Steigende Inflation: Die Frau hinter #ichbinarmutsbetroffen
13,8 Millionen Menschen gelten als armutsgefährdet, für sie geht es in der Krise um die Existenz. Anni W. hat ihnen mit einem Hashtag auf Twitter eine Stimme gegeben. Doch nicht nur sie bezweifelt, dass sie gehört wird.
Fast auf den Tag genau drei Monate nachdem sie den Tweet in ihr Handy getippt hat, an einem Donnerstag im August, hat Anni W., die Frau, deren Namen inzwischen sogar der Kanzler schon einmal gehört hat, noch 60 Euro auf ihrem Konto.
Das muss reichen. Für 14 Tage, an denen sie und ihr Sohn essen müssen, sich kleiden, sich fortbewegen und Rechnungen bezahlen. Sie steht in ihrer Küche und brät 400 Gramm abgelaufenes Hähnchenfleisch, »Innenfilets aus der Brust geschnitten«. Mindesthaltbarkeit: 1. Februar 2022. So steht es auf der Packung. Daneben ein großer neonfarbener Aufkleber: »–30 %«.
In der »Tagesschau« am Mittag hat der Sprecher verkündet, dass die Inflation im Euroraum auf einem Rekordhoch sei, bei 8,9 Prozent im Juli, und insbesondere in Deutschland noch weiter steigen werde, bis in den zweistelligen Bereich. Anni W. schiebt das aufgetaute Fleisch in der Pfanne hin und her und sagt, sie kaufe Fleisch nur noch kurz vor Verfallsdatum und friere es dann ein. »Anders kann ich es mir gar nicht mehr leisten.«
Anni W. lebt in Nordrhein-Westfalen, in Voerde, einer kleinen Stadt am Niederrhein, in einer »Schimmelwohnung«, wie sie sagt. Drei Zimmer auf 67 Quadratmetern. An der Zimmerdecke, über dem Bett ihres Sohnes Benjamin*, breitet sich ein nasser Fleck aus wie Aquarellfarbe auf einem Blatt Papier. Ihre zwölfjährige Tochter lebt seit sechs Monaten bei ihrem Vater. »All You Need Is Love«, steht auf einer Leinwand über der Küchentür; es klingt wie eine trotzige Behauptung.
Ein erstes Treffen hat sie abgesagt. Sie schrieb eine SMS: »Es ist mir alles zu viel gerade.«
Wenn man dann ein paar Wochen später doch bei ihr im Wohnzimmer sitzt, spürt man: Da ist eine große Entschlossenheit. Gleichzeitig auch Erschöpfung. Sie redet mal laut und bestimmt, dann wieder geht sie auf den Balkon und braucht eine Pause.
Seit der Sache mit dem Hashtag vergeht kaum ein Tag, an dem sich Anni W. nicht öffentlich mit ihrer Armut auseinandersetzt. Sie twittert täglich darüber, sie saß in Talkrunden mit Experten, stand auf Demos, wurde mit ihrem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen von ihrem Sofa in NRW aus unverhofft zur Begründerin einer Bewegung von Menschen, die sich das Leben in Deutschland kaum noch leisten können.
Und das sind viele: 13,8 Millionen Menschen in diesem Land gelten laut einem Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes als armutsgefährdet, jedes fünfte Kind.
Während der Bundesfinanzminister von »Gratismentalität« spricht, schreiben unter Anni W.s Hashtag Arbeitslose, Geringverdienerinnen, Studenten, Rentnerinnen darüber, wie es ist, wenn man nicht mehr weiß, wie man seinen Kühlschrank füllen soll. Wie geht es ihnen im Inflationssommer 2022?
In der Ferne, hinter ihrer Straße, erkennt man das alte Steinkohlekraftwerk der Stadt, einen Kühlturm, drei Schornsteine, lange stillgelegt, so wie Anni W.s Arbeitsleben. Nicht weil sie es so will. Anni W. sagt, sie würde gern wieder arbeiten, bei der Post beispielsweise. Aber Anni W. ist krank, sie leidet an Arthrose in der Lendenwirbelsäule und seit vielen Jahren unter Depressionen.
Es gibt Tage, sagt sie, an denen könne sie nichts tun, auch nicht einkaufen oder kochen. Dann reicht es nur noch für Konserven oder Tiefkühlpizzen. »Gehen Sie doch mal spazieren, an die frische Luft«, habe ihr ein Sachbearbeiter im Jobcenter gesagt, »dann wird das schon.« Aber es wurde nicht. Und nun steht sie hier in ihrer Küche, und die steigende Inflation schiebt sie mit jedem Prozent weiter an den Rand.
»Das macht was mit einem«, sagt Anni W., »dieser ständige Mangel, dieses Bewusstsein, dass es nicht reichen wird – das macht einen krank.«
Vor ein paar Tagen kam ihr zehnjähriger Sohn in die fünfte Klasse, ein höflicher Junge mit einem schräg fallenden Pony in der Stirn. Als vor zwei Jahren ihre Tochter auf die weiterführende Schule gekommen sei, habe sie noch ein Tütchen für sie machen können, mit ein paar Schulsachen, Süßigkeiten. »Das war für Benjamin jetzt nicht mehr drin.«
Sie sagt: »Es nutzt nichts, wenn die Politiker jetzt immer sagen, man soll sich einschränken. Ich kann mich nicht mehr einschränken – weil alles so auf Kante ist.« Sie macht eine Pause. »Nee«, sagt sie dann, »es ist längst unter Kante.«
Die Wut kam im Mai, so erzählt es Anni W. Die Butter kostete auf einmal 43 Prozent mehr als vor einem Jahr, Geflügelfleisch 23,8 Prozent, Diesel 52 Prozent.
Im April war Anni W.s Zeit bei der Tafel abgelaufen: Damit jeder der vielen Bedürftigen drankommt, arbeitet die Tafel in Voerde mit einem Wechselmodell. Anni W. war bis April dran, für ein halbes Jahr, in dem sie sich einmal in der Woche an einem Bauwagen anstellen konnte, für Obst, Gemüse. Das fiel nun auch noch weg. Und dann las sie diesen Artikel in einem Magazin, in dem über Hartz-IV-Empfänger berichtet wurde, und der Tenor war: Wer von Hartz IV nicht leben könne, könne nicht mit Geld umgehen.
»Ich war so wütend«, sagt sie. »Wir sind keine Hängemattenlieger. Wir sind nicht schuld daran, dass wir armutsbetroffen sind. Ein Großteil von uns ist krank.« Sie sagt »armutsbetroffen«, nicht arm, weil es würdevoller klingt. »Ich bin auch nicht sozial schwach«, sagt sie, »sondern nur finanziell.«
Im Küchenschrank steckt in Klarsichtfolie Anni W.s ALG-II-Bescheid, »Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts« steht darauf, vier Seiten auf Recyclingpapier. Das Kindergeld und der Unterhalt von Benjamins Vater werden angerechnet, dadurch haben die beiden also nicht mehr Geld. Nach Abzug aller Fixkosten bleiben zum Leben 480 Euro.
Es gibt ein Tortendiagramm, das das Leben von Hartz-IV-Empfängerinnen wie Anni W. in bunte dreieckige Stücke unterteilt, in das also, was einer Alleinstehenden laut Staat zusteht. 37,26 Euro für Bekleidung und Schuhe; 17,14 Euro für Gesundheitspflege; 155,82 Euro für Lebensmittel, Getränke, Tabak. Das sind 5,19 Euro pro Tag und Person – für Frühstück, Mittag, Abendessen und Getränke. Wie soll das gehen, wenn die Butter fast drei Euro kostet? Es klingt wie eine Utopie.
Anni W. erzählt, wie sie an jenem Vormittag im Mai auf ihrem Sofa gesessen und einen langen Thread in ihr Twitter-Profil getippt habe. Sie schrieb: »Ich bin NICHT unsozial, faul, dumm oder kann nicht mit Geld umgehen… Ich bin ein Mensch. Keine Zahl, kein Klischee.«
Später fügte sie noch ein Foto von sich hinzu, eine Frau mit Brille und einem vorsichtigen Lächeln, dazu stellte sie einen Aufruf: »#IchBinArmutsbetroffen. Ich würde mich freuen, wenn ihr mitmacht. Lasst uns zeigen, wer wir sind.«
Am Abend diskutierte bei Maybrit Illner Christian Lindner zum Thema »Krieg, Corona, Inflation – eine Krise zu viel?«, und bei Anni W. in Voerde rauschten ohne Ende Benachrichtigungen rein. Erst waren es Dutzende, dann Hunderte, bald wurden es mehrere Tausend, die ihrem Aufruf folgten.
Da schrieb eine Rentnerin, dass sie unter Schmerzen ihren Rollator zur Tafel schiebe, zwei Kilometer, jeden Donnerstag, nach 32 Jahren Arbeit.
Da schrieb eine Frau ohne Schilddrüse, dass sie sich Tabletten, die ihr hälfen, nicht mehr kaufen könne.
Da schrieb ein Hartz-IV-Empfänger, dass er seit anderthalb Jahren mit einem abgelaufenen Personalausweis rumlaufe, weil er sich die 37 Euro Gebühr nicht leisten könne.
Warum sind diese Menschen nicht viel früher laut geworden? Und wie sozial ist der Sozialstaat wirklich?
»Eine Sorge weniger« , eine Initiative, die unbürokratische Hilfe für Arme anbietet, pushte den Hashtag weiter. Kurz darauf landete #IchBinArmutsbetroffen im Deutschen Bundestag.
Janine Wissler, Vorsitzende der Linkspartei, die Anni W. »leider unwählbar« findet, stellte sich hinters Podium und las einige der Tweets vor. Wenig später wurde Anni W. für einen kleinen Film interviewt, der im »Sommerinterview« von Olaf Scholz gezeigt wurde – neben einer Rentnerin aus Thüringen und einem Facharbeiter aus Berlin.
»Sehr geehrter Herr Scholz«, sagte sie in die Kamera, »ich erwarte von Ihnen und der Bundesregierung, dass Sie die 13,8 Millionen armutsbetroffenen Menschen in Deutschland endlich sehen.«
Es war ein großer Moment. Sie sei nie ein politischer Mensch gewesen, sagt Anni W. Die richtige Partei für sich habe sie bis heute nicht gefunden. Und auf einmal ist sie im Fernsehen, und der Bundeskanzler hört ihr zu.
Zwei Monate ist das jetzt her. Und die Wut? Ist immer noch da, sagt Anni W.
Inzwischen hat sie »Entlastungsgeld« bekommen: einmalig 200 Euro plus 100 Euro Kinderbonus. »Weg«, sagt Anni W., wie Nieselregen, der auf trockenen Boden fällt.
»Mitte Juli hatte ich nichts mehr«, sagt sie. »Nudeln, passierte Tomaten, das war’s.« Von dem Entlastungsgeld habe sie dann Vorräte gekauft, Angebote, die sie über die nächsten Wochen retten sollen. Sie stehen in der Küche im Vorratsschrank wie eine Lebensversicherung in Dosen: Chilibohnen, fein gehackte Tomaten, Uncle-Ben’s-Soße im Sonderangebot. Mit dem Rest habe sie ihrem Sohn ein paar Tage Sommerferien ermöglicht. Sie gingen ein paarmal ins Freibad, einmal seien sie an die Nordsee gefahren, erzählt Anni W., und sie kaufte Benjamin auch noch ein zweites Glas Sprite im Café.
Ein typischer Tag beginnt bei Anni W. mit dem Gedanken an ihre Armut. Es ist Freitag, der Wecker klingelt um 6.45 Uhr. Und schon sei das Bewusstsein wieder da: Es wird nicht reichen, so erzählt sie es. Als Erstes ist da die morgendliche Frage ihres Sohnes: »Kann ich mir einen Kakao kaufen in der Schule?«
In seiner neuen Schule gibt es einen Kiosk, zu dem die Kinder gern gehen. »Benjamin ist eigentlich ein genügsames Kind«, sagt sie, »aber ich will, dass meine Kinder mithalten können.« Also steckt sie ihm einen Euro zu, der ihr an anderer Stelle wieder fehlt.
Benjamin sucht sein T-Shirt, das mit den Katzen drauf. Fast alles, was er trägt, ist eine Spende oder gebraucht gekauft, auf Flohmärkten oder via Ebay-Kleinanzeigen. »Mein Schatz« nennt Anni W. ihn, »Söhnchen«. Sie steht in der Küche, schmiert ihm Vollkorntoast mit Käse und sagt: »Komm, setz dich hin, iss was, ich gehe schon mal spülen.«
Neulich bekam Benjamin durch eine Spende auch ein Paar Puma-Turnschuhe. »Mama«, sagte er da, »die hat ja gar keiner vor mir angehabt. Die sind neu.« Es war sein erstes Paar ungetragene Schuhe.
»Ich habe lange vor meinen Kindern verbergen können, dass wir arm sind«, sagt Anni W., »aber jetzt nicht mehr.« Die Freunde ihrer Kinder hätten Geld. »Sie sehen dort ein Leben, dass ich ihnen nicht bieten kann.«
»Benjamin, das geht jetzt nicht«, »Benjamin, das ist nicht drin« – diese Sätze müsse sie noch häufiger sagen in letzter Zeit.
Vergangenes Jahr hat Benjamin seinen ersten Urlaub gemacht. »Nicht mit mir. Sondern mit der Familie seines besten Freundes«, sagt Anni W. Dessen Eltern luden ihn ein, nahmen ihn mit in die Niederlande, in eine Anlage mit Freizeitpark. Bei ihrer Tochter an der Schule gab es nach den Ferien immer ein Buch, in das die Kinder eintragen sollten, was sie erlebt hatten. Ihre Tochter schrieb »Spanien« hin. »Sie hat sich geschämt«, sagt Anni W. Das Kind war die ganzen Ferien über zu Hause.
Sie hat noch Pfandflaschen, die sie zum Discounter bringen will – das sei ihr Notgroschen, sagt sie. Sie steckt die leeren Flaschen in Einkaufstaschen, schiebt Benjamin mit seinem Ranzen aus der Wohnung, zieht die Tür hinter sich zu.
Anni W. war nicht immer arbeitslos, sie ist auch nicht in Armut aufgewachsen. Auf ihrer Anrichte im Wohnzimmer steht ein gerahmtes Foto aus ihrer Kindheit. Darauf ist sie zu sehen mit Vater, Mutter, der älteren Schwester, alle mit Achtzigerjahrefrisuren.
Sie wuchs in Kaiserslautern auf, in einem »ganz normalen Mittelstandshaushalt«, wie sie sagt. Ihr Vater habe beim Nähmaschinenhersteller Pfaff in der Galvanik gearbeitet, jahrzehntelang. Ihre Mutter arbeitete, bis sie vor Kurzem in Rente ging, als Altenpflegerin.
Armut war nie Thema: »Wenn es in meiner Kindheit etwas nicht gab, dann nur aus Überzeugung meiner Eltern und nie des Geldes wegen.« So erklärt sie es sich auch, dass sie sich nie Sorgen um die Zukunft machte. Dass sie statt mit Abitur nur mit der Fachhochschulreife von der Schule ging, um einen Vollzeitjob in der Spielhalle anzunehmen, in der sie vorher auf 450-Euro-Basis gearbeitet hatte. Es habe ihr Spaß gemacht, sagt sie, Geld wechseln, Kaffee reichen, sauber machen. Sie verdiente gut, kaufte sich, wonach ihr war, Miss-Sixty-Jeans, Essen vom Lieferservice. Dabei habe sie eigentlich studieren wollen, sagt sie, Germanistik auf Lehramt oder Psychologie. Sie habe immer gedacht: »Ich bin jung, ich mache das später.«
Später kam dann aber der Mann, kamen die Kinder, »und dann war’s vorbei«, sagt Anni W. Sie setzte auf das alte Modell, Mann geht arbeiten, Frau kümmert sich. Aber der Mann wechselte von Job zu Job, verdiente zu wenig. Schon mit Benjamin im Bauch, erzählt sie, habe sie bei der Tafel gestanden. Einmal boxte ihr in der Schlange jemand in den Bauch.
Nach der Trennung, als es gesundheitlich noch gegangen wäre, habe sie sicher mehr als 300 Bewerbungen geschrieben. Antworten bekommen habe sie kaum. Und wenn Angebote kamen, dann nur für Jobs im Schichtdienst. Wie soll das gehen, allein mit zwei kleinen Kindern? Alleinerziehend zu sein, das ist auch ohne Krankheit ein Armutsrisiko. Jeder dritte Haushalt alleinerziehender Mütter oder Väter in Deutschland ist angewiesen auf Hartz IV.
Das Jobcenter schickte sie in die Pflege, aber das funktionierte nicht, sie begann eine Umschulung zur Tischlerin, »so ein schöner Beruf«, sagt sie. Dann streikte ihr Rücken.
Viele, die unter #IchBinArmutsbetroffen schreiben, sind chronisch krank. »Wenn du merkst, du bist in dieser Situation angekommen, gibst du dir selbst die Schuld. Dann glaubst du, du verdienst es nicht anders.« Sich von diesem Gedanken zu verabschieden, sei schwer. Ganz habe sie das bis heute nicht geschafft.
Sie kenne alle Klischees über Hartz-IV-Empfänger, all die RTL-II-Bilder, wo Menschen in Unterhemden auf dem Sofa sitzend präsentiert werden, Dosenbier zum Frühstück. »Dieses ewige ›Die sind zu faul zum Arbeiten‹«. Die abschätzigen Blicke, die Überheblichkeit im Jobcenter, in der Schule.
Man ahnt, wie sehr sie dieser Blick von außen prägt: Sie wirkt wie auf der Hut – davor, auch nur ein einziges Klischee zu bestätigen. Sie will gern mit ihren Büchern fotografiert werden. Weil sie mit dem Entlastungsgeld Vorräte angelegt hat, hat sie Sorge, jemand könnte sagen: »Die kann ja wohl nicht arm sein.« »Hier ist es weder dreckig noch versifft«, sagt sie. Sie hat Kinderfotos an die Wände gehängt, selbst gemalte Bilder, beschädigtes Mobiliar versteckt sie unter Deko, legt Deckchen über Flecken, zündet Duftkerzen an.
»Die Menschen schämen sich für ihre Armut.« Und das sei etwas, dass sie an der ganzen Hashtag-Sache besonders berühre. Dass sich auf einmal Leute zeigen, die sich jahrelang versteckt hatten.
Anni W. setzt Benjamin an der neuen Schule ab und fährt weiter zum Discounter. Sie fährt einen alten Ford Fiesta, ohne den sie, wegen ihrer Rückenschmerzen, ihren Alltag nicht mehr meistern könnte, wie sie sagt. Sie zieht die Pfandflaschen aus dem Kofferraum. Am Pfandautomaten gibt es auf dem Display diesen orangefarbenen Spendenknopf »Unterstütze die Tafel«. Einmal, sagt sie, habe Benjamin versehentlich draufgedrückt, und das Geld sei weg gewesen.
»Wenn ich Scholz noch einmal sagen höre: ›Aber wir haben ja geholfen‹, dann springe ich in den Fernseher«, sagt Anni W. »Glaubt dieser Mensch wirklich, dass 200 Euro Einmalzahlung reichen? Geht der Mann nicht einkaufen? Isst er nicht?«, fragt sie.
Anni W. schiebt den Einkaufswagen durch die Automatiktür des Discounters. Sie streift um die Kühltruhen herum. Sie sagt: »Ich gucke, was ich einkaufen würde.« »Würde«, sagt sie jetzt oft, denn das meiste ist zu teuer. »Wenn Rinderhack reduziert wäre – das würde ich gern mitnehmen.« Sie zieht es aus der Truhe: 4,35 Euro für 500 Gramm. Vor nicht allzu langer Zeit war das noch bei 2,99 Euro, und selbst das war für sie zu viel.
Für den Einkauf hat Anni W. eine Strategie entwickelt. Sie zieht die Fleischpackungen aus den Tiefen der Truhe, schaut aufs Ablaufdatum, notiert es innerlich und legt sie wieder unten rein. Einen Tag bevor das Fleisch nicht mehr gut ist, kommt Anni W. wieder in den Supermarkt und hofft. Darauf, dass der leuchtende runde Aufkleber auf der Packung ist. Mit Mozzarella mache sie es genauso.
Sie kennt die Vorher-nachher-Preise auswendig, bis auf den Cent genau. Vorher habe die Salami 1,09 Euro gekostet. Jetzt koste sie 1,49 Euro. Vorher, das war die Zeit, bevor Corona die Lieferketten störte, Russland die Ukraine angriff und die Energiepreise explodierten. Nachher, das ist die Zeit, in der sie selbst die reduzierten Preise nicht mehr bezahlen kann. Butter kaufe sie gar nicht mehr, nur noch Margarine.
Sie legt die Waren aufs Kassenband: Trauben für Benjamin, Brot, auf dem steht »Rette mich – kurze Haltbarkeit«, Würste kurz vor dem Ablaufdatum und den einzigen Luxus, den sie sich gönne: eine Dose Spezi für 89 Cent. Das Pfandgeld reicht dann nicht. Sie zahlt 8,26 Euro drauf. Damit bleiben ihr für den Rest des Monats nicht ganz 52 Euro.
Wenn man sie fragt, was sie fordere, überlegt sie nicht eine Sekunde und sagt: »200 Euro im Monat mehr«. Das sei die Empfehlung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, und daran halte sich die Bewegung. Ob das jetzt Hartz-IV-Empfänger seien, Rentner, Studenten, Asylbewerber – »wir Armutsbetroffenen wollen ganz simpel mehr Geld«. Dann sagt sie noch: »Ich will, dass dieser Pseudosozialstaat wieder ein Sozialstaat wird.«
Nach Artikel 20 und 28 des Grundgesetzes ist es Pflicht des Staates, sich um soziale Gerechtigkeit und die soziale Sicherheit der Bürger zu kümmern. Die aber ist im Moment für viele Menschen in diesem Land bedroht. Politiker befürchten Unruhen, einen »heißen Herbst«, gefolgt von einem Wutwinter. Die Anhänger der Armutsbewegung überlegen schon, wie sie sich schützen können gegen eine Unterwanderung von rechts.
Anni W. und ihre Mitstreiterinnen erleben eine Regierung, die Entlastung nach Entlastung verspricht. Nur profitieren davon oft nicht nur jene, die es am nötigsten brauchten. Mit dem 9-Euro-Ticket verreisten auch Gutverdiener. Den Tankrabatt genossen auch Porsche-Fahrer. Die Energiepreispauschale bekommen nur Erwerbstätige, auch diejenigen, die weder Gasheizung noch Auto besitzen, während einige Rentner und Studierende bei der Tafel anstehen. »Das alles ist nicht gerecht«, sagt Anni W.
Die Energiepreise stiegen im August um rund 35 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Stromkosten müssen Hartz-IV-Empfänger selbst tragen, beim Heizen übernimmt das Jobcenter nur das, was als »angemessen« gilt. Aber was ist angemessen, wenn die Wohnung schlecht isoliert ist und der Kühlschrank aus den Neunzigerjahren stammt?
Nahrungsmittel kosteten im August 16,6 Prozent mehr als vor einem Jahr. Nach Auslaufen von Tankrabatt und 9-Euro-Ticket wird ein neuer Preisschub vorausgesagt. Ein Experte sprach von einem »Sozialtsunami«, der Deutschland bald erreichen werde.
Anni W. sagt: »Ich will, dass sich etwas ändert. Und zwar jetzt.« Es gehe um Gerechtigkeit. Um Würde. Sie klingt in diesem Moment nicht mehr nur wie Anni W. aus Voerde, die Arztserien liebt und Fantasyromane. Sie klingt wie eine Anwältin der Armen.
Ein Samstagnachmittag Ende August, 380 Kilometer von Voerde entfernt, etwa an der Stelle, an der die parkenden Autos am dicksten sind und die Fassaden der Villen schneeweiß, nicht weit vom Segelklub also, steigen vier Menschen mit Pappschildern ins trübe Wasser der Hamburger Außenalster. Sie waten über Steine, einige barfuß, einige mit Schuhen, bis das Wasser an ihre Hüfte reicht, dann bis zur Brust. Sie recken ihre Schilder in die Höhe. Darauf steht in handgeschriebenen Buchstaben: »Wir gehen unter« und »Übergewinnsteuer jetzt«. Menschen, die sich nicht mehr verstecken wollen, immer wieder hält jemand den Hashtag von Anni W. aus Voerde in die Luft: #IchBinArmutsbetroffen.
Auch in Köln und Berlin stehen an diesem Tag Menschen, die solche Schilder in die Höhe halten. Alle zwei Wochen, immer an Samstagen, tragen sie den Protest von Twitter aus auf die Straßen. Anni W. war schon häufiger auf diesen Demonstrationen dabei.
An diesem Tag steht da @klein_nini im Wasser der Hamburger Alster, eine alleinerziehende Mutter mit ihrer Tochter, einem blonden Mädchen, das sich ein Schild vors Gesicht hält, auf dem steht: »Uns steht das Wasser bis zum Hals«. Die Mutter lebt von einer Erwerbsunfähigkeitsrente, aufgestockt auf 449 Euro monatlich. Sie habe ihrem Kind in diesem Sommer genau zweimal ein Eis kaufen können, sagt sie. Kontostand: 40 Euro im Minus.
Neben ihr steht @non_conform23, der Musik liebt und eine Tochter hat, der er gern mal etwas schenken würde. Bis er vor Kurzem eine Kleiderspende bekommen habe, habe er kein einziges heiles T-Shirt im Schrank gehabt, erzählt er. Um satt zu werden, ernähre er sich hauptsächlich von Nudeln.
Und dann ist da @femmewiken, auch eine alleinerziehende Mutter, die mit ihrem Handy einen Film der Aktion für TikTok dreht. Sie sei Betreuerin im Pflegeheim. Sie musste ihren alten Job in einer Demenz-WG im Juni kündigen, erzählt sie, weil sie sich die tägliche Fahrt dorthin nicht mehr leisten konnte, als der Benzinpreis auf mehr als zwei Euro den Liter gestiegen war. Jetzt habe sie einen neuen Job in einem Pflegeheim in der Nähe, aber es reiche noch immer nicht. Nur dank des 9-Euro-Tickets konnte ihr Sohn so etwas wie Ferien haben, sagt sie.
»Ich bin FDP-Wähler«, ruft ihnen ein Spaziergänger im Vorübergehen zu, als sie tropfend mit ihren Schildern wieder am Ufer stehen, um noch ein Gruppenfoto zu machen.
»Mein Beileid«, ruft @klein_nini ihm hinterher. Sie habe bisher eine Veränderung bei sich bemerkt, erzählt die Alleinerziehende später: »Ich schäme mich nicht mehr so«, sagt sie. Sie habe viel Energie investiert, nicht arm zu erscheinen, nicht aufzufallen. »Als normaler Bürger durchzugehen.« Aber das sei sie eben nicht. Es klingt wie eine Befreiung.
Nach der Aktion gehen sie die Alsterpromenade entlang, die Schilder unter dem Arm, vorbei an den weißen Villen. Sie würden gern noch einen Kaffee trinken. Doch im Café stehen sie dann unschlüssig an der Seite. »Stehen Sie hier an?«, fragt jemand. Sie schütteln ihre Köpfe und gehen. Drei Euro für einen Cappuccino. Sie können es nicht bezahlen.
Vergangenen Sonntag, zwei Tage nach Anni W.s 40. Geburtstag, verkündete Olaf Scholz das neue Entlastungspaket. Der Regelsatz für Anni W. und ihre Verbündeten soll auf etwa 500 Euro pro Monat steigen, ab Januar. Mit Glück ein Ausgleich für die Inflation. Doch bis Januar ist es noch lang. Vor Januar kommt der Herbst, dann der Winter.
Noch am selben Nachmittag, kurz nachdem die Regierung ihr 65-Milliarden-Euro-Paket bewarb und Scholz sagte: »Wir werden durch diesen Winter kommen«, schrieb Anni W. auf Twitter: Die 51 Euro ab 2023 seien ein Schlag ins Gesicht. Sie schrieb: »Wir brauchen JETZT Hilfe! Sofort! … Wir stehen an den Kassen und wissen nicht mehr weiter!«
*Name wurde geändert