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USA – Proteste gegen Polizeigewalt: “Wir schreien seit 400 Jahren gegen eine Wand”

June 07
22:36 2020
Proteste in Detroit: "Niemand muss von einem Polizisten geschlagen werden, um zu verstehen, dass das falsch ist". Icon: vergrößern

Proteste in Detroit: "Niemand muss von einem Polizisten geschlagen werden, um zu verstehen, dass das falsch ist".

privat

Seit dem 26. Mai protestieren Menschen gegen Polizeigewalt und Rassismus in den USA. Tagszuvor war der 46-jährige Schwarze George Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz gestorben. Derek Chauvin, ein weißer Polizist, hatte neun Minuten sein Knie auf den Hals des am Boden liegenden Floyd gedrückt. Angeblich soll er "gefälschte Dokumente" in einem Supermarkt in Minneapolis verwendet haben.

Floyd erstickte.

Inzwischen protestieren Menschen in allen 50 Bundesstaaten der USA. Der SPIEGEL hat mit fünf Demonstrantinnen und Demonstranten darüber gesprochen, warum sie auf die Straße gehen und was ihre Forderungen sind.

Nakia-Renne Wallace, 23, Aktivistin aus Detroit, Michigan

Ich gehöre zu den Mitorganisatoren der Märsche in Detroit. Als ich das Video von George Floyds Ermordung sah, saß auf dem Sofa zu Hause. Ich schrie auf die Cops in dem Video ein. Ich flehte sie auf meinem Telefon an, dass sie aufhören sollen. Aber die Polizei in den USA schlachtet Schwarze ab und kommt üblicherweise damit davon.

Ein paar Tage vor dem Mord an Floyd war ein weiterer Mann getötet worden. Ahmaud Arbery wurde beim Joggen durch seine Nachbarschaft in Georgia erschossen. Eine Frau im Central Park in New York rief in derselben Woche vor laufender Handykamera die Polizei an und sagte, ein afroamerikanischer Mann bedrohe sie – obwohl dieser sie lediglich gebeten hatte, ihren Hund anzuleinen. Dann wurde eine schwarze Frau bei einer Polizeidurchsuchung in ihrem Haus getötet. All das passierte innerhalb von fünf Tagen. Jetzt ist die Zeit gekommen, um zu kämpfen.

Unsere Stadt ist es gewohnt, gegen Rassismus aufzustehen. Am Mittwoch kamen 5000 Leute zu den Demos. Wenn man einen Marsch organisiert, muss man seine Leute eng zusammenhalten. Man muss Ärzte organisieren und rechtlichen Beistand. Livestreaming ist extrem wichtig, damit die Masse dokumentieren kann, was geschieht. So sorgt man für die eigene Sicherheit.

Ich bin damit groß geworden, dass Cops unsere Gemeindemitglieder attackieren. Als schwarze Frau werde ich in diesem Land nirgendwo mit Respekt behandelt. Nicht wie ein vollständiger Mensch. Wer als Schwarzer über die Straße geht, fühlt sich wie im falschen Land. Die USA fußen auf Rassismus, Segregation und Unterdrückung. Der Präsident geht gegen seine eigenen Bürger vor. Das muss aufhören.

Fragen Sie mich nicht nach meiner persönlichen Erfahrung mit Rassismus. Wir brauchen keine Anekdoten, um danach beurteilen zu können, wer überhaupt gegen Ungerechtigkeit aufstehen darf. Meine Erfahrungen sind wichtig, aber nicht entscheidend. Niemand muss von einem Polizisten geschlagen worden sein, um zu verstehen, wie falsch das ist.“

Jalen Thompson, 17, High-School-Absolvent aus O’Fallon, Missouri

„Nachdem meine Freunde und ich die ersten Proteste im Fernsehen gesehen hatten, wollten wir etwas tun. Also posteten wir einen Aufruf zu einer Demo auf Instagram, Facebook, Snapchat und Twitter. Wir dachten, es kommen Leute, die wir kennen und unsere Eltern. Aber wenig später landete unser Aufruf auf einer Facebook-Seite mit hoher Reichweite. Er wurde hundertfach geteilt. Viele Leute schrieben, was das solle, und dass wir Gewalt in ihre Stadt bringen würden. Mein Vater holte mich dann von der Arbeit ab, obwohl ich sonst immer alleine nach Hause fahre. Er sprach mit dem Chef der örtlichen Polizei. Der hat unseren Protest unterstützt.

Als ich am Sonntag zu der Stelle kam, von der wir los laufen wollten, merkte ich: Das sind ganz schön viele Leute – am Ende wohl mehr als 1500. In meiner Stadt wurde noch nie in dieser Form gegen Rassismus protestiert. Hier leben vor allem Weiße, auf meine Schule gehen vor allem Weiße, mein Freundeskreis ist größtenteils weiß. Es wird kaum über Rassismus gesprochen. Aber ich spüre ihn. Ich habe zwar weniger die Angst, angegriffen zu werden. Aber ich wurde schon im Auto angehalten, man hat in der Schule vermutet, dass ich jemand anderen bestohlen habe.

Meine Eltern haben mir beigebracht, wie ich mich verhalten soll, wenn ich Polizisten begegne. Dass ich respektvoll mit ihnen sprechen soll. Dass, wenn sie mich im Auto anhalten, meine Hände jederzeit sichtbar sein sollten. Dass, wenn sie mir sagen, ich solle meine Brieftasche rausholen, ich trotzdem frage: ‚Ich hole jetzt meine Brieftasche heraus, in Ordnung, Officer?‘ Ich lerne das, so wie es jeder junge schwarze Mann in den USA von seinen Eltern lernt. Es war immer Thema bei uns zu Hause, so lange schon, dass ich mich überhaupt nicht mehr dran erinnern, seit wann.

Deshalb sind diese Proteste so wichtig. Damit wir darüber sprechen, auch an Orten wie in meiner Stadt.“

Doug Pagitt, 56, Pastor aus Minneapolis, Minnesota

„Ich lebe fünf Kilometer von der Stelle entfernt, an der George Floyd getötet wurde. Als ich am Montag dort war, lagen unzählige Blumen auf dem Boden. Menschen malten Kunstwerke auf den Asphalt. Es ist ein richtiger Schrein entstanden. In der Nähe grillten Leute, Musiker spielten, Aktivisten hielten Reden und es gab Helfer, die Wasser verteilen. Fast fühlt es sich an wie bei einem Straßenfest. Aber sehr ehrwürdig und angemessen.

Wir haben wunderbare Gesetze in Minnesota, die trotzdem nicht verhindern, dass das Polizeisystem der Stadt seine Offiziere bei Fehlverhalten schützen kann. Strukturelle Veränderungen müssen dringend her. Das ist jetzt die wichtigste Aufgabe. Gerade an der Todesstelle waren viele Demos sehr intensiv. Ich möchte hier Zeuge sein und verhindern helfen, dass die Polizei zu brutal gegen die Demonstranten vorgeht.

Präsident Trump hat in der vergangenen Woche in Washington friedlich Demonstrierende aus dem Weg räumen lassen, damit er vor einer Kirche eine Bibel für die Kameras hochhalten konnte. Es fällt mir schwer auszudrücken, auf wie vielen Ebenen das falsch ist. Ich bin mit dem Bischof der dortigen Diözese befreundet, habe selbst viele Proteste um diese Kirche herum mitorganisiert. Jeder weiß, dass die St John's Church in Washington nicht für ein politisches Statement des Präsidenten missbraucht werden darf.

Dass er es trotzdem getan hat und eine Bibel dabei hochgehalten hat, war ein wahrer Akt der Verhöhnung. Ich hoffe, dass diese Proteste Millionen Amerikaner noch einmal klar machen, wie unfähig Donald Trump für das Amt des Präsidenten ist.“

Kevin Rawls, 31, Fotograf aus Houston, Texas

„Ich bin in Austin, Texas aufgewachsen. Ich war in meiner Schulzeit immer der einzige Schwarze in meiner Klasse. Die Schwarzen, die ich kannte, haben mir gesagt: Du redest wie ein Weißer, du klingst wie ein Weißer. Du bist nicht schwarz genug. Und die Weißen sagten mir: Du redest wie ein Weißer, du willst gern dazu gehören. Weil jeder, der sich gewählt ausdrücken kann gleichgesetzt wird mit Weißsein. Aber anstatt über den Rassismus, den ich erlebt habe, zu reden, habe ich geschwiegen. Ich habe mit meinem schwarzen Freundeskreis nicht über diese Dinge gesprochen. Wir sagten uns: Wir sind am Leben, wir werden nicht umgebracht.

All das kam zurück, als ich ein Video von den Protesten sah: Darin diskutieren zwei schwarze Männer – einer ist um die 50, der andere ist 31. Der jüngere bringt einen 16-Jährigen ins Bild und sagt zu ihm: ‚Du bist 16. Der Typ hier ist 50 – was er damals gemacht hat, um gegen all die Gewalt zu protestieren, hat nichts gebracht. Denn ich bin 31 und wir protestieren immer noch. Also was auch immer wir tun, es funktioniert nicht. Wir brauchen dich und deine Generation – ihr müsst euch eine bessere Antwort überlegen.‘

Als ich das gesehen habe, musste ich weinen – weil es all die Erfahrungen hochgeholt hat, die ich als junger schwarzer Mann in den USA gemacht habe. Und ich dachte: Jetzt ist die Zeit, darüber zu sprechen. Noch vor einem Monat wäre all das nur eine weitere Geschichte gewesen. Die Leute hätten mich gefragt: Warum kommst du jetzt damit um die Ecke? Aber jetzt ist die Zeit. Also habe ich meine Erfahrungen auf Facebook und Instagram geteilt und plötzlich schreiben mir Leute: ‚Mir geht es genauso.‘ Und es macht mich so traurig, dass wir das seit Jahren mit uns herumtragen und erst jetzt zusammenkommen und unsere Geschichten teilen.

Wir schreien seit 400 Jahren gegen eine Wand. Am Anfang haben wir nur gepiepst, dann gewimmert. Dann war es ein gedämpftes Sprechen oder Flüstern. Dann haben wir gerufen. Und jetzt schreien wir, so laut wir können. Und ich habe das Gefühl, jetzt endlich ist da nicht mehr nur diese Wand, sondern eine Tür. Und wir öffnen sie nicht einfach nur, sondern wir treten sie ein. Und egal wer da durch die Tür kommt, wird mir zuhören, weil ich habe etwas zu erzählen – ich habe seit sehr langer Zeit etwas zu erzählen.“

Samantha Blakely, 26, Mitarbeiterin bei der NGO Planned Parenthood aus Mobile, Alabama

„Die Art und Weise, auf die George Floyd zu Tode kam, hat mich völlig geschockt. Ich bin als schwarzes Mädchen im Süden Alabamas aufgewachsen. Ich war über das Level an Hass nicht überrascht, auch nicht darüber, dass George Floyds Leben entwertet wurde. Aber er flehte auf der Straße um sein Leben und ein Polizist tötete ihn mit dem Gewicht seines Körpers. Wenn der Aufschrei nicht so groß gewesen wäre, wäre auch dieser Polizist davongekommen. Tagelang war ich wie gelähmt.

Rassismus wird nicht schlimmer, er wird heute nur gefilmt – das hat der Schauspieler Will Smith gesagt. Zum ersten Mal auf die Straße ging ich fünf Tage nach dem Mord. Wir waren etwa 600 Menschen in Mobile. ‚Ich kann nicht atmen!‘, ‚Genug ist genug!‘, ‚Sagt ihre Namen!‘, brüllten wir.

Als kleines Mädchen hörte ich jeden Tag: ‚Oh, du bist wirklich smart für eine Schwarze.‘ ‚Du bist aber nett für ein schwarzes Mädchen.‘ Immer schwang mit, dass Schwarze eigentlich faul und hässlich seien. Meine Reaktion darauf war, dass ich überall glänzen wollte. Erst später wurde mir klar, dass ich nichts dafür kann, dass andere rassistisch waren.

In den USA ist die Ungerechtigkeit ins System geschrieben. Niemand spricht mehr von Segregation, aber die Schwarzen wohnen immer noch auf einer Seite der Stadt, die Weißen auf der anderen. Dort gibt es Gehsteige und Büchereien, während es auf der anderen Seite nur Billigshops gibt. Investoren kaufen zu Spottpreisen schwarze Viertel auf, bauen Appartements, stellen ein Starbucks und ein Yogastudio hin und machen viel Geld. Das ist die neue Unterdrückung, an Stelle der Sklaverei.

Alles in diesem Land dreht sich darum, Glück zu erreichen – aber nur ein Teil der Gesellschaft hat die Möglichkeit dazu. Dieser Teil will bestimmen, wo schwarze Menschen leben, was sie mit ihrem Körper anstellen – ob Frauen etwa eine Abtreibung bekommen. Sie werfen uns vor, dass wir keinen Zugang zu Bildung oder Gesundheitsversorgung haben. Wir bekommen keine Jobs, wenn unsere Namen afroamerikanisch klingen. Wer Lachanda statt Jennifer heißt, kann nicht arbeiten. Der Rassismus ist so tief im System verankert, dass viele ihn kaum bemerken.“

Icon: Der Spiegel

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