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Studieren in den USA: Das Ende eines großen Traums

July 11
10:41 2020
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Celal Sipahi in den USA: "Ich habe zuerst an Fake News geglaubt"

Foto: privat

Sein Leben in Deutschland gibt es nicht mehr. Celal Sipahi, 31, hat seinen Job bei der europäischen Zentralbank gekündigt, seine Wohnung in Frankfurt aufgegeben und einen Kredit über 50.000 Euro aufgenommen, um sich seinen Traum zu erfüllen: Ein Masterstudium in den USA. Monatelang hatte Sipahi darauf hingearbeitet, sich auf Auswahltests vorbereitet, Bewerbungen formuliert, Empfehlungsschreiben eingeholt. Dann kam die Zusage von der Columbia University in New York.

Seit einem Jahr wohnt Sipahi mit seiner Verlobten auf dem Campus. Bis zum Abschluss hat er noch ein Jahr vor sich, danach wollte er in den USA bleiben. Den amerikanischen Traum leben – und Geld verdienen, um den Kredit abzuzahlen. Rund 200.000 Euro kostet sein Studium inklusive Gebühren, den größten Teil finanziert Sipahi über Stipendien. "Das war ein gigantischer Plan", erzählt er dem SPIEGEL im Videochat. Während des Gesprächs fasst er sich oft an den Kopf. Fassungslos über das, was ihm gerade passiert. Sein Plan könnte kurzfristig scheitern, ohne dass Sipahi irgendwie schuld wäre.

Online-Lehre zwecks Infektionsschutz

Einige hunderttausend ausländische Studierende in den USA trifft eine Anordnung, die die Einwanderungsbehörde ICE Anfang der Woche verkündete. Ausländische Studierende mit F1-Visum müssen die USA verlassen, wenn ihre Unis im kommenden Semester wegen der Corona-Pandemie nur Online-Unterricht anbieten. Oder an eine Uni wechseln, die zumindest auf ein Hybridmodell setzt, einen Mix aus Fern- und Präsenzunterricht. Zuvor hatte unter anderem die Harvard-Universität mitgeteilt, reine Online-Lehre anzubieten, zwecks Infektionsschutz.

Die ICE-Ankündigung hat Sipahi kalt erwischt. "Ich habe zuerst an Fake News geglaubt", sagt er. Erst nach und nach wurde ihm klar, wie ernst die Lage ist: "Wenn ich die USA wirklich verlassen soll, bricht mir mein gesamtes Einkommen weg und ein Großteil der Kredite wäre sofort fällig. Das wäre ein Albtraum."

So geschockt wie Sipahi haben viele Bildungsakteure auf die neuen Leitlinien der Administration von Präsident Donald Trump reagiert, in den USA – und in Deutschland. Seit Jahren sind die Vereinigten Staaten Sehnsuchtsort junger Menschen aus fast allen Ländern der Welt und einer der beliebtesten Spots zum Studieren, auch für viele Deutsche. Wer hier einen Studienplatz ergattert hat, muss sich in der Pandemie allerdings mit wilden Regeln herumschlagen – bis hin zum angedrohten Rauswurf.

"Damit hat niemand gerechnet"

Benedikt Brisch leitet das New Yorker Büro des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes (DAAD). "Diese neue Visa-Regelung für internationale Studierende in den USA hat uns überrascht." Er habe den Eindruck, dass sie bei sehr vielen deutschen und anderen international Studierenden in den USA "Sorgen und Verunsicherung" ausgelöst habe.

Rund 20 Millionen Studierende gibt es in den Vereinigten Staaten, davon stammt rund eine Million aus dem Ausland. Vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie hätten rund 9000 Deutsche an US-Unis studiert, sagt Brisch. Als die USA stärker von der Ausbreitung der Krankheit getroffen wurde und zudem unklar war, ob und wann die Rückreise nach Deutschland überhaupt noch möglich ist, hätten viele das Land verlassen, wollten in Kürze aber wieder zurückzukehren. Etliche hoffen, dass ihr Traum irgendwie weitergeht. Zum Beispiel Jeremias Thiel.

Weil er ein Buch geschrieben hat, das er in Deutschland promoten wollte, und aus Sorge vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus, reiste der 19-Jährige Ende März in seine Heimatstadt Kaiserslautern. Thiel hatte Sorge, dass er sonst nicht mehr aus den USA herauskommt. Er kam in einer WG unter, suchte einen Nebenjob und studierte bis zum Ende des Wintersemesters online. "Das ging gut, aber ich bin an meine Grenzen gekommen", erzählt der Student im Videochat. Zwischen Kaiserslautern und Minnesota, wo Thiel am St. Olaf-College studiert, liegen sieben Stunden Zeitverschiebung.

"Meine Video-Vorlesungen gingen oft bis Mitternacht, danach habe ich meist bis ein oder zwei Uhr mit meiner Freundin in den USA telefoniert. Morgens musste ich arbeiten, auch online. Ich saß fast rund um die Uhr vor dem Computer." Ein digitales Doppelleben, kein Dauerzustand. Pünktlich zu Beginn des neuen Semesters Mitte August wollte der 19-Jährige zurück in die USA reisen, aber das ging nun nicht einfach so. Die Einreise aus Deutschland ist derzeit nur über ausgewählte Drittländer erlaubt.

Thiel erzählt seine Geschichte deshalb aus einem Hotelzimmer in der Türkei. Zwei Wochen muss er hier warten, bis er weiter in die USA fliegen darf, um dort sein Studium fortzusetzen. Am Mittwoch geht sein Flug. Von Kaiserlautern über Istanbul nach Minnesota, eine Odyssee. Völlig absurd, findet Thiel das, und eigentlich hatte er gedacht, noch verrückter könne es nicht werden. Aber seit der Ankündigung von Montag ist unklar, wie lange der Student in den USA bleiben darf.

Thiels College setzt nach der ICE-Ankündigung ebenso wie die Columbia University, an der Sipahi studiert, im neuen Semester auf ein Hybridmodell, aber das beruhigt die beiden deutschen Studenten nur mäßig. "Was ist, wenn die Pandemie noch schlimmer wird und sich die Uni doch noch für einen Lockdown und reine Online-Lehre entscheidet. Muss ich dann gehen?" Thiel spricht von einer "unglaublich uncoolen Situation". "Ich bin bis oben hin sauer", sagt er. "Wir studieren mit einer riesigen Unsicherheit."

Simon Conrad, 19, weiß nicht einmal, ob er zum neuen Semester überhaupt wieder an seine Universität in Missouri zurückkehren kann. Bisher hängt er bei seiner Familie in Berlin fest. Conrad hat zwar ein gültiges Studentenvisum und seine Uni will einen Mix aus Fern – und Präsenzunterricht anbieten. Aber er scheut den Umweg über Drittstaaten – und will seinen amerikanischen Traum im Zweifel erst mal aus Deutschland fortsetzen. Online.

"Das ist natürlich nicht das Gleiche", sagt Conrad, der das Campus-Leben an der Hannibal LaGrange Universität vermisst, wo er einen Bachelor in "Exercise Science" machen will: genauer: Fußball. Seine Mannschaft mit 28 Spielern aus verschiedensten Ländern sei für ihn "wie eine Familie", sagt der 19-Jährige. Anfang August soll das Training beginnen. Möglicherweise erst einmal ohne Conrad.

"Nahezu aussichtslos, ein Visum zu bekommen"

Wie groß der Frust der Studierenden ist, zeigt sich an einer Online-Petition gegen die neuen ICE-Leitlinien. Im Minutentakt unterschreiben Unterstützer. Am Freitag lag die Gesamtzahl bei mehr als 370.000. Gestartet hat sie Lea Thome, 20, aus Duisburg, die seit knapp drei Jahren in Rochester im US-Bundesstaat New York studiert. Sie hat schon in China und Osteuropa gelebt, internationale Schulen besucht und war so "wütend und traurig", dass sie "ein Zeichen setzen wollte".

Offen ist noch, wie sich all diese Querelen auf die USA als Studienstandort auswirken. Alexandra Michel von der Vermittlungsorganisation "College Contact fürchtet, die ICE-Neuregelung könne eine "fatale Signalwirkung" haben. In der Coronakrise habe ihr Unternehmen aufgrund der Reisebeschränkungen aber ohnehin nur wenige Studierende ins Ausland geschickt.

Der Traum vom Studium in den USA könnte derzeit schnell ausgeträumt sein. Lässt sich überhaupt noch jemand darauf ein? "Trotz allem sind die Vereinigten Staaten bei uns immer noch stark nachgefragt", sagt Michel. "Die meisten Bewerber hätten aber noch vor der ICE-Ankündigung entschieden, ihr Studium in den USA auf 2021 zu verschieben, weil monatelang kein Visum zu bekommen war.

Das ist auch die Erfahrung von Sonja Pucher vom US-Visa-Service "The American Dream". "Für alle, die jetzt in den Startlöchern stehen, ist es nahezu aussichtslos, ein Studentenvisum für das kommende Semester zu bekommen", sagt sie. Dabei wäre jetzt im Frühsommer eigentlich Hochsaison, aber die US-Behörden hätten solche Termine bisher abgesagt.

Ein persönlicher Verlust an Erfahrungen für die Bewerber und möglicherweise auch ein finanzieller Einbruch für deutsche Vermittlungsorganisationen. Wie hoch die Einbußen langfristig ausfallen könnten, sei jetzt noch nicht absehbar, sagt Pucher.

Dass der jüngste Schachzug der Einwanderungsbehörde politisch motiviert ist, darin sind sich viele Bildungsexperten in den USA einig. Für einige passt es zu Trumps Agenda, die legale Einwanderung in die USA einzudämmen. Andere glauben, dass der Präsident im Wahlkampf signalisieren will: Wir kehren trotz Corona zurück zur Normalität. Und das obwohl es in den vergangenen Tagen Rekorde bei der Zahl der Neuinfektionen gab.

Es wirke, als wolle die Regierung bewusst Druck ausüben, damit die Unis ab Herbst wieder den Präsenzunterricht einführen, und zwar "ohne Rücksicht auf den Gesundheitsschutz von Studierenden, Dozenten und anderen Uni-Mitarbeitern", empörte sich Harvard-Präsident Lawrence Bacow in einer Mitteilung. "Diese Neuregelung kam völlig aus dem Nichts, ihre Grausamkeit wird nur durch ihre Rücksichtslosigkeit übertroffen."

Tatsächlich waren die Visa-Regeln für ausländische Studierende in den USA schon immer streng. Wer nur Online studieren wollte, durfte nicht einreisen oder im Land bleiben. Wegen der Pandemie gab es Ausnahmeregelungen, die nun zurückgenommen wurden, wie ICE erklärte.

Ein Trost für die Studierenden: "Viele haben uns gesagt, dass ihre Gasthochschulen sich stark für sie einsetzen", sagt Brisch. Alice Morath, 27, deutsche BWL-Studentin in Harvard weiß, dass ausländische Studierende ein wirksames, politisches Druckmittel sein können. Laut dem Institut of international Education tragen sie mehr als 40 Milliarden Dollar zur US-Wirtschaft bei. Dass sich Moraths Fakultät für ein Hybridmodell entschieden hat und sie Unterricht vor Ort haben kann, freut die Studentin aus München. Einerseits. Andererseits denkt sie an Uni-Mitarbeiter, die Kinder oder Eltern aus Risikogruppen haben. "Ich fände Online-Lehre deshalb ok. Aus Rücksicht."

Wie die Sache ausgeht, wird vermutlich am 6. November bei der Präsidentschaftswahl entschieden – oder vor Gericht. Die Universität Havard und das Massachusetts Institute for Technology wollen prüfen, ob die ICE-Verfügung überhaupt rechtens ist. Die Elite-Unis haben die Trump-Regierung verklagt.

Icon: Der Spiegel

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