Völkermord von Srebrenica: Der Stolz der Täter, das Elend der Opfer

Überlebender Nedžad Avdić, 42, an der Srebrenica-Gedenkstätte
Foto: privat
Er hofft, dass er schnell und ohne Qualen sterben wird. Als sie ihn auf dem Gelände nahe des Staudamms zur Erschießung abführen, sieht er im Halbdunkel schon Reihen von Toten vor sich liegen. Ein Gedanke erfüllt ihn mit unsagbarer Traurigkeit: Seine Mutter wird nie erfahren, wo und wie sein Leben endete. Die Projektile treffen ihn in den Bauch, in ein Bein und den linken Arm.
Es geht nicht schnell.
Er liegt blutend zwischen Dutzenden von Leichen und wartet reglos auf den Tod. Ein Soldat kommt, schießt den noch Lebenden in den Kopf. Ihn übersieht er.
Irgendwann in der Nacht, die Soldaten sind abgefahren, spürt er unweit von sich die Bewegungen eines Mannes: "Bist du am Leben?", fragt er flüsternd. Der Mann bejaht.
Sie robben aufeinander zu und binden sich die auf dem Rücken gefesselten Hände gegenseitig los. Dann schleppen sie sich in ein Gebüsch. Von dort beobachten sie am nächsten Morgen, wie die Leichen auf Lkw geladen und weggekarrt werden.
Nachdem alles vorbei ist, irren sie tagelang durch Wälder, die Wunden notdürftig mit Lappen verbunden. Schließlich erreichen sie befreites Gebiet.
So schildert Nedžad Avdić seine Erinnerungen an die Nacht vom 14. auf den 15. Juli 1995. Nedžad Avdić, damals 17 Jahre alt, und sein Kamerad, der seine Identität bis heute geheim hält, überleben durch einen unfassbaren Zufall eine Massenerschießung von schätzungsweise 800 Gefangenen auf einem ehemaligen Bergwerksgelände nördlich von Srebrenica in Ostbosnien nahe der serbischen Grenze.
Es sind die Tage des Massakers von Srebrenica, als Militäreinheiten des bosnisch-serbischen Armeeführers Ratko Mladić Tausende zumeist männliche Bosniaken ermorden. Der einzige Grund: Sie sind Muslime. Schon seit Jahren hatte die Armee der bosnischen Serben aus vielen Gebieten in Bosnien-Herzegowina systematisch alle Nichtserben vertrieben oder ermordet. Das Massaker von Srebrenica ist der grausame Höhepunkt dieser ethnischen Säuberungspolitik.
Es ist das schlimmste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der Internationale Gerichtshof hat es als Völkermord deklariert. Ein Verbrechen, an dem auch die internationale Gemeinschaft eine Mitverantwortung trägt, denn sie versagte darin, die Menschen in der damaligen Uno-Schutzzone Srebrenica wirklich zu schützen.
Viele Opfer starben auf dem "Todesmarsch von Srebrenica", als serbisches Militär Flüchtlingskolonnen in den Wäldern der Gegend unter Gewehr- und Artilleriefeuer nahmen. Die meisten allerdings wurden bei organisierten Erschießungen ermordet. Es gibt 8.372 namentlich bekannte Opfer, bisher wurden die sterblichen Überreste von mehr als 7.000 gefunden und identifiziert.
Nedžad Avdić, heute 42, ist einer von nur sechs Menschen, die eine solche Massenexekution überlebten. Er ist der einzige von ihnen, der regelmäßig öffentlich auftritt und über seine Geschichte spricht. Und der einzige, der wieder in dem Ort lebt, in dem alles begann: in Srebrenica.
Ausgerechnet hier muss Avdić heute immer öfter hören, dass alles nicht so schlimm war. Dass die Opferzahlen weit übertrieben sind. Dass es keinen Völkermord gab. "Srebrenica ist heute in der Hand von Völkermordleugnern und Sympathisanten der Kriegsverbrecher", sagt Avdić.
Der 11. Juli ist der internationale Srebrenica-Gedenktag. Der diesjährige 25. Jahrestag findet weltweit besondere Beachtung. Doch eines geht dabei meistens unter: Der Völkermord an den bosnischen Muslimen wird inzwischen systematisch relativiert oder bestritten. Nicht nur vor Ort in Srebrenica, nicht nur von unverbesserlichen Nationalisten, sondern bis hinauf in die Staatsspitzen der bosnischen Teilentität Republika Srpska und Serbiens. Doch anders als die Leugnung des Holocausts oder des Völkermordes an den Armeniern provoziert das keinen internationalen Skandal. Selbst in Bosnien-Herzegowina sorgt es oft nur für wenige Schlagzeilen.
So wie auch im Fall von Nedžad Avdić und dem, was er am 15. März des vergangenen Jahres in Srebrenica erlebte.
An diesem Tag stellte der serbische Hobbyhistoriker Dušan Pavlović im örtlichen Kulturzentrum sein Buch "Schlacht um Srebrenica. Der Krieg für die Zivilisation" vor. Er behauptet darin, die meisten Opfer von Srebrenica seien in bewaffneten Kämpfen, durch Minen oder durch Selbstmorde gestorben, Exekutionen habe es kaum gegeben, einen Völkermord sowieso nicht. Unter den prominenten Gästen der Veranstaltung ist auch der serbische Bürgermeister von Srebrenica, Mladen Grujičić, ebenfalls ein notorischer Völkermordleugner.
Auch Nedžad Avdić ist gekommen. Er wartet das Ende der Buchvorstellung ab, dann meldet er sich zu Wort. So schildern er und Presseberichte den Abend im Nachhinein. Viele Anwesende kennen ihn, nach einigem Hin und Her darf er sprechen. Er zählt auf, welche Ereignisse der Buchautor verschweigt. Er sagt, dass dessen Darstellung eine Beleidigung aller Opfer von Srebrenica sei. Im Saal bricht Tumult aus, im Lärm kann Avdić noch ein paar Worte sagen, dann verstummt er. "Der Autor schaute mich nur an, Antworten bekam ich keine", sagt Avdić.
Nur wenige bosnische Medien berichteten von der Veranstaltung. Kaum verwunderlich: Die Leugnung des Völkermordes von Srebrenica und anderer Kriegsverbrechen ist im Land so alltäglich, dass Medien dazu gesonderte Rubriken einrichten könnten. In vielen Orten der Republika Srpska feiern Graffitis den zu lebenslänglicher Haft verurteilten Armeeführer Ratko Mladić als Helden. Serbische Schulkinder lernen eine verklärte Geschichte der Bosnienkriege. Immer wieder finden an Orten von Kriegsverbrechen Ehrungen für die Täter statt.
Derartige Aufmärsche oder Gedenkzeremonien sind auch deshalb so häufig, weil die Leugnung von Völkermord und Kriegsverbrechen in der Republika Srpska und in Serbien Staatspolitik ist. Vor zwei Jahren ließ der bosnische Serbenführer Milorad Dodik einen offiziellen Bericht zu Srebrenica von 2004 annullieren – er sollte die Grundlage dafür sein, dass die Republika Srpska den Völkermord anerkennt. Auch in Serbien betont der Staatschef Aleksandar Vučić, dass es in Srebrenica zwar Verbrechen, aber keinen Genozid gegeben habe.
"Seit dem Kriegsende erwarten wir, dass die Republika Srpska und Serbien den Völkermord anerkennen", sagt Hasan Hasanović, der im Srebrenica-Memorial als Dokumentar arbeitet. "Zwischendurch gab es einige hoffnungsvolle Zeichen, aber jetzt sind wir wieder am Anfang."
Hasanović hat selbst den "Todesmarsch von Srebrenica" überlebt, sein Vater und einer seiner Brüder wurden ermordet. Nachdem die internationale Gemeinschaft in Srebrenica 1995 so jämmerlich versagt habe, sagt Hasanović, solle sie nun wenigstens Einfluss auf die serbischen Eliten nehmen und darauf drängen, dass diese etwas gegen Völkermordleugnung unternehmen. Doch viel Hoffnung macht er sich nicht. "Wir sind ein kleines Land, und wir sind Muslime", sagt Hasanović, "deshalb lösen die Leugnungsnarrative wohl auch keine Skandale aus."
Nedžad Avdić lebt mit seiner Frau, ebenfalls eine Überlebende von Srebrenica, und seinen drei Töchtern in bescheidenen Verhältnissen. Er hat nach dem Krieg Wirtschaftswissenschaften studiert und arbeitet in einem Zuliefererbetrieb der Automobilindustrie.
Eine staatliche Unterstützung als Überlebender hat Avdić niemals erhalten. Die Republika Srpska weigerte sich bislang, Entschädigungen für die Opfer von Srebrenica zu zahlen und der bosnische Staat unterstützt nur überlebende Frauen, die alle männlichen Familienangehörigen verloren haben, mit einer geringen monatlichen Rente.
Wie ist es eigentlich, als Überlebender in dem Ort zu wohnen, in dem der Völkermord begann? Wenn Nedžad Avdić darüber nachdenkt, ist er hin- und hergerissen. "Wir sind ein Fremdkörper hier in Srebrenica", sagt er. "Meine Töchter werden hier niemals eine Arbeit bekommen, und vielleicht werden sie sich eines Tages dafür entschuldigen müssen, dass ihr Vater überlebt hat. Wir könnten wegziehen. Aber dann würde ich mich fragen, ob ich damit nicht den Mördern das letzte Wort überlassen habe."
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