit fortgeschritten, auf Kuba, von Fidel Castro sozialistisch regiert, einen Raketenstützpunkt zu bauen und mit SS-4-Mittelstreckenraketen zu bestücken. Die Abschussanlagen lagen eine Stunde westlich von Havanna, nur rund 400 Kilometer von Miami entfernt. Washington, zahlreiche andere US-Städte sowie zentrale Militäreinrichtungen gerieten plötzlich in Reichweite sowjetischer Raketen, die mit Atomsprengköpfen bestückt werden konnten – jeder mit der 66-fachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe.

Nur Tage fehlten bis zur Gefechtsbereitschaft. Die USA entdeckten die Abschussrampen am 14. Oktober 1962, dem ersten Tag eines Countdowns über zwei dramatische Wochen. »Wir waren nah am Ende der Welt«, sagte Sergej Chruschtschow, Sohn des damaligen sowjetischen Parteichefs Nikita Chruschtschow, 2002 in einem SPIEGEL-Interview. Zur friedlichen Lösung kam es, indem sowohl US-Präsident John F. Kennedy als auch Chruschtschow am Ende einlenkten (eine ausführliche Schilderung der Ereignisse lesen Sie hier).

Der SPIEGEL hat Expertinnen und Experten gefragt, wie sie die Gefahren des heutigen Konflikts im Vergleich zu 1962 in fünf Aspekten einschätzen, welche Parallelen und Unterschiede sie sehen:

  • Claudia Major leitet die Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

  • Der Historiker und Amerikanist Bernd Greiner hat mehrere Bücher zur Kubakrise verfasst.

  • Die freiberufliche politische Analystin Alexandra Sitenko forscht zu den Beziehungen zwischen Russland und Lateinamerika.

  • Bert Hoffmann ist Kuba-Experte beim German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg.

Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion waren im Kalten Krieg die einzigen Weltmächte. Die Kubakrise führte praktisch über Nacht zu einer massiven Veränderung des strategischen Gleichgewichts – und das trotz der eigentlich »grotesken Dominanz« der USA an Sprengköpfen und Flugzeugen, wie Bernd Greiner sagt. Für beide Seiten sei es darum gegangen, entweder einen »Atomkrieg zu riskieren oder eine Demütigung zu akzeptieren«.

In der Ukraine dagegen will Russland als regionale Großmacht einen Landraub durch atomare Erpressung absichern. »Ein völlig anderes Setting: Damals gab es keinen Angriffskrieg unter flagrantem Bruch des Völkerrechts wie heute«, erklärt Claudia Major. Auch Bert Hoffmann beschreibt einen »Konflikt zwischen einer Weltmacht und einer Großmacht«. Der wahre andere globale Akteur sei China – »der steht aber bisher weitgehend am Spielfeldrand und schaut zu«. Sollte sich das ändern, würde sich auch die Dynamik des Krieges ändern.

Alexandra Sitenko sieht einen weiteren »gefährlichen Unterschied«: Als sich die Supermächte 1962 im direkten Konflikt gegenüberstanden, seien sie einander »noch mit einem gewissen Respekt begegnet«. Dagegen sei das Verhältnis beider Nationen mittlerweile von Verachtung geprägt, was Biden wie auch Putin immer wieder öffentlich zum Ausdruck brächten.

Ebenso wie Kennedy hatte Chruschtschow die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erlebt und wusste, dass die Zerstörung durch einen Atomkrieg um ein Vielfaches größer sein würde. Letztlich handelte er rational. Der Autor Michael Dobbs hat die Kubakrise in einem Stundenprotokoll für sein Buch »One Minute to Midnight« analysiert: Aus den Kreml-Archiven gehe hervor, dass Chruschtschow entgegen seiner Rhetorik eine friedliche Lösung anstrebte, sobald klar wurde, dass sein »riskantes Nuklearspiel« scheitern könnte, schreibt Dobbs in der »New York Times« . Putin dagegen erhöhe in jedem kritischen Moment den Einsatz: »Die Eskalation ist zu seiner bevorzugten Taktik geworden.«

Beide Politiker eine der Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen, Putin fühle sich als »Knetmasse« und Spielball der Vereinigten Staaten, erklärt Bernd Greiner. Er hält Putin für unberechenbarer als Chruschtschow, der vor 60 Jahren noch von Partei und Politbüro kontrolliert wurde. Was im Moskauer Machtzentrum passiere, sei heute viel weniger klar. Man müsse davon ausgehen, dass Putin in der Blackbox des Kreml alles allein entscheide.

Putin versucht, der Öffentlichkeit Russlands und der Welt zu vermitteln, dass der Krieg gegen die Ukraine zur Selbsterhaltung und Wiederherstellung nationaler Ehre unumgänglich sei, weil der Westen Moskau mit der Nato-Osterweiterung getäuscht und Russlands historische Größe untergraben habe.

Claudia Major hingegen ist überzeugt: »Putin führt einen revisionistischen Krieg, um die Grenzen seines Landes von vor 1991 oder sogar die des Zarenreichs wiederherzustellen.« Der Kremlherrscher scheine bereit, bis zum Äußersten zu gehen, befürchtet Alexandra Sitenko: »Wenn Putin mit dem Rücken zur Wand steht und die Niederlage vor Augen hat, dann würde er auch vor dem Einsatz der ultimativen Mittel nicht zurückschrecken.«

Abschreckung fußt auf Voraussetzungen, die niemand präzise kontrollieren kann. In der Kuba-Raketenkrise ängstigte beide Seiten das Risiko eines überstürzten Handelns oder eines Fehlers in der Befehlskette. »Die Wahrscheinlichkeit, dass es so weit kommt, steigt proportional zur Dauer und Intensität jeder Konfrontation«, sagt Bernd Greiner. In ihrer Eigendynamik riefen Krisen Reaktionen hervor, die vielleicht niemand wollte, die aber später nicht mehr aufzufangen seien.

In der Kubakrise etwa wurde ein US-Aufklärungsflugzeug am 27. Oktober 1962 von sowjetischen Geschützen über Kuba abgeschossen – der Kommandeur auf der Insel hatte ein explizites Feuerverbot des Kreml ignoriert. So etwas könne immer passieren, weil am Ende der Befehlskette »irgendein Hurensohn nicht mitbekommt, was Sache ist«, orakelte Kennedy damals.

Wie in jedem Krieg ist das auch in der Ukraine vorstellbar. Michael Dobbs skizziert eine Reihe unkalkulierbarer Szenarien: So könnte »ein verirrtes Geschoss« in einem Kernkraftwerk einschlagen und radioaktiven Niederschlag über weiten Teilen Europas verursachen. Ein Versuch Russlands, westliche Militärlieferungen an die Ukraine abzufangen, könnte Nato-Länder wie Polen in Aufruhr versetzen und eine Kettenreaktion auslösen. Und der größte Schrecken: Eine russische Entscheidung zum Einsatz taktischer Atomwaffen gegen Einheiten der Ukraine könnte zu einer nuklearen Reaktion der Vereinigten Staaten führen.

1962 halfen ganz entscheidend die »Back Channels«, die Raketenkrise zu entschärfen. Während beide Seiten sich in der Öffentlichkeit anfeindeten, arbeitete vor allem Robert Kennedy, Generalstaatsanwalt und Präsidentenbruder, mit dem sowjetischen Botschafter Anatoli Dobrynin konstruktiv an einer Lösung.

Solche Optionen zur Hinterzimmer-Diplomatie sieht Sicherheitsexpertin Claudia Major heute kaum noch. Es gebe zwar Hinweise auf Kontakte zwischen US-Militärs und russischen Militärs, auch zwischen französischen und russischen. Aber das seien vermutlich eher Kanäle für militärische Belange, etwa um Fehlinterpretationen zu vermeiden – und weit entfernt von konkreten Verhandlungen zur Beendigung des Ukrainekriegs: »Die finden seit Mai offiziell nicht mehr statt.«

Major warnt vor allen Zugeständnissen, die für Putin die Deutung zuließen, dass man mit Gewalt doch erfolgreich Grenzen verschieben könne. »Erst wenn Russland auf das Narrativ verzichtet, dass die Ukraine kein Existenzrecht hat, kann es Frieden geben«, sagt sie. »Ideen wie Land gegen Frieden, ein Gebietsverzicht der Ukraine für ein Kriegsende, sind schon 2014 auf der Krim krachend gescheitert und signalisieren Russland letztlich, dass es mit seiner Kriegsstrategie erfolgreich ist.« Der militärische Konflikt ende erst dann, wenn eine Seite gewinne oder die Eliten um Putin glaubten, dass es einen »Wechsel geben muss, ihn ablösen und die Kriegsziele neu definieren« – oder den Krieg beenden.

Was Verhandlungen nach Alexandra Sitenkos Überzeugung erschwert: Heute sei der Ukrainekrieg vollständig »transparent« und werde in Echtzeit auch über soziale Netzwerke in die Welt getragen . »Das schafft eine Öffentlichkeit und Emotionalität, die es damals nicht gab«, sagt Sitenko – und damit auch einen ganz anderen Druck. »Zudem haben die russischen Streitkräfte nachweislich Kriegsverbrechen begangen, wo soll man da mit Gesprächen ansetzen?«

Die Kubakrise 1962 war für die Welt und die Supermächte ein Schock, eine Art Wachmacher. Sie verdeutlichte, wie fragil ein »Gleichgewicht des Schreckens« ist. Danach trafen die USA und die UdSSR Vorkehrungen, um eine neuerliche Eskalation zu verhindern. Sie vereinbarten eine Direktverbindung zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml, sie unterzeichneten Kernwaffentestverbote.

Mit dem Einstieg in eine neue Friedenspolitik ist heute kaum zu rechnen, Überlegungen zu einer künftigen Sicherheitsarchitektur setzen nahe null an. Die Abschreckung erlebt ein Comeback. GIGA-Experte Bert Hoffmann befürchtet, dass auch Mittelmächte wieder die nukleare Option ziehen wollen werden, weil sie Atomwaffen als Überlebenssicherung sehen. »Sie werden fragen: Hätten die Russen die Ukraine angegriffen, wenn das Land nicht sein Atomarsenal abgegeben hätte?«

In Europa steuert man allenfalls auf eine Koexistenz mit Russland zu. »Man kann mit keinem Partner kooperieren, der ständig die Abrissbirne an das gemeinsame Europäische Haus setzt«, urteilt Claudia Major. Sie erkennt keine gemeinsame Wertebasis, keine gemeinsam akzeptierten Regeln, kein Vertrauen, keinen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Austausch. Major sagt in aller Deutlichkeit: Fortan gehe es um Sicherheit vor Russland – nicht mehr mit Russland.

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