Sigmar Gabriel: Beratertätigkeit bei Clemens Tönnies entsetzt SPD

Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel: "In der Branche ist das kein besonders hoher Betrag"
Britta Pedersen/ DPA
Eigentlich sollte dieser Donnerstag für die Genossen ein schöner Tag werden. Das lange umkämpfte Herzensthema der SPD, die Grundrente, wird vom Bundestag beschlossen, zudem der Nachtragshaushalt von Finanzminister Olaf Scholz, mit dem der Staat sich gegen die Folgen der Coronakrise stemmt.
Das Signal sollte sein: Gut, dass die SPD regiert.
Doch ein ehemaliger Parteivorsitzender verdirbt den Sozialdemokraten den vorletzten Tag vor der parlamentarischen Sommerpause. Sigmar Gabriel, von 2009 bis 2017 SPD-Chef, war bis vor kurzem als Berater in der Fleischindustrie tätig, wie zuerst das ARD-Magazin "Panorama" berichtete. Nicht für irgendein Unternehmen engagierte sich der Ex-Wirtschafts- und -Außenminister, sondern ausgerechnet für den Fleischkonzern Tönnies, der nach einer Corona-Infektion bei weit über 1000 Mitarbeitern heftig in die Kritik geraten ist. Gabriel war nach eigenen Angaben von März bis Ende Mai 2020 für das Unternehmen tätig. Der ARD sagte er, "aufgrund einer schwierigen Erkrankung und einer dadurch für mich notwendig gewordenen komplizierten Operation" habe er seine Arbeit bei Tönnies beenden müssen.
In der SPD stößt Gabriels Tätigkeit jetzt auf Entsetzen.
Zwar seien ehemalige Vorsitzende der SPD keine Rechenschaft schuldig, wenn sie nach ihrer aktiven Zeit Tätigkeiten für andere aufnehmen, sagten die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Aber, so kritisieren sie: "Für jeden aufrechten Sozialdemokraten ergibt sich dabei aus unseren Grundwerten, an wessen Seite man sich begibt und wo man besser Abstand hält.”
Niedersachsens SPD-Ministerpräsident Stephan Weil bezeichnete Gabriels Beratertätigkeit als "befremdlich und peinlich". Die SPD könne auf Gabriels Verhalten als Privatmann keinen Einfluss nehmen, so Weil. "Der politische Schaden für die SPD ist jedoch unbestreitbar."
Auch aus Nordrhein-Westfalen kommt scharfe Kritik an Gabriel.
"Ich hätte mir von Sigmar Gabriel mehr Zurückhaltung gewünscht", sagt Thorsten Klute, SPD-Kreisvorsitzender in Gütersloh. "Für uns ist das eine richtig blöde Sache, wir kämpfen hier vor Ort seit Jahren gegen diesen Sumpf rund um die Werkverträge in der Fleischindustrie." Dass Gabriel die Firma Tönnies beraten hat, zeige, so der Genosse aus Gütersloh, warum das ausbeuterische System so lange so gut funktionieren konnte: "Das Unternehmen hat beste Kontakte in unterschiedliche Parteien gesucht und auch gefunden."
Gabriel selbst verteidigt sich.
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"Ich kann an dem Beratungsverhältnis mit einem großen Arbeitgeber nichts Problematisches erkennen", sagte er dem SPIEGEL: "Tönnies macht nichts Verbotenes. Wozu machen wir eine Cooling Down Phase, in der man als Ex-Politiker nichts machen darf, wenn man danach noch so behandelt wird, als sei man im Amt?"
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Gabriel verteidigte auch das von Tönnies gezahlte Gehalt in Höhe von angeblich 10.000 Euro monatlich. "Für normale Menschen sind 10.000 Euro viel Geld. Aber in der Branche ist das kein besonders hoher Betrag. Ich bin kein Politiker mehr." Er habe die Tätigkeit "nicht als Lobbyarbeit begriffen" und tue es auch heute noch nicht: "Die Firma Tönnies fürchtete, wegen der afrikanischen Schweinepest bestimmte Produkte nicht mehr nach Asien exportieren zu können, und ich habe mich bemüht zu klären, welche Handelsrestriktionen geplant sind und was man tun muss, um die Exportgenehmigungen weiterhin zu bekommen."
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Als Wirtschaftsminister habe er mit der Firma Tönnies "eher Konflikte" gehabt als ein freundschaftliches Verhältnis. "Wenn es etwas gibt, worüber ich mich ärgere, ist es, dass die, die damals nichts gemacht haben, heute so tun, als würden sie zum ersten Mal merken, dass da ein Problem ist", so Gabriel. Er habe als Wirtschaftsminister damals unter anderem einen Branchenmindestlohn durchgedrückt und habe das getan, was zu dieser Zeit möglich gewesen sei, betonte Gabriel. "Ich hätte mir damals Unterstützung gewünscht von denen, die heute neunmalkluge Kritik üben."
Seit dem Ende seiner politischen Karriere hat Gabriel immer wieder durch neue Jobs für Schlagzeilen gesorgt. Für ehemalige Mitglieder der Bundesregierung – Gabriel war bis März 2018 Außenminister – gilt die sogenannte Karenzzeit-Regelung. Heißt: Wenn sie innerhalb von 18 Monaten nach Ausscheiden aus dem Amt einen Job außerhalb des öffentlichen Dienstes anstreben, müssen sie dies melden. Gabriels Engagement bei Tönnies betrifft dies also nicht mehr.
Zuletzt sorgte Gabriels Einstieg bei der Deutschen Bank Aufsehen, am 20. Mai wurde er zum Aufsichtsrat gewählt. Als das skandalumwobene Geldhaus die Personalie Ende Januar öffentlich machte, zog ein Sturm der Entrüstung in Politik und Öffentlichkeit auf. Ein Sozi auf Seiten des Großkapitals? Manch einer meinte, dass Gabriel womöglich eine seiner eigenen Reden als SPD-Vorsitzender missverstanden habe, in der er gefordert hatte, die Partei müsse wieder dahin gehen, "wo es laut ist; da, wo es brodelt; da wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt".
Nun geriet das Finanzinstitut in den vergangenen Jahren gewissermaßen von einer Jauchegrube in die nächste. Als Mitglied des Integritätsausschusses im Aufsichtsrat soll nun Gabriel helfen, auszumisten. Dafür wird er ordentlich bezahlt: Die Grundvergütung für Aufsichtsräte bei der Deutschen Bank liegt laut Geschäftsbericht bei 100.000 Euro pro Jahr, hinzu kommen weitere 100.000 Euro für die Mitgliedschaft im Ausschuss. Ein Viertel des Gesamtgehalts wird in Aktien ausbezahlt.
Ganz wie im Falle Tönnies ficht Gabriel die Höhe dieser Vergütung nicht an, ganz im Gegenteil. "Ob die Bezahlung als Aufsichtsrat der Deutschen Bank 'gut' ist, darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein", sagte er im Februar im SPIEGEL-Gespräch. Er habe ja auch das Angebot gehabt, Präsident des Verbandes der Automobilindustrie zu werden, dass er abgelehnt habe, weil er nicht Lobbyist habe werden wollen. "Dort wäre das Gehalt um ein Vielfaches größer."
Auch bei der Deutschen Bank wird Gabriel freilich seine alten Beziehungen zu Politik und Gewerkschaften spielen lassen – warum hätte die Bank sonst jemanden holen sollen, der über nur sehr rudimentäre Kenntnisse im Finanzgeschäft verfügt? Klar ist jedenfalls, dass der frühere Außenminister auch in seinem neuen Job gute Verbindungen ins Ausland pflegt. Ohne den Segen der Großaktionäre aus der Königsfamilie von Katar hätte Gabriel den Platz im Aufsichtsrat jedenfalls nicht bekommen.
Business und Ehrenamt
Bereits im Sommer 2018 stieg Gabriel als exklusiver Autor bei den Zeitungen der Holtzbrinck-Gruppe ein, zu der unter anderen "Zeit", "Handelsblatt" und "Tagesspiegel" gehören. Damaligen eigenen Angaben zufolge bekam Gabriel dafür zwischen 15.000 und 30.000 Euro im Monat. Gabriel ging in seinen Beiträgen mitunter nicht gerade freundlich mit seiner Partei um. Im Frühjahr 2020 endete dieses Engagement, Gabriel soll aber weiter Mitglied eines "Handelsblatt"-Expertenforums bleiben und Beiträge für den "Tagesspiegel" verfassen.
Im März 2019 meldete der SPIEGEL Gabriels Ansinnen, in den Beirat des Wirtschaftsprüfungsunternehmen Deloitte einzutreten. Ein entsprechendes Begehr wurde im März 2019 vom Bundeskabinett abgesegnet, weil der Vorgang noch in seine Abkühlphase als Minister fiel. Unterm Vorsitz des früheren bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU) beraten unter anderen ehemalige Spitzenpolitiker den Riesenkonzern "durch innovative Denkansätze bei der Weiterentwicklung des Geschäftsmodells und der Optimierung des Marktauftritts", wie es auf der Website heißt. Die Honorierung ist unbekannt, normalerweise erstatten große Konzerne ihren Beiräten nur eine Aufwandsentschädigung und die Reisekosten.
Im November 2019 freute sich die US-Politikberatungsfirma "Eurasia Group" über ihren prominenten Neuzugang Sigmar Gabriel. "Ich habe im Laufe der Jahre viel von Sigmar gelernt. Das Wissen und die Perspektive, die er mitbringt, werden für die Kunden der Eurasia Group unerlässlich sein", verkündete Unternehmenschef Ian Bremmer.
Kurz nach seinem Engagement bei der Deutschen Bank wurde im Mai bekannt, dass Gabriel auch in den künftigen Aufsichtsrat der in Zukunft eigenständigen Energiesparte der Siemens AG einziehen soll. Im Aufsichtsrat von "Siemens Energy" wird er auf Hildegard Müller treffen, die Präsidentin des Automobilverbands VDA und ehemalige CDU-Politikern. Jenes Verbands also, als dessen Präsident Gabriel selbst im Gespräch war, siehe oben.
Hinzu kommen weitere ehrenamtliche Jobs, die Gabriel in den vergangenen Monaten übernommen hat. Etwa als Kuratoriumsmitglied bei der "International Crisis Group", einer Brüsseler Denkfabrik für Krisenbewältigung oder als Vorsitzender und Nachfolger des CDU-Vorsitzkandidaten Friedrich Merz bei der "Atlantik-Brücke", einem einflussreichen Verein zur Pflege der deutsch-amerikanischen Freundschaft.
Über den Fleischfabrikanten Tönnies übrigens hat Sigmar Gabriel kaum je ein schlechtes Wort verloren. Nach einem Besuch der Tönnies-Fabrik in Rheda-Wiedenbrück im Februar 2015 schrieb der damalige Wirtschaftsminister auf Facebook: "Es ist gut, dass Tönnies in einer Branche, die immer auch mit schwarzen Schafen zu kämpfen hat, im positiven Sinne Standards setzt."
Im Mittelpunkt seiner Gespräche hätten die Arbeitsbedingungen gestanden: "Als ich Ende letzten Jahres Berichte über die Ausbeutung von vor allem bulgarischen und rumänischen Werkvertragsarbeitnehmern gelesen habe (die sich nicht auf Tönnies bezogen!), habe ich mich geschämt. Es ist schlimm, das so etwas in Deutschland möglich ist."
Die "Neue Westfälische" berichtete über den Besuch: "Sie saßen einträchtig nebeneinander wie ziemlich beste Freunde. Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) und Unternehmer Clemens Tönnies sparten denn auch nicht mit Lob für den jeweils anderen Gesprächspartner."
In der aktuellen Debatte um sein Engagement bei Tönnies indes schont Gabriel seine Nach-Nachfolger an der SPD-Spitze nicht. Zur Kritik von Esken und Walter-Borjans an seiner Tätigkeit sagte Gabriel dem SPIEGEL: "Mich wundert das nicht. So sind sie halt. Beide gehören auch zu denen, die heute laute Kritik üben, sich damals aber keinen Deut um die Fleischindustrie gekümmert haben. Ich kann das nicht wirklich ernst nehmen."
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