Stuttgart: Polizei plant Stammbaumforschung zu Tatverdächtigen – Kritik aus der Politik

Ausschreitungen in Stuttgart in der Nacht zum 21. Juni
Foto: Julian Rettig/ dpa
Die Aufarbeitung der Krawalle in der Stuttgarter Innenstadt beschäftigt weiter die Behörden – das Vorgehen sorgt indes für Irritationen. Laut einem Bericht der "Stuttgarter Nachrichten" soll der Stuttgarter Polizeipräsident Franz Lutz am Donnerstagabend im Gemeinderat angekündigt haben, er werde erwägen, die Stammbäume der Tatverdächtigen zu veröffentlichen. Lutz teilte dies mit, nachdem die CDU einen Antrag zum aktuellen Ermittlungsstand eingefordert hatte. Er kündigte offenbar ebenfalls an, bei Tatverdächtigen mit deutschem Pass mithilfe der Landratsämter deutschlandweit Stammbaumrecherche betreiben zu wollen.
Bei einigen Stadträten sorgte dies bereits für Kritik. "Wie viele Generationen muss man in Stuttgart leben, um als Bürger dieser Stadt anerkannt zu werden", fragt der Grünenstadtrat Marcel Roth. Auch der Linkenstadtrat Christoph Ozasek sieht etwaige Stammbaumrecherchen als problematisch an: "Die Äußerungen von Polizeipräsident Lutz offenbaren ein Weltbild, das mit den gelebten Werten in Stuttgart in offenem Konflikt steht."
"Ein Skandal, der umgehend gestoppt werden muss"
Nun kommt Kritik auch auf Bundesebene. Der Vorsitzende der Linksfraktion Dietmar Bartsch sagt dem SPIEGEL: "Stammbaumforschung ist Rassismus pur, ein Skandal, der umgehend gestoppt werden muss. Dass jemand mit einem solchen Gedankengut Polizeipräsident werden kann, sollte auch beim Oberbürgermeister und beim Ministerpräsidenten alle Alarmglocken klingeln lassen."
Der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert sagte dem SPIEGEL: "Die Ankündigung des Stuttgarter Polizeipräsidenten, die Stammbäume von Tatverdächtigen polizeilich ermitteln zu lassen, ist ein erneuter Hinweis darauf, dass wir im Interesse aller Beteiligten dringend Erkenntnisse über die Verbreitung solch indiskutabler Praktiken brauchen. Ich empfinde es als verstörend, dass Ministerpräsident Kretschmann, Innenminister Stobl und Oberbürgermeister Kuhn auch drei Tage nach Bekanntwerden dieser polizeilichen Praktik sprachlos bleiben. Auch in der Sommerpause ist politische Führung gefragt."
Saskia Esken, SPD-Chefin, hat auf dem Kurznachrichtendienst Twitter den Artikel der "Stuttgarter Nachrichten" geteilt und nur mit dem Satz kommentiert: "Das verstört mich nachhaltig."
Der Grünenpolitiker Cem Özdemir sagt den Zeitungen der Funke Mediengruppe: "Mir fehlen immer noch die Worte. Der Polizeipräsident sollte schnell eingestehen, dass er keinen guten Tag hatte, als der den skurrilen Vorschlag gemacht hat, und ihn sofort aus der Welt schaffen. Jeder darf gern Stammbaumforschung über die eigenen Vorfahren in der Freizeit betreiben, aber zu den Aufgaben der Polizei gehört es in Deutschland aus guten Gründen nicht mehr."
Der Parteivorsitzende von Die Linke, Bernd Riexinger schreibt auf Twitter: "Vor dem Gesetz sollten alle gleich sein. Das sieht offenbar weder die #CDU noch der Stuttgarter Polizeipräsident so. Eine Straftat ist nur dann eine Straftat, wenn der Täter Migrant ist, oder warum braucht es eine #Stammbaumforschung?"
"Falls das stimmt: Gehts noch? Transparenz über Nationalitäten gern, aber Deutsche erster und zweiter Klasse gibt es nicht. Und mit der Aufklärung von Straftaten hat es nichts zu tun. Dieses Gift muss raus aus den Köpfen!", schreibt Johannes Vogel, Generalsekretär der FDP Nordrhein-Westfalen und Mitglied des FDP-Bundesvorstandes.
Der Landesdatenschutzbeauftragte Baden-Württembergs Stefan Brink hält die Ermittlungen der Stuttgarter Polizei zumindest für überprüfungswürdig. "Aus unserer Sicht ist eine rechtliche Grundlage für solche Nachforschungen zunächst nicht erkennbar", sagt er den Stuttgarter Nachrichten. Für eine fundierte Bewertung benötige er aber nähere Auskünfte der Polizei.
"Die Feststellung der Lebens- und Familienverhältnisse ist ein Teil der polizeilichen Ermittlungen, das ist eine Selbstverständlichkeit in einem Strafverfahren. Der Begriff 'Stammbaumforschung' ist da fehl am Platze", teilt die Landesregierung Baden-Württemberg auf Twitter mit. In einer Pressemitteilung des Polizeipräsidiums Stuttgart heißt es, "in einzelnen Fällen [wird] die Nationalität der Eltern, und nur der Eltern, von Tatverdächtigen durch Anfragen beim Standesamt erhoben, um zu klären, ob ein Migrationshintergrund gegeben ist. Diese Ermittlungshandlung wird in der aktuellen Mediendarstellung als "Stammbaumforschung" wiedergegeben. Dies ist nicht korrekt." Auch Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) verteidigt das Vorgehen als Selbstverständlichkeit in einem Strafverfahren und sagt: "Unsere Polizei arbeitet professionell und korrekt."
Auch Jens Lauer, Sprecher des Polizeipräsidiums Stuttgart, begründete die Pläne auf Nachfrage der "Stuttgarter Zeitung" außerdem damit, dass es ein großes öffentliches Interesse an der Aufklärung der Straftaten gebe. Die "grundlegende Erhebung personenbezogener Daten" bemesse sich an der "Schwere des Delikts", aber auch daran, dass "ganz Deutschland auf den Fall blickt".
Der Pressesprecher der Stadt Stuttgart, Sven Matis, scheint dies ein wenig anders zu sehen. "Der Begriff gehört nicht zum Wortschatz" der Stadt Stuttgart – Matis machte auf Twitter weiterhin darauf aufmerksam, dass weder er noch weitere Zuhörer sich daran erinnern könnten, den Begriff im Gemeinderat so gehört zu haben.
In der Nacht zu Samstag ist es in Stuttgart erneut zu Zusammenstößen zwischen gewaltbereiten Jugendlichen und der Polizei gekommen. Mehr als 200 Beamte waren im Einsatz. Bereits in der Nacht zum 21. Juni kam es zu schweren Auseinandersetzungen. Menschen hatten Schaufenster zerstört und Geschäfte ausgeraubt. Nach Angaben der Polizei waren damals 400 bis 500 Personen daran beteiligt – oder hatten dabei zugeschaut. Über die Hintergründe der Auseinandersetzung und die genaue Anzahl ist bislang nichts bekannt.
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