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Russland: Wladimir Putin und die seltsame Volksabstimmung über die Verfassung

July 01
15:18 2020
Wahllokal in der Region Iwanowo: Mit Geschenken an die Urnen gelockt Icon: vergrößern

Wahllokal in der Region Iwanowo: Mit Geschenken an die Urnen gelockt

Vladimir Smirnov/ imago images/ITAR-TASS

Demokratie lebt davon, dass der Bürger seine Stimme abgibt. Aber was bekommt er im Gegenzug? Er verlässt das Wahllokal mit leeren Händen, einzig mit dem guten Gefühl, seine Pflicht getan zu haben.

Im autoritär regierten Russland ist das anders: Dort werden Wahlberechtigte gerade mit Geschenken an die Urnen gelockt. An diesem 1. Juli endet eine Volksabstimmung über die Änderung der Verfassung. Wer teilnimmt, dem winken Prämien aller Art: Eigentumswohnungen, Autos, iPhones, Elektroroller, Tablet-Computer, Küchengeräte, Rasenmäher werden über Lotterien und Quizspiele an die Wähler verteilt.

Im ländlichen Burjatien darf man sogar auf einen Uralez-Traktor hoffen. In Moskau wiederum ist eine regelrechte Parallelwährung eingeführt worden: Wer wählen geht, kann zwischen 1000 und 4000 Punkte gewinnen, die jeweils einen Rubel wert sind; die Prämien liegen damit umgerechnet zwischen 13 und 51 Euro. Die Punkte kann man in der U-Bahn, in Kinos und Cafés, Läden und Apotheken einlösen. Die Prämien summieren sich auf umgerechnet 126 Millionen Euro – auszuschütten auf maximal sieben Millionen Wahlberechtigte.

Das sind handfeste Vorteile für einen Stimmgang, dessen sonstiger Nutzen unklar ist. Im Kern geht es darum, Präsident Wladimir Putin das Recht auf zwei weitere Amtszeiten zuzugestehen. Aber die entsprechende Verfassungsänderung ist vom Parlament längst angenommen worden, Putin persönlich hat sie schon unterschrieben. Die entsprechend geänderte Verfassung wird sogar schon in Buchläden und Kiosken verkauft. Wozu also noch abstimmen?

Um die Verwirrung des Wahlvolks vollständig zu machen, ist Putins Befreiung von der Amtszeitbeschränkung nur eine von 206 Verfassungsänderungen. In der Verfassung werden der Tierschutz, die Ehe als Bund von Mann und Frau, die Pflege der russischen Sprache und die Anpassung der Renten an die Inflation festgeschrieben. Außerdem werden auf komplizierte Weise Kompetenzen zwischen den Verfassungsorganen verschoben. Auf alle 206 Änderungen können die Russen nur mit einem einzigen "Ja" oder "Nein" reagieren.

Der Kreml will eine hohe Wahlbeteiligung

Nicht einmal der rechtliche Status der Abstimmung ist klar – sie findet ausdrücklich außerhalb des üblichen russischen Wahlrechts statt und wird deshalb auch nicht als "Referendum" bezeichnet. Klar ist nur: Der Kreml will eine hohe Wahlbeteiligung, und zu diesem Zweck hat er sich einige Neuheiten einfallen lassen:

  • Abgestimmt wird nicht an einem Tag, sondern an sieben – seit dem 25. Juni sind die Wahllokale offen. Eine vorzeitige Stimmabgabe war in Russland bisher nur in Ausnahmefällen möglich.

  • Wer in der Hauptstadt wohnt, kann seine Stimme elektronisch abgeben, über das Serviceportal Gosuslugi. Mehr als eine Million Moskauer sollen das beantragt, 92 Prozent davon ihre Stimme abgegeben haben. Auch in der Region Nischni Nowgorod ist eine elektronische Stimmabgabe möglich.

  • Wer will, kann sich Wahlhelfer und Wahlurne nach Hause bestellen. Bisher war das nur für Kranke und Gebrechliche möglich. Fliegende Wahllokale in Hinterhöfen verkürzen den Weg für die Wähler. In russischen sozialen Medien kursieren Fotos von Wahlkommissionen, die auf Kinderspielplätzen und Parkbänken arbeiten. Große Heiterkeit löste ein Video aus Wladiwostok aus: Dort wurden die Wahlzettel aus dem Kofferraum eines Privat-Pkw verteilt, als handle es sich um Schwarzmarktware.

Offiziell wird die Corona-Pandemie als Grund für die Neuerungen angegeben: Menschenansammlungen in den Wahllokalen sollen vermieden werden. Faktisch allerdings ist die Beobachtung der Abstimmung damit deutlich erschwert.

Veröffentlichung einer Nachwahlbefragung vor Schließung der Wahllokale

Nach fünf der sieben Wahltage sollen bereits knapp 50 Millionen Russen ihre Stimme abgegeben haben, damit beträgt die offizielle Wahlbeteiligung bereits 45,7 Prozent. Das geschieht nicht ohne den üblichen Druck auf die "Bjudschetniki", die vom staatlichen Budget abhängigen Wählergruppen.

So forderten in Moskau Schulen und städtische Unternehmen ihr Personal per Messenger auf, sich zur elektronischen Abstimmung zu registrieren und als Beleg einen Screenshot zu senden. In Jaroslawl wurde ein eigenes Programm namens "Votely" entwickelt, das staatlichen Betrieben das Nachverfolgen der Wahlbeteiligung von Mitarbeitern erleichtern soll. Ein eigenes Videotutorial erklärt das am Beispiel eines Krankenhauses.

Drei Tage vor dem Ende der Stimmabgabe hat das kremltreue Umfrageinstitut Wziom bereits eine Nachwahlbefragung veröffentlicht, die eine angeblich massive Zustimmung zu Putins Verfassungsänderung belegen soll. Demnach gaben 54 Prozent der Befragten an, mit Ja gestimmt zu haben, nur 17 Prozent mit Nein. Der Rest verweigerte eine Antwort.

Natürlich ist die Veröffentlichung einer Nachwahlbefragung vor Schließung der Wahllokale eigentlich tabu. Aber da die neue Volksabstimmung auf rechtlichem Neuland stattfindet, ist das diesmal nicht verboten: Diese Frage sei "bedauerlicherweise nicht geregelt", sagte Wahlleiterin Jelena Pamfilowa.

Putin geht es um die Entfristung seiner Herrschaft

Wladimir Putin hat am Dienstag die Russen daran erinnert, wie wichtig die Abstimmung sei. "Wir stimmen nicht nur für Verfassungsänderungen", sagte er am Rande einer Gedenkfeier zum Zweiten Weltkrieg in Rschew. "Wir stimmen für das Land, in dem wir leben wollen."

Was er in seinem schlecht verhüllten Wahlaufruf verschwieg, war die Tatsache, dass es um ihn selbst geht und die Entfristung seiner Herrschaft im Kreml. Mit der geänderten Verfassung kann Putin zwei weitere Male für die Präsidentschaft kandidieren und so bis ins Jahr 2036 im Amt bleiben.

Icon: Der Spiegel

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