Ukraine meldet weitere Geländegewinne bei Gegenoffensive
Im Kampf gegen die russischen Besatzer macht die Ukraine offenbar weiter Fortschritte. Vor allem von Charkiw aus stoßen die Truppen vor. Präsident Selenskyj sagt: »Der Winter kann zur schnellen Befreiung des Landes führen.«
Die Ukraine hat nach eigenen Angaben am Sonntag weitere russisch besetzte Gebiete im Osten des Landes zurückerobert. »Die Befreiung von Ortschaften in den Distrikten Kupjansk und Isjum ist im Gang«, schrieben ukrainische Streitkräfte in einem Lagebericht.
Nach Angaben der Heeresleitung weiten die Streitkräfte ihre Offensive vom Großraum Charkiw im Nordosten des Landes aus. Geländegewinne habe es vor allem um die zweitgrößte ukrainische Stadt gegeben, wo die Streitkräfte bis zu 50 Kilometer an die russische Grenze herangerückt seien, teilte der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, am Sonntag mit. »Von Charkiw aus sind wir nicht nur Richtung Süden und Osten vorgerückt, sondern auch nach Norden.«
Die Kremltruppen zogen bereits aus Krupjansk und Isjum ab, danach folgten weitere Orte wie Tschkalowske und Bilohoriwka. Das zeigen Bilder von vor Ort und Berichte russischer Kriegsblogger. Aus verschiedenen Orten wie Lyssytschansk und Liman werden Kämpfe gemeldet. Diese Angaben lassen sich nur schwer überprüfen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj pries den russischen Rückzug aus Isjum gut 120 Kilometer südöstlich von Charkiw als Durchbruch in dem seit sechs Monaten andauernden russischen Angriffskrieg. Dieser Winter könne weitere schnelle Geländegewinne bringen für die Ukraine, vor allem wenn die Streitkräfte weiterhin mit schweren Waffen versorgt würden. Der Fall von Isjum ist die größte Niederlage für das russische Militär, seit es aus dem Gebiet um die Hauptstadt Kiew zurückgeschlagen wurde.
»Ich glaube, dieser Winter ist der Wendepunkt, und er kann zur schnellen Befreiung der Ukraine führen«, sagte Selenskyj am späten Samstagabend. »Wir sehen, wie sie in einige Richtungen fliehen«, so der Präsident mit Blick auf die russischen Streitkräfte. »Wenn wir noch ein bisschen stärker mit Waffen wären, würden wir noch schneller vorankommen.«
Offiziell hat die ukrainische Regierung die Wiedereinnahme von Isjum bislang nicht verkündet. Aber Selenskyjs Stabschef Andrij Jermak veröffentlichte auf Twitter ein Foto von ukrainischen Truppen vor der Stadt und fügte ein Trauben-Emoji hinzu. »Isjum« heißt im Russischen und im Ukrainischen »Rosinen«.
Nach ihrer Niederlage in der Region Charkiw ziehen sich russische Truppen Angaben aus Kiew zufolge auch aus Teilen des südlichen Gebiets Cherson zurück. In einigen Orten hätten die Besatzer dort bereits ihre Positionen verlassen, teilte der ukrainische Generalstab am Sonntagabend mit. In der Stadt Nowa Kachowka hätten die russischen Soldaten ein Krankenhaus geräumt, um sich darin nun selbst zu verschanzen, hieß es weiter. Unabhängig überprüft werden konnten diese Angaben nicht. Von russischer Seite gab es zunächst keine Reaktion.
Auf dem Weg nach Luhansk?
Der Militärexperte Oleh Schdanow sagte in Kiew, die Gewinne der Ukraine könnten den Weg ebnen in die Region Luhansk, die von Russland seit Anfang Juni gehalten wird. Luhansk, das zusammen mit der Region Donezk den industriell geprägten Donbass der Ukraine bildet, liegt rund 340 Kilometer südöstlich von Charkiw. Es war von Anfang an das erklärte Ziel Russlands, vor allem dieses Gebiet einzunehmen, das teilweise bereits seit 2014 von prorussischen Separatisten kontrolliert wird.
Ukrainische Beamte lobten das »erstaunliche« Tempo der Gegenoffensive. Ein ukrainischer Armeechef sprach am Sonntag von 3000 Quadratkilometern Fläche, die die Ukraine von den russischen Truppen zurückerobert habe. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte zuvor in seiner täglichen Videobotschaft von »2000 Quadratkilometern Gebiet« gesprochen. »In den vergangenen Tagen hat uns die russische Armee ihre beste Seite gezeigt – ihre Rückseite«, sagte Selenskyj.
Allerdings meldete das Verteidigungsministerium in Moskau am Sonntagmittag Angriffe der russischen Streitkräfte auf Stellungen der ukrainischen Truppen in der Region Charkiw. Die Angriffe erfolgten durch Luftlandetruppen, Raketen und Artillerie, teilte das Ministerium in sozialen Medien mit.
Baerbock verspricht weitere Hilfe
Angesichts der Entwicklungen dringt die ukrainische Regierung zunehmend auf die weitere Lieferung schwerer Waffen aus dem Westen. Außenminister Dmytro Kuleba bekräftigte dies auch nach einem Treffen mit der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock am Samstagabend in Kiew. Die Gegenoffensive zeige, dass die Ukraine Russland besiegen könne, sagte Kuleba bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Baerbock. Je mehr Waffen die Ukraine erhalte, desto schneller werde sein Land gewinnen.
Baerbock sicherte der Ukraine weitere militärische Hilfe zu, mit Blick auf die Gegenoffensive schloss sie dabei auch die Lieferung von Kampfpanzern westlicher Bauart nicht aus. »Ich weiß, dass die Zeit drängt«, sagte Baerbock. »Die nächsten Wochen und Monate werden entscheidend.«
Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko bat die Bundesregierung konkret um die Lieferung von Leopard-Panzern. »Um unsere Soldaten besser zu schützen und auszustatten, braucht die Ukraine gerade jetzt dringend weitere Waffenlieferungen«, sagte er zu »Bild«.
AKW Saporischschja vom Netz genommen
Sorge bereitet weiterhin die Lage am Atomkraftwerk Saporischschja im Südosten der Ukraine. Der Betrieb des von russischen Truppen besetzten AKWs ist nach Angaben des staatlichen Betreibers mittlerweile vollkommen eingestellt worden. Auch der sechste und damit letzte Block der Anlage sei vom Stromnetz genommen worden, teilte Energoatom mit.
Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA erklärte am Sonntagmittag aber, die Stromzufuhr für das Kraftwerk sei wieder hergestellt. Am größten AKW Europas kommt es immer wieder zu Beschuss, wofür sich Russland und die Ukraine gegenseitig verantwortlich machen.
Baerbock griff in diesem Zusammenhang Russlands Präsident Wladimir Putin scharf an. Putin setze die gesamte Region und auch seine Soldaten der Gefahr eines nuklearen Zwischenfalls aus. »Er macht ein AKW zum Kriegspfand in einem Kriegsgebiet«, sagte Baerbock. »Russland muss dieses Spiel mit dem Feuer sofort beenden.« Die Kämpfe rund um das AKW schüren die Angst vor einer Nuklearkatastrophe wie 1986 in Tschernobyl.