Polio-Impfung: Das Mädchen, mit dem Indien die Kinderlähmung besiegte

Geheilt: Poliopatientin Rukhsar mit ihrem Vater (2015)
Sanjit Das/ Panos/ DER SPIEGEL
Als Abdul Shah an einem Abend im Januar 2011 nach Hause kommt, ist das Virus schon da. Shah hat den ganzen Tag Stoffe bestickt und sie an Unterhändler in Kalkutta übergeben, 50 Kilometer von seinem Dorf entfernt, das so klein ist, dass es noch nicht einmal einen Namen trägt. Er sitzt auf dem Boden seiner Hütte, vor sich seine Tochter Rukhsar Khatoon, 18 Monate alt, die im Laufe des Tages erst Durchfall und dann Fieber bekam.
Abdul Shah weiß nicht, wie hoch ihre Temperatur ist, aber sie ist hoch. Beunruhigt ist der Vater noch nicht, nicht mehr als sonst. Rukhsar ist häufig krank, ein Sorgenkind. Seit ihrer Geburt isst sie weniger als andere Kinder, wächst langsamer, schläft schlechter. Manchmal wirkt das Kind so zerbrechlich wie eine Glaskugel.
Der Vater ahnt nicht, dass zu diesem Zeitpunkt der Körper des Mädchens bereits mit einem Virus kämpft, das sich rasend schnell in ihm vermehrt. Erst in der Speiseröhre, später im Magen, dann im Darm. Von dort wandert es ins Rückenmark, den Ort, durch den die Nerven laufen.
Als das Fieber sinkt, beginnt die Lähmung. Mit 18 Monaten, einem Alter, in dem andere Kinder längst laufen, hört Rukhsar damit auf. Und jetzt, Tage später, trägt der Vater seine Tochter zu der kleinen Krankenstation im Dorf. Da hängt Rukhsars Bein schon schlaff und fremd an ihrem Körper, als wäre ein Faden an einer Marionette gerissen.
Der Arzt fragt den Vater: "Abdul, hast du dein Kind gegen Polio impfen lassen?" Abdul Shah bekommt Angst. Polio. Kinderlähmung. Er weiß, was das bedeutet. Immer wieder kommen Impftrupps in sein Dorf, klopfen an jede Tür, verabreichen jedem Kind zwei Tropfen Schluckimpfung. Doch Rukhsar erschien ihm jedes Mal zu schwach; als einziges seiner Kinder hat er sie nie impfen lassen. Abdul schüttelt den Kopf. Der Arzt legt ein Röhrchen mit Rukhsars Stuhlprobe in eine Styroporbox und sendet es gekühlt nach Kalkutta.
An jenem Januartag im Jahr 2011 beginnt am äußersten Rand Indiens das Ende einer Seuche, verursacht durch das Virus namens Polio. Abdul Shahs Tochter wird nicht sterben, sie wird leben. Und nach ihr wird kein weiterer Mensch in Indien an der Kinderlähmung erkranken. Es wird das Ende eines Kampfes sein, über den später nicht nur in Indien gesprochen werden wird; nicht nur in Mumbai, Kalkutta oder Delhi, sondern auch in Genf, Karatschi oder Atlanta. Über Rukhsar Khatoon, die letzte Poliopatientin Indiens.
In Impfstoff ertränkt
Schon wenige Tage nachdem der Arzt die Stuhlprobe verschickt hat, trifft im Untergeschoss eines Tennisklubs in Delhi, 1300 Kilometer entfernt, die Nachricht ein, dass sich ein Mädchen in einem kleinen Dorf ohne Namen mit dem Poliovirus infiziert hat. Das Labor meldet, der Vater habe das Kind nicht impfen lassen.
An einem Seiteneingang des Khanna-Tennisstadions in Delhi, drei, vier Treppenstufen hinunter, führt eine Tür noch Jahre später hinein ins indische Poliobüro der Weltgesundheitsorganisation WHO. Eine nationale Überwachungsstation, in deren Eingangsbereich ein speckiges Ledersofa steht, darüber eine Girlande: "Merry Christmas". Im Hauptraum ist Plastiktisch an Plastiktisch, Mensch an Mensch gereiht. Männer in Anzug und Krawatte vor Computern, Tunnelblick auf Tabellen, sie werten aus, klicken auf digitale Karten, analysieren. Die Daten aller Polioverdachtsfälle des Landes laufen hier zusammen. Die Republik Indien, ausgebreitet auf Bildschirmen, unterteilt in Gitternetze.
Als die Meldung über die positive Probe am 7. Februar 2011 eintrifft, hat ein Mann namens Hamid Jafari Dienst. Für ihn und sein Team ist die Meldung eine Enttäuschung. Das Mädchen Rukhsar ist die erste Poliopatientin in jenem Jahr. Nur 42 Krankheitsfälle gab es im Vorjahr in Indien. 2009 waren es noch 741. Die Virenjäger hatten gedacht, das Biest erlegt zu haben. Und jetzt: Alarm.
Hamid Jafari arbeitet seit 2007 als technischer Chef der Polio-Ausrottungskampagne in Indien. Ein pakistanischer Kinderarzt, ausgebildet an renommierten Seucheninstituten und Eliteuniversitäten in den USA, der gleich erkennt, welches Risiko Rukhsars Infektion bedeutet: Ihr Dorf liegt nur wenige Kilometer entfernt von der Howrah Station, einem der größten Bahnhöfe Indiens. Einem Ort, an dem die Lautsprecherdurchsagen wie ein einziger, nie endender Satz klingen; an dem jeden Tag 1,3 Millionen Passagiere ein- und aus- und umsteigen. Sollte es noch weitere ungeimpfte Menschen in Rukhsars Dorf geben, Leute, die das Virus weitertragen, dann kann es von hier aus durch ganz Indien reisen. In den Westen nach Mumbai, nach Jaipur im Norden oder nach Chennai im Süden. Dann wüssten die Seuchenjäger am Ende wieder nicht, wo sich das Virus aufhält, das könnte den Kampf gegen Polio um Jahre zurückwerfen.
Normalerweise dauert es mehrere Wochen, bis eine Impfkampagne organisiert ist. Jafari und sein Team brauchen dafür sechs Tage. Die Helfer impfen: in Rukhsars Dorf, in allen Nachbardörfern, bis an den Rand von Kalkutta, in Bahnhöfen, Hütten und Kiosken, auf Märkten, in Schulbussen; sie stoppen Motorräder und Autos.
Egal woher Rukhsar das Virus bekommen hat: Die Impftropfen sollen verhindern, dass es sich weiterverbreitet. Später wird Jafari sagen, sie hätten die Inder in dem Impfstoff ertränkt.
Die Initiative der Rotarier
Es ist eine der am schnellsten durchgeführten Aktionen gegen eine Virusattacke in der Geschichte der Medizin. Mit einem bombastischen Erfolg: Damit ein Land von der WHO als poliofrei deklariert werden kann, darf dort drei Jahre lang kein neuer Fall von Polio mehr auftreten. Die indische Regierung bekommt die Urkunde am 27. März 2014 überreicht. Es ist der wichtigste Meilenstein im Kampf gegen das Virus.
Der Mensch hat viele Schlachten gegen Krankheiten und ihre Erreger geschlagen. Gegen die Pest, HIV, Tuberkulose oder Tetanus. Gegen all die Grippeviren, die Herpesplagen, die Masern, Diphtherie und Ebola. Oft hat er sie gewonnen, die Schlachten. Den Krieg aber konnte er nur ein einziges Mal für sich entscheiden. Am 8. Mai 1980 erklärte die WHO die Pocken für ausgerottet. Ausgerottet bedeutet: Solange die Erde sich dreht und der Mensch darauf existiert, so lange kann nie wieder jemand daran erkranken. Und jetzt, bald, könnte das mit Polio ein zweites Mal gelingen.
Es ist eine Geschichte darüber, wie der Mensch etwas in Ordnung bringt. Wie 194 Nationen erfolgreich miteinander kooperieren, sich nicht nur ein gemeinsames Ziel setzen, sondern es auch erreichen: Russland, die USA, Griechenland, China, Deutschland, Tansania. Papua-Neuguinea. Nordkorea. Luxemburg. Reiche Industrienationen, arme Entwicklungsländer. Christen, Hindus, Juden, Muslime. Demokratien und Diktaturen. Länder im Krieg und im Frieden. Es ist ein Stück Medizingeschichte, die lange vor Rukhsars Geburt, vor der letzten Poliopatientin Indiens, begonnen hat, 30 Jahre zuvor – mit einem einfachen Anruf.
Im April 1979 hob der Chef für die Bekämpfung infektiöser Krankheiten im US-amerikanischen Gesundheitsministerium, John Sever, den Hörer ab. Am anderen Ende der Leitung war der Präsident des Dachverbands aller Rotary Clubs weltweit. Er habe, sagte der Rotarier, in "Reader's Digest" gelesen, dass die Ausrottung der Pocken nur ein bisschen mehr kosten würde als zwei Seeschiffe. Er erzählte, dass sich Rotary verstärkt im Gesundheitswesen engagieren möchte. Und dann kam die Frage: ob es Krankheiten gebe, deren Ausrottung John Sever für realistisch halte?
Sever erbat sich damals Bedenkzeit – und rief einen befreundeten Wissenschaftler an, Albert Sabin, den Mann, der in den Fünfzigerjahren die Polioschluckimpfung entwickelt hatte, die es möglich machte, Kinder ohne Nadelstich vor dem Virus zu schützen. Gerade einmal vier Cent kostete eine Dosis, zwei süße Tropfen.
In jenem Jahr, 1979, hatten die großen Industrienationen Polio schon fast vollständig zurückgedrängt, doch in den Entwicklungsländern wütete die Krankheit weiter. Ein Virus, das zu blanker Panik in der Bevölkerung geführt hatte, in Deutschland, den USA, Frankreich, Schweden. Das Kinder, eben noch kerngesund, binnen wenigen Tagen zu Krüppeln machte, Tausende in die Eiserne Lunge gezwungen hatte, jene Unterdruckkammern, in denen Patienten lagen, um nicht qualvoll zu ersticken. Es hat Menschen gegeben, die harrten 30 Jahre so aus, bevor sie doch am Virus starben.
Ein scheußlicher Erreger – mit einem Schwachpunkt: Polio kann sich nur in Menschen vermehren, nicht in Tieren. In der freien Natur besteht es etwa zwei Tage. Also kann Polio verschwinden, wenn man weltweit jeden Menschen impft, bis das Virus keinen Wirt mehr findet. Eine großartige Chance, eine irrwitzige Herausforderung.
Von 70 Millionen auf nahezu Null
2015 sagt John Sever, der Mann, der damals im US-Gesundheitsministerium arbeitete: "Meine Empfehlung war klar. Wenn es möglich sein sollte, ein weiteres Virus auszurotten, dann musste es Polio sein." Und so war es am Anfang noch keine Regierung und kein Staatenbund, die das Ziel fassten, Polio auszurotten. Sondern ein privater Klub reicher Menschen namens Rotary mit einer großen Idee.
Auch wegen der Bedenken über die Größe der Aufgabe dauert es noch weitere neun Jahre, bis die WHO im Mai 1988 die Resolution WHA41.28 erlässt: die Ausrottung des Poliovirus, weltweit. Dazu wird die Global Polio Eradication Initiative gegründet, ein Zusammenschluss aus Rotary, der WHO, dem Kinderhilfswerk Unicef und der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC. Es ist einer der größten internationalen Zusammenschlüsse öffentlicher und privater Partner in der Geschichte der Seuchenbekämpfung.
Im Jahr null der globalen Polioausrottung, 1988, haben 350.000 Menschen in 125 Ländern Kinderlähmung. Weil man schätzt, dass pro Erkranktem rund 200 Menschen mit dem Virus in Kontakt gekommen sind, ohne selbst zu erkranken, liegen die tatsächlichen Infektionszahlen 1988 viel höher – bei etwa 70 Millionen. Eine Zahl, die in den folgenden Jahren rapide sinkt. Bereits 1994 meldet die WHO Nord- und Südamerika als poliofrei. 1997 Australien, große Teile Südostasiens. 1998 Europa. Selbst China hat seit dem Jahr 2000 keinen Poliofall mehr registriert.
Von ursprünglich 125 Ländern waren bis zur Erkrankung des indischen Mädchens Rukhsar Khatoon nur vier Länder daran gescheitert, die Kinderlähmung zu tilgen: Pakistan, Afghanistan, Nigeria – und Indien. Ein Land, das immer als Schicksalsort im Kampf gegen Polio galt.
Denn Resolutionen der WHO sind nichts weiter als ein Versprechen. Rechtlich bindend können sie angesichts der Größe der Aufgaben nicht sein. Die indische Regierung braucht sieben Jahre, bis sie 1995 beschließt, ihren Teil des Versprechens vollständig einzulösen. Damals zählt das Land noch 3142 Polioneuerkrankungen mit Symptomen und knapp 630.000 Infektionen – etwa die Hälfte der Poliofälle weltweit. Eine globale Bedrohung, denn jeder Reisende aus Indien konnte das Virus theoretisch in sich tragen. Immer wieder kam es vereinzelt zu Polioausbrüchen in Ländern, die schon frei vom Virus waren. In Kriegsgebieten, wo die Impfquote gesunken war, aber beispielsweise auch einmal in den Niederlanden – in einer Gruppe von Impfverweigerern. Jedes Mal war das Virus eingeschleppt worden, und oft konnte gezeigt werden, dass es aus Indien stammte.
"Ich habe einen großen Fehler gemacht"
Als die indische Regierung nach Rukhsars Infektion die Urkunde mit dem Siegel "poliofrei" überreicht bekommt, bedeutet das: Endspurt im globalen Anti-Polio-Kampf. Und: weiterzittern. Denn das Nachbarland Pakistan bekommt seine Polioausbrüche nicht in den Griff. Bis heute grassiert dort – und weiterhin im Nachbarland Afghanistan, außerdem in Nigeria – die Kinderlähmung als Seuche.
Seit 2000 gibt es den Polio Eradication Heroes Fund. Er unterstützt Hinterbliebene finanziell. Wenn Hamid Jafari, der indische Poliobekämpfer, erklären möchte, wieso sich der Kampf lohnt, erzählt er davon, wie er am Anfang der Impfprogramme in die Slums seines Heimatlands gegangen ist. Ein Kind kroch auf dem Boden, deformiert von Polio. Ein Begleiter von Jafari fragte die Mutter: "Wie heißt dein Sohn?" Die Frau antwortete: "Der da? Dem haben wir keinen Namen gegeben." Und darauf, sagt Jafari, könne man nichts mehr sagen, sondern nur noch handeln.
Als Indien im März 2014 offiziell für poliofrei erklärt wurde, erschien ein Schneider im Dorf der kleinen Rukhsar und ihrer Eltern. Er kleidete sie alle neu ein. Dann fuhren sie nach Delhi, in einem Schnellzug mit Klimaanlage, und wurden einen Tag lang wie Touristen durch die Stadt kutschiert. Am zweiten Tag wurden sie zu der Veranstaltung gebracht, auf der die Regierung Indiens die Urkunde "poliofrei" überreicht bekommen sollte.
Vertreter von Rotary waren da, von Unicef, der WHO. Rukhsars Vater Abdul Shah erkannte den Bollywoodstar Salman Khan. Es gab ein Büfett, von dem Shah sagt, er habe noch nie so viel Speisen auf einmal gesehen und trotzdem nur einen Teller Hühnchen für die ganze Familie genommen. Dann wurde die Familie auf eine Bühne gebeten, und Abdul schüttelte die Hand eines Mannes, der ihn fragte: "Abdul, wieso hattest du dein Kind nicht geimpft?" Später sagten sie ihm, dass das der Präsident Indiens gewesen sei. Abdul Shah schämte sich.
Im Rückblick findet er, dass die vielen Besuche der Fremden, der Journalisten, der Politiker und Ärzte, in seinem Heimatdorf eine Strafe seien; aber eine, die er verdient habe. Er sagt: "Ich habe einen großen Fehler gemacht, weil ich meine Tochter nicht habe impfen lassen." Abdul Shah ist berühmt geworden, weil er seine Tochter nicht geimpft hat. Manchmal, sagt er, fühle er sich wie ein Idiot.
Dieser Text erschien zuerst in DER SPIEGEL 36/2015.
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