News des Tages: Zerborstener Aquadom in Berlin, Melanie Müller, Lionel Messi, Kylian Mbappé
1. Wenn die Realität Hollywood übertrifft
Es müssen apokalyptische Szenen gewesen sein, als am Morgen kurz vor sechs Uhr Berliner Feuerwehrleute in der Karl-Liebknecht-Straße ankamen. Der sogenannte Aquadom, ein Aquarium in Form eines riesigen Glaszylinders mit 1500 tropischen Fischen in einem echten Korallenriff und mit einem Fahrstuhl in der Mitte, stand seit Dezember 2003 innerhalb des Lichthofs eines Hotels. Es war das größte freistehende zylindrische Aquarium der Welt.
An diesem Morgen ist es zerborsten. Die Glassäule mit einem 14 Meter hohen Wasserpegel brach, eine Million Liter Wasser ergoss sich in die Lobby des Hotels und weiter auf die Straße. Als das Aquarium riss, waren 400 Menschen im Hotel, darunter Gäste und Mitarbeiter. Zwei Menschen wurden verletzt, die Fische starben allesamt. Der Ort gleicht einem Trümmerfeld.
»Die Ermittlung der Ursache ist natürlich noch nicht abgeschlossen, erste Anzeichen deuten wohl auf eine Materialermüdung«, sagte die Innensenatorin Iris Spranger.
Das Gebäude in der Nähe des Alexanderplatzes wurde bei dem Unfall stark beschädigt. Einsatzkräfte des Technischen Hilfswerks, darunter Baustatiker, überprüfen noch immer, ob tragende Elemente des Gebäudes beschädigt sein könnten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es noch einstürzt. Das plötzlich ausgelaufene Wasser hatte ein Gewicht von tausend Tonnen. »Es ist ein regelrechter Tsunami, der sich hier ergossen hat«, sagte Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey, als sie sich am Vormittag ein Bild von der Lage machte.
Mein Kollege Tim Neumann war nach dem Unglück vor Ort. Gäste des Hotels schilderten ihm, welche Assoziationen sie hatten, als sie den lauten Knall hörten. »Manche dachten an einen Terroranschlag, andere fühlten sich an das Attentat auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche 2016 erinnert«, erzählt Tim.
Die Tierschutzorganisation Peta forderte bereits, dass der Aquadom nicht wieder aufgebaut werden dürfe. »Die Zeiten, in denen Fische aus ihrer natürlichen Umgebung entrissen werden, um sie zur Belustigung von Hotelgästen in einen Tank einzusperren, müssen ein für alle Mal enden.«
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Lesen Sie hier mehr: »Wenn da Menschen gewesen wären, hätten wir heute zig Tote zu beklagen«
2. Die Schlägersängerin?
Glaubt man unserem Forum, dürfte der Text über die frühere Kandidatin von »Promi Big Brother«, »Dschungelcamp« oder »Der Bachelor«, Melanie Müller, niemanden interessieren. »Wer ist Melanie Müller? Ich dachte, die hieße Lieschen«, schrieb jemand. »»Erhellender Beitrag« zu Themen, die, bitte, wie viele (?) hier im Spiegel interessieren?«, jemand anders. Oder: »Wer interessiert sich für Melanie Müller? Bis zu diesem Artikel hatte ich noch nie etwas von dieser Person gehört.«
Doch offenbar kennen die Reality-TV-Darstellerin eine ganze Menge Menschen, denn der Artikel zählt seit seiner Veröffentlichung zu den meistgelesenen. Natürlich muss man nicht über die Frau berichten, solange sie sich unauffällig in ihrem Metier bewegt. Problematisch wird es, wenn sie dort nicht unauffällig bleibt.
Seit Sommer wird gegen die Schlagersängerin wegen des Verdachts der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen ermittelt. Bei einem Auftritt im Sommer vor der Leipziger Hooligan-Gruppe »Rowdys Eastside« hielt sie ihren Arm mehrmals so, dass man die Geste nur mit viel gutem Willen nicht als Hitlergruß interpretieren kann.
Meine Kollegin Sara Wess bekam daraufhin einen Hinweis auf einen weiteren Auftritt von Müller. Ein im August entstandenes Video zeigt die Entertainerin bei einem Boxkampf des Kampfsportzirkels »Frontière – Respect of the Streets«. Sie sei »begeisterter Boxfan« erklärt Müller und »dorthin eingeladen« worden.
Saras Recherchen legen nahe, dass der Veranstalter enge Verbindungen in die Nazi-, Hooligan- und Rockerszene pflegt. Steffen S., einer der Gründer, trägt einen NS-Adler sowie die Worte »Deutscher Kämpfer« in Fraktur als Tattoos. Einer der Hauptsponsoren, Alexander O., ließ sich eine schwarze Sonne stechen, ein Symbol der SS, das von Neonazis häufig als Ersatzsymbol für das verbotene Hakenkreuz verwendet wird. Auf seinem linken Oberarm prangen zudem zwei doppelte SS-Siegrunen, ein SS-Division-Totenkopf sowie der Schriftzug »Blut und Ehre«. Die letzten drei Motive stehen in Deutschland unter Strafe.
Das ist offenbar die Gesellschaft, in der sich Müller so bewegt. Und ich finde, all jene Menschen, die sie im Fernsehen in den entsprechenden Formaten gern sehen (und das sind nicht wenige), sollten das wissen.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Video zeigt Melanie Müller in rechtsradikalem Milieu
3. Wenn mit dem Ball der Rubel rollt
Am Sonntag endet endlich die Fußballweltmeisterschaft. Im Finale stehen Lionel Messi und Kylian Mbappé – ähm, Argentinien und Frankreich. An solchen Tagen, an denen die sportlichen Talente gepriesen werden, vergisst man oft, womit solche Stars sonst auch die Schlagzeilen bestimmten: Mbappé zum Beispiel spielte zunächst beim AS Monaco, dort wurde er für mehr als 180 Millionen Euro abgelöst. Vor seinem Wechsel zum FC Paris Saint-Germain – so fanden es meine Kollegen Michael Wulzinger und Rafael Buschmann sowie ihr Team von Football-Leaks schon 2018 heraus – rief der Wunderfußballer insgesamt 55 Millionen Euro auf: Fünf Millionen Euro allein für seine Unterschrift, 50 Millionen Euro als Gehalt für einen Fünfjahresvertrag – und zwar netto.
Der heute 23-Jährige forderte damals auch, dass der Klub ihm 50 Stunden im Jahr einen Privatjet stellen sollte. Profitiert von alldem hat neben Mbappé vor allem der russische Oligarch Dmitrij Rybolowlew, Besitzer des AS Monaco. Er allein bekam von den 180 Millionen Euro Wechselgeld rund 124 Millionen Euro ab. Solche Geschäfte vergisst man halt gern mal an solch einem Finaltag…
Vielleicht ist das auch der Grund, warum sich die klugen Kinder meines Kollegen Christoph Scheuermann partout nicht für die WM und den Kommerz interessieren, wie Christoph in seiner Mini-Kolumne schreibt:
»Ich habe es zunächst mit einem motivierenden Ton versucht. Hey, es ist Fußball-WM, ihr dürft spät ins Bett. Es gibt Gurkensnacks und Chips! Aber meine Kinder hatten keine Lust. Sie haben sich, vermutlich aus Mitleid mit mir, 20 Minuten zu einem Vorrundenspiel ins Wohnzimmer gesetzt. Wales gegen England. Dann fingen sie an, laut die Rückennummern der Spieler vorzulesen. Irgendwann habe ich gesagt: Entweder ihr zählt leise oder ihr geht raus.
Ich verstehe nicht, warum sie sich selbst dann nicht für die WM interessieren, wenn sie abends bis um zehn aufbleiben dürfen, um fernzusehen. Unsere Tochter ist acht, unser Sohn wird bald sechs. Wir schauen mit ihnen ein Mal in der Woche einen Film, manchmal auch nichts. Ja, so anstrengende Eltern sind wir. Dafür dürfen sie keine Cola trinken. Ich fand immer, man muss die Kleinen möglichst früh gegen sich aufbringen, damit sie später ein Thema haben, gegen das sie rebellieren können. Sie sollten sich zu kritischen Wesen entwickeln. Aber nicht so kritisch.
Nach einer Viertelstunde rief mein Sohn: »Papa, das ist scheiße langweilig.« Ich rief: »Langweilig sagt man nicht!« Er hatte offenbar nicht begriffen, wozu eine WM da ist: damit sein Vater ihm erklärt, wer gut spielt, wer nicht und was man bei der Aufstellung hätte besser machen können. Ich wollte Neugier säen und habe Gleichgültigkeit geerntet. Meine Seele blutet. Das Leben ist grausam. Zum Glück ist das Turnier bald vorbei.«
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Lesen Sie hier mehr: Kein Bock aufs Finale Warum boykottieren meine Kinder die WM?
Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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EU-Kommission erlaubt Verstaatlichung von Uniper und Gazprom Germania: Um die Gasversorgung zu sichern, hat die Regierung Uniper und Gazprom Germania übernommen – genehmigt von der EU-Kommission. Unter anderem, weil unterschiedliche Ministerien für die Firmen zuständig sind.
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Putin wird Kriegspartner Lukaschenko treffen, meldet Minsk: Belarus ist der einzige Verbündete Russlands im Ukrainekrieg, trotzdem war Kremlchef Putin seit Jahren nicht in Minsk. Nun kündigt Diktator Lukaschenko ein Treffen an – schon am Montag.
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USA weiten Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland aus, Rot-Kreuz-Helferin in Cherson getötet: Die US-Regierung startet ein neues Programm, um ukrainische Soldaten auf deutschen Schulungsplätzen auszubilden. Präsident Selenskyj berichtet von 16 Bombenangriffen auf Cherson – an einem Tag. Die jüngsten Entwicklungen.
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
Was heute sonst noch wichtig ist
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Neuer Sabotageangriff auf Steuersysteme der Bahn – Staatsschutz ermittelt: Die Bahn ist erneut Opfer eines Sabotageangriffs geworden. Nach SPIEGEL-Informationen durchtrennten Unbekannte in Essen mehrere Kabelverbindungen und sorgten so für Ausfälle im Steuerungssystem.
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Twitter sperrt Konten prominenter US-Journalisten: Betroffen sind unter anderem die »New York Times« und die »Washington Post«: In den USA sind die Twitter-Accounts mehrerer Reporter gesperrt worden. Sie eint eins: Sie haben über den neuen Firmenchef berichtet.
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Tausende Geheimdokumente zur Ermordung von John F. Kennedy freigegeben: US-Präsident Biden lässt Tausende weitere geheime Unterlagen zum Attentat auf John F. Kennedy veröffentlichen. Eine »begrenzte« Zahl von Dokumenten bleibt aber weiter unter Verschluss – wegen der nationalen Sicherheit.
Meine Lieblingsgeschichte heute:
Edle Einfalt, stille Größe – das ist die Kurzversion einer Erklärung meines Kollegen Guido Mingels , warum das Berliner Restaurant »Borchardt« seit über 30 Jahren als angesagtester Ort der Hauptstadt gilt, wenn man gesehen werden will oder selbst Voyeur ist. Ich weiß nicht, wie viele Koalitionen dort schon ausgelotet, wie viele beschlossen, wie viele beerdigt wurden. Nicht nur für Bundespolitiker gilt der Laden als die Kantine der Republik, auch wenn Landespolitiker mal in die große Stadt fahren, zeigen sie sich dort, um Wichtigkeit und Weltläufigkeit zu demonstrieren. Das geht mitunter gehörig schief. Christian Lindner ist das passiert, als er – noch nicht Finanzminister – vor dem Borchardt maskenlos den Honorarkonsul von Belarus innigst umarmte. Zuvor hatte er drinnen mitten in der Coronapandemie so dicht mit rund 300 anderen Personen gefeiert, dass die Polizei anrückte und ein Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen Verstoßes gegen die Coronaverordnung gegen das Borchardt einleitete.
Den Chef des »Promi«-Ladens beschreibt Guido im neuen SPIEGEL als kauzigen Eigenbrötler. »Ich möchte mich nicht als Chef haben«, sagt Roland Mary über sich selbst. Doch so unprätentiös sich der Mann auch gibt, wenn er von seinem Leben vor dem Borchardt als Kommunenbewohner erzählt, so kokett scheint er auch zu sein. Auf Nachfrage lässt er Aktenordner auf einem Konferenztisch stellen, darin sämtliche Presseartikel über sämtliche Mary-Lokale, alle Gastrokritiken, Ausgehtipps, Mary-Porträts. Insgesamt 71 Ordner. Vielleicht ist das der wahre Grund, warum der Laden bis heute so brummt: Der Inhaber ist wohl genauso eitel wie sein Publikum.
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Lesen Sie hier die Langversion von Guidos Erklärung: Dreimal Schnitzel!
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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EU-Ermittler nehmen Frontex-Spitze ins Visier: Das EU-Antibetrugsamt OLAF ermittelt nach SPIEGEL-Informationen erneut gegen Frontex. Auch für Interimsdirektorin Aija Kalnaja, die sich zur neuen Chefin wählen lassen will, interessieren sich die Ermittler .
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Kommt die Winteroffensive der Ukraine? Mit gezielten Angriffen hinter feindlichen Linien bereitet Kiew wohl eine neue Offensive vor. Sie könnte eine der schwersten in diesem Krieg werden: Russland scheint aus der letzten großen Niederlage gelernt zu haben .
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Mord im Bordell – Raja, Sakina und die 17 verscharrten Frauen: Zwei Schwestern im Rotlichtmilieu von Alexandria wurden als Serienmörderinnen zu Ikonen des Bösen. Töteten sie wirklich Prostituierte wegen ein paar goldener Armreife? Gut hundert Jahre später kursieren ganz andere Deutungen .
Was heute weniger wichtig ist
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Nächte Lalltestelle: Ich war gestern beruflich in Stuttgart, habe meine Wege aber Gott sei Dank zu Fuß zurückgelegt. Andernfalls wäre ich vielleicht Passagier eines sturzbetrunkenen S-Bahnfahrers geworden, der in der Schwabenmetropole an mehreren Stationen einfach vorbeifuhr, dort wo er hielt, ließ er die Türen verschlossen, bei seinen Durchsagen lästerte über seinen Arbeitgeber. So was soll auch schon bei nüchternen Mitarbeitern vorgekommen sein, doch dieser hatte 2,8 Promille intus.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: Seit diesem Donnerstag sind die weiteren Folgen der Dokumention nun abrufbar – und die darin von Meghan und insbesondere Harry erhobenen Anschuldigen taugen dazu, das Verhältnis zu den Roysls in England langfristig zu zerrütten.
Cartoon des Tages: Sonnenenergie
Und am Wochenende?
Auf die üblichen Ratschläge werde ich verzichten, da kommen Sie selbst drauf: Kerze zum vierten Advent anzünden, Plätzchen backen, Weihnachtsbaum schlagen oder im Baumarkt kaufen. Wenigstens hier gibt’s mal gute Nachrichten: Benjamin Schneebecke (heißt wirklich so), Erster Vorsitzender des »Verbandes natürlicher Weihnachtsbaum« (gibts wirklich), sagt, die Preise seien gegenüber dem Vorjahr stabil geblieben. Im Schnitt kostet der laufende Meter Nordmanntanne 20 bis 27 Euro – sofern Sie nicht in Hamburg oder München leben, dort dann das Ganze x 2).
In vielen Haushalten wird das letzte Wochenende vor Weihnachten ohnehin weniger besinnlich, sondern stressig, ob der vielen Dinge, die noch erledigt werden müssen.
Wenn Sie dann abends groggy aufs Sofa fallen, empfehle ich Ihnen ein Konzert. Für alle, die schon immer mal in die Elbphilharmonie wollten, ist heute der Tag gekommen. Vor einiger Zeit gastierte der britische Popmusiker Robbie Williams in dem Hamburger Konzerthaus. Ich beneidete meinen Kollegen Wolfgang Höbel damals , der bei der von der Telekom als »Street Gig« vermarkteten Sause dabei war und schrieb: »Viel weiter weg vom Schmutz der Straße als im Hochkulturspeicher in der sogenannten Hafencity kann man sich kaum vergnügen. … Beim Song »The Road To Mandalay« ist Williams so gerührt vom gloriosen Orchesterkrawall, dass er sich ausdrücklich für die Liveversion bedankt. Man merkt: Hier wird gejammt auf höchstem Niveau.«
Das Konzert ist hier im Stream abrufbar. Sollten Sie die Möglichkeit haben, Ihr Internet mit Ihrer Musikanlage zu verbinden, tun Sie das! Drehen Sie auf. Es sind fantastische 90 Minuten, die wirken wie ein Klubkonzert, so intim, so nahbar, so ehrlich.
Haben Sie ein beschwingtes Wochenende!
Herzlich
Ihr Janko Tietz