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Sergej Bojko: Alexej Nawalnys Weggefährte tritt in Sibirien an

September 13
00:17 2020
Alexej Nawalny und Sergej Bojko in Nowosibirsk, einige Tage vor dem Giftanschlag im August Icon: vergrößern

Alexej Nawalny und Sergej Bojko in Nowosibirsk, einige Tage vor dem Giftanschlag im August

Foto: Stab der Koalition 2020 in Nowosibirsk

Auf einmal wird es laut im Hof am Hockeyplatz. Eine junge Frau hat das N-Wort gesagt: Nawalny. Alle reden durcheinander, als Sergej Bojko erzählt, dass der Kremlkritiker aus dem Koma erwache, Geräusche höre, seine Augen ein wenig sähen, sein Gehirn nach der Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok wohl nicht beschädigt sei.

"Was für eine Vergiftung, hier in Sibirien?", ruft eine kleine ältere Dame mit braun gefärbten Haaren, lilafarbener Jacke. "Sie haben doch schon längst berichtet, dass es die gar nicht gibt." Sie, das sind die Staatsmedien. Bojko holt Luft: "Sie wollen wirklich sagen, dass er sich selbst ins Koma versetzt hat? Das war eine Vergiftung."

Der 37-Jährige leitet in Nowosibirsk das Büro des Kremlkritikers. Mit mehr als 1,6 Millionen Einwohnern ist die sibirische Metropole die drittgrößte Stadt Russlands. Bojko glaubt, dass Nawalny von staatlichen Geheimdiensten vergiftet wurde, "bei solch einem Gift, wer sonst hat denn Zugriff?"

Bojko hat diese Woche zu einem Treffen in einen der Hinterhöfe im Stadtzentrum eingeladen, eines von vielen an den Abenden vor der Wahl am Sonntag.

In Nowosibirsk entscheiden die Menschen wie in Dutzenden anderen Regionen Russlands über ihre Abgeordneten. Bojko führt die "Koalition 2020" von 31 oppositionellen Kandidaten an. Sie wollen in das Stadtparlament einziehen.

Schlüsselregion bei den Wahlen

Eigentlich geht es bei solchen Abstimmungen um fehlende Spielplätze, um schlechte Straßen und Fußgängerwege, wovon es Nowosibirsk viele gibt. Die Metropole am Fluss Ob ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt in Westsibirien, macht immer wieder Schlagzeilen mit Bauskandalen.

Doch dieses Mal geht es um mehr, auch weil der prominente Oppositionelle Nawalny das Bewusstsein verlor, kurz nachdem er Nowosibirsk besuchte, Sibirien damit in die internationalen Schlagzeilen kam. Noch immer wird Nawalny in der Berliner Charité-Klinik behandelt, wohin er aus dem etwa 600 Kilometer von Nowosibirsk entfernten Omsk ausgeflogen wurde.

Die Abstimmung in Nowosibirsk gilt als wichtiger Testlauf für die Staatsduma-Wahl im kommenden Jahr. Die Zustimmungswerte für die Kremlpartei Einiges Russland verharren im Tief, die Wirtschaft stagniert, auch wegen der Corona-Pandemie.

Für Nawalnys Mitstreiter ist die sibirische Stadt eine der Schlüsselregionen, in denen man das Machtsystem herausfordern kann. "Hier entscheidet sich das Schicksal Russlands", sagt Bojko bei einem Gespräch im Büro der Koalition. Er kommt auf einem Elektroscooter durch den Regen angefahren. Es klingt pathetisch, wenn er das so sagt, aber es kommt selten vor, dass sich die Opposition vereint und deren Kandidaten dann auch zugelassen werden.

Flyer und Plakate der Kandidaten stapeln sich auf Tischen, an der Wand hängt das grün-weiße Logo der Koalition. Bojko schläft gerade vier Stunden am Tag, sagt er. Er redet schnell, seine Hände sind immer in Bewegung, in der einen zappelt ein Stift, mit der anderen wischt er sich letzte Regentropfen aus dem Gesicht. "Ich glaube, die Behörden hatten Angst vor Protesten wie in Chabarowsk. Deshalb haben sie uns registriert", sagt er.

Regionale Abstimmungen in Russland gelten meist als wenig interessant, gleichen einer Simulation einer Wahl, weil ohnehin klar ist, wer gewinnen wird: die Kremlpartei. Sie verfügt nicht nur über viel Geld, sondern auch Einfluss. Wirkliche Oppositionelle haben kaum eine Chance. Wenn eine Opposition akzeptiert wird, dann nur eine, die sich an die Spielregeln des Kremls hält.

"Wir haben zwei Feinde, gegen die wir antreten"

In Nowosibirsk haben Einiges Russland und die Kommunisten eine Art Pakt geschlossen. Vor zwei Jahren, als es für die Regierungspartei bei der Gouverneurswahl nicht gut aussah, verkündeten Vertreter beider Parteien, öffentlich nicht gegeneinander anzutreten.

Sie teilten die Posten und damit die Region quasi unter sich auf: Das Land wird weiter von Einiges Russland regiert, die Stadt von den Kommunisten, wobei immer klar ist, wer von wem abhängig ist – der Kreml kontrolliert alles.

"Wir haben also zwei Feinde, gegen die wir antreten", sagt Bojko. Den sibirischen Nawalny nennen sie ihn hier. Der IT-Manager lacht, als er das hört. Äußerlich haben die beiden wenig gemein: Nawalny ist groß und schlank, Bojko klein und kompakt.

Doch politisch weisen ihre Geschichten Parallelen auf: Wie Nawalny organisierte Bojko Proteste, in seinem Fall etwa gegen die Erhöhung der örtlichen Energie- und Wasserpreise; wie sein Vorbild trat Bojko 2019 bei der Bürgermeisterwahl in Nowosibirsk an. Fast 19 Prozent der Stimmen holte er so, Platz 2, was ihm selbst bei politischen Gegnern Respekt verschaffte.

Als im Herbst vergangenen Jahres die Polizei vor seiner Wohnung stand, um sie zu durchsuchen, startete Bojko eine Drohne von seinem Balkon aus, daran befestigt: Festplatten mit wichtigen Daten seiner politischen Arbeit, die er so in Sicherheit vor den Behörden brachte.

Faktisch haben Einiges Russland und die Kommunisten auch bei dieser Wahl zum Stadtrat Absprachen getroffen: Es tritt immer nur jeweils ein bekannter Kandidat der beiden Lager unter dem Label der Partei an. Dazu kommen allerdings noch Kandidaten, die offiziell als Unabhängige antreten, bei denen nicht immer klar ist, ob sie nicht auch mit der Kremlpartei verbunden sind.

Anfragen des SPIEGEL bei den Kandidaten von Einiges Russland verlaufen so:

  • Einer verleugnet sich selbst am Telefon.

  • Ein zweiter sagt erst aufgeregt zu, um dann später am Telefon über eine westliche Kampagne zu schimpfen. Er wirft dem SPIEGEL via WhatsApp vor, nur über einen Film von Nawalny sprechen zu wollen, der von den Machenschaften der örtlichen Baumafia handelt (Hier sehen Sie ihn mit englischen Untertiteln), allesamt Mitglieder von Einiges Russland. Andere sagen ebenfalls ab.

  • Einzig Andrej Panfjonow, Vizevorsitzender im Regionalparlament, ist zum Gespräch bereit. Er sagt zu möglichen Absprachen mit Kommunisten, das sei eine Frage der Strategie der Parteien: "Warum in Wahlkreisen Kräfte vergeuden, wo die Chancen gering sind, wenn man sich doch auf diejenigen konzentrieren kann, wo es sich lohnt?"

Aufpasser des Bürgermeisters

Bojko tritt nicht in irgendeinem Wahlkreis an. Er hat sich den wichtigsten und schwierigsten im Zentrum der Stadt ausgesucht. Hier in der Nähe des Lenin-Platzes mit der Oper befinden sich die Regierungsgebäude, hier ist ein Kommunist der alten Garde Abgeordneter: Renat Sulejmanow.

Er ist die rechte Hand des Bürgermeisters, begleitet ihn auch auf Baustellen in der Stadt, er war schon zu Sowjetzeiten Abgeordneter. Der 64-jährige Sulejmanow wirft Bojko und seinem Team vor, mit ihrem Kampf gegen seine Kommunisten letztendlich der Kremlpartei zu nutzen. Sulejmanow gibt sich siegesgewiss, setzt vor allem auf die älteren Wähler, die ihn schon lange kennen.

Bojko wirbt dagegen um die jüngeren Wähler. Er ist in den sozialen Medien, auf YouTube und Instagram, aktiv, lässt Aufkleber an Bushaltestellen kleben, Flyer an wichtigen Punkten seines Wahlkreises verteilen. Er lacht, wenn er hört, dass sich neben den Vertretern von Einiges Russland auch die Kommunisten über seine Koalition beschweren. "Wir haben damit schon einiges erreicht", sagt er.

Bokjo trifft oft Wähler. Auch neben dem Sitz des Gouverneurs. Die Polizei ist anwesend, auch Mitarbeiter des Bürgermeisters wie so oft bei den Veranstaltungen des Oppositionellen. Es sind gleich drei, wobei zwei erst einmal leugnen, dass sie im Auftrag des Bürgermeisters da sind.

Ihre Anwesenheit zeigt, wie nervös die Führung der Stadt ist. Hinzukommen ständige Störungen eines vermutlich bezahlten Provokateurs, der versucht, Teilnehmer wegzuschieben, sie als angebliche ukrainische Geheimdienstler beschimpft und Bojko als Handlanger der USA bezeichnet. Schließlich rufen dessen Mitarbeiter die Polizei, der Mann wird abgeführt.

Attacke auf Büro und Freiwillige

Der Druck sei hoch, sagt Bojko. Er erhält Drohungen. In dieser Woche haben zwei Männer, in dunkler Kleidung und mit Masken, Bojkos Büro angegriffen. Als dort etwa 30 Freiwillige an einer Schulung für Wahlbeobachtung teilnahmen, warfen sie eine Flasche mit einer ätzenden chemischen Flüssigkeit in den Raum. Drei Aktivisten mussten wegen Übelkeit und Atemproblemen in ein Krankenhaus gebracht werden.

Freiwillige wurden auch auf der Straße attackiert, einer gebissen, sogar Stände der Koalition wurden zerstört, auffällig ist der Ort, wo das passiert ist: Es ist das Viertel von Daniil Markelow im Osten der Stadt.

Der 28-Jährige ist Mitarbeiter von Bojko. Er hatte guten Chancen, bei der Wahl gegen Alexej Dschulaj, Mitglied der Kremlpartei, zu gewinnen. Der ist einer der reichsten Einwohner der Region, ihm gehört eine Baufirma, die Zehntausende Wohnungen in dem Gebiet hochgezogen hat – mehrstöckige Plattenbauten "von miserabler Qualität", sagt sein Herausforderer Markelow.

Er hatte im Film mit Nawalny in einem der Häuser gedreht, den fehlenden Lift und Löcher in den Wänden gezeigt; die sind nun verspachtelt, der Lift eingebaut – nach mehr als zwei Jahren.

Per notariell beglaubigter Erklärung lässt der Bauunternehmer und Politiker ausrichten, Nawalnys Film entspreche nicht der Wahrheit, keiner seiner Kunden haben den Kauf der Wohnungen rückgängig gemacht.

Markelow nennt Dschulaj "einen korrupten Banditen, einen Mafioso", der selbst örtliche Gerichte kaufen könne. Nach einem dubiosen Urteil darf Markelow bei dieser Wahl nun nicht mehr kandidieren, angeblich sind zu viele seiner Unterstützerunterschriften ungültig.

Strategisches Wählen gegen Kremlpartei

Markelow und Bojko hoffen nun, Dschulaj trotzdem noch verhindern zu können. "Kluges Wählen" nennt sich die Methode, die Nawalny entwickelt hat, mit der er bereits der Regierungspartei einige Mandate in Moskau genommen hat. Dabei rät er, für den Gegenkandidaten zu stimmen, der die größten Chancen hat, den Vertreter der Kremlpartei zu besiegen. Eine pragmatisch-taktische Entscheidung, die nicht jedem Oppositionellen gefällt: Im Fall von Dschulaj wird geraten, für einen Kommunisten zu votieren. "Es sind zwei Übel, dies ist das geringere. Es ist die einzige Chance, eine Ausnahme", sagt Markelow.

Fünf, zehn oder gar mehr Sitze im Stadtrat, in dem insgesamt 50 Mandate zu vergeben sind, wünscht sich Koalitionsführer Bojko. Eine eigene Oppositionsfraktion. Ob das gelingt? Manch ein regionaler Politikexperte ist skeptisch.

Nach Nawalnys Vergiftung hätten sich mehr Freiwillige gemeldet, sagt Bojko. Alles hänge nun davon ab, wie viele Anhänger auch wirklich wählen werden. "Eigentlich sollte Nawalny noch mal bei uns auftreten", sagt Bojko. "Seine Unterstützung fehlt uns jetzt."

Icon: Der Spiegel

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