Russland: Kirill Serebrennikow in Moskau verurteilt

Theatermacher Serebrennikow (Mitte) im Gerichtssaal
MAXIM SHEMETOV/ REUTERS
Es sah wie eine Flucht aus, als Kirill Serebrennikow am Freitagabend das Meschtschanskij-Bezirksgericht verließ: Mit Basecap und Maske, umgeben von einem Pulk Fotografen, kämpfte er sich durch die Menschenmenge vor dem Gericht und sprang in ein Auto. Keine Dankesworte, keine Botschaften für die Hunderten Menschen, die den ganzen Tag vor dem Gericht auf ihn gewartet hatten.
Man kann das dem Filme- und Theatermacher nicht verdenken in Zeiten der Coronapandemie. Die gute Nachricht ist: Russlands bekanntester Vertreter des Regietheaters ist weiterhin ein freier Mann, wenn auch offiziell schuldig gesprochen des Betrugs in besonders hohem Ausmaß. Drei Jahre Freiheitsstrafe, ausgesetzt auf Bewährung, lautet das Urteil in einem der umstrittensten Strafprozesse Moskaus, der die Kultur-Szene regelrecht erschüttert hat. Auch die drei Mitangeklagten erhielten Bewährungs- und Geldstrafen.
Das es so relativ glimpflich ausgehen würde, war nicht klar, als Richterin Olesja Medwedewa am Freitagmorgen mit der Urteilsverlesung begann. Die Staatsanwaltschaft hatte sechs Jahre Haft für Serebrennikow gefordert, ohne Bewährung. Ihr zufolge war Serebrennikows in den Medien gefeierte Bühnenarbeit in Wahrheit ein gigantischer Versuch, Fördergelder zu unterschlagen – um umgerechnet 1,7 Millionen Euro soll er das russische Kulturministerium betrogen haben. Auch die Richterin folgte dieser Argumentation – Zugeständnisse machte sie nur bei der Zumessung der Strafe, nicht in der Beurteilung des Sachverhalts.
"Das Verfahren ist nicht bloß ungerecht, sondern absurd"
Konkret geht es um das Kulturprojekt Platforma, das 2011 mit ausdrücklicher Unterstützung des Kreml gestartet worden war. Platforma war ein spartenübergreifendes Experimentaltheater, präsentiert auf einem hippen Moskauer Fabrikgelände vor jungem Publikum – ganz im Sinne des damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew, der sich als jugendlicher Modernisierer sah.
Unstrittig ist, dass das erfolgreiche Projekt und Serebrennikows Produktionsfirma "Siebtes Studio" unter einer chaotischen Buchhaltung litt. Dass aber zwei Drittel aller Gelder unterschlagen worden seien, wie die Staatsanwaltschaft und mit ihr das Gericht behauptet, ist unmöglich. Der Grund: Hunderte Aufführungen in nur drei Jahren hätten niemals mit einem Drittel des Geldes finanziert werden können. Zwei Expertisen bestätigten das. Ein erstes Verfahren endete deshalb ergebnislos.
"Das Verfahren ist nicht bloß ungerecht, sondern absurd", sagt Serebrennikows Mitarbeiterin Lena Perelman, die vor dem Gericht wartet. "Es negiert alles, was wir gemacht haben". Sie meint damit den skurrilen Vorwurf der Staatsanwaltschaft, einige von Serebrennikows Inszenierungen hätten gar nicht stattgefunden – etwa Shakespeares "Sommernachtstraum", bei dem sie als Lichtgestalterin mitwirkte. Die Aufführung gilt bis heute als einer der größten Erfolge der Platforma-Jahre.
"Es gibt keinen Freiraum mehr, um in unserem Land Theater zu machen"
"Ich bin erleichtert", sagt Kostumbildner Kirill Minzew über die Bewährungsstrafe. Er hatte am Morgen noch Schlimmeres befürchtet: "Das schrecklichste ist für mich die Frage: Wohin jetzt mit uns? Was sollen wir tun? Es gibt keinen Freiraum mehr, um in unserem Land Theater zu machen."
Mit welcher Inszenierung und wie genau Serebrennikow, der ehemalige Günstling der Mächtigen, in Ungnade fiel, das weiß er selbst nicht. "Irgendwann werden die Archive der Geheimdienste geöffnet, und wir werden verstehen, wer die Befehle gab, wer sich das Verfahren ausdachte, wer es fälschte, wer die belastenden Aussagen schrieb", sagte er am Montag vor Gericht.
Dem Kreml, der das formal unabhängige Gerichtswesen faktisch kontrolliert, passt eine Bewährungsstrafe derzeit. Seit Donnerstag findet nämlich in ganz Russland eine Volksbefragung statt, in der sich Putin zwei weitere Amtszeiten als Präsident genehmigen lassen will. Da wäre es ungeschickt, mit einem allzu harschen Urteil die gesamte Kulturszene gegen sich aufzubringen. Proteste wären unvermeidlich gewesen. 4000 Kulturschaffende hatten bereits in einem Brief an die Kulturministerin protestiert, viele Prominente den Prozess verurteilt.
Doch unter Serebrennikows Unterstützer vor Gericht hatten sich auch Linientreue gemischt – junge Anhängerinnen der Kremlpartei "Einiges Russland", die T-Shirts mit dem Slogan "Ein Dieb muss sitzen" trugen. Warum Serebrennikow unbedingt im Gefängnis sitzen müsse, konnten sie allerdings auf Nachfrage nicht begründen.
Serebrennikows Vermögen bleibt beschlagnahmt – er und zwei der Mitangeklagten müssen die angeblich unterschlagenen Fördergelder an das Kulturministerium zurückzahlen. Seinem Anwalt zufolge will er das Urteil anfechten.
Icon: Der Spiegel