Minneapolis: Unruhen nach Tod von George Floyd haben nationale Bedeutung

Stadt in Flammen: Ein brennendes Gebäude in Minneapolis
ADAM BETTCHER/ REUTERS
"Der Normalzustand funktioniert nicht mehr", sagt Tim Walz. "Der Normalzustand funktioniert schon lange nicht mehr."
Walz ist Gouverneur von Minnesota. Der US-Demokrat steht sichtlich schockiert vor der Presse. Über Nacht war Minneapolis, die größte Stadt seines Bundesstaats, von schweren Protesten und Ausschreitungen erschüttert worden. Es gab Zusammenstöße und Plünderungen, ein Polizeirevier brannte nieder – weltweit übertragene Szenen, die ein horrendes Bild von den USA zeichneten.
Der "Auslöser, der diesen Funken zündete", so Walz, war der Tod des Schwarzen George Floyd am Montag. Vier weiße Cops hatten den 46-Jährigen brutal in die Mangel genommen. Sie wurden zwar gefeuert, aber tagelang nicht weiter belangt – obwohl Handy-Videos ihr Vorgehen klar dokumentieren.
Erst an diesem Freitagnachmittag verhafteten die Behörden zumindest Derek Chauvin – den Beamten, der Floyd minutenlang das Knie auf den Hals gepresst hatte – und klagten ihn wegen Mordes an. Gegen die anderen Polizisten wird weiter ermittelt.
Es ist nur ein erster Schritt. Denn da entlädt sich gerade noch viel mehr. Eine "Generationen des Schmerzes", so nennt Walz das. Es ist Frustration und Wut – über den anhaltenden Rassismus in den USA, der sich immer wieder auch, aber nicht nur in polizeilichen Übergriffen offenbart, über die Coronakrise, die benachteiligte, schutzlose Minderheiten am schwersten getroffen hat, über Washington, das vor allem diese Leute wieder zur Arbeit zwingen will.
Und eben auch über US-Präsident Donald Trump, der das "doppelte Virus" – Corona und Rassismus – in den Augen vieler ignoriert oder duldet.
Am Freitagmorgen heizte Trump die brisante Lage sogar noch an, indem er den "Gangstern" in Minneapolis auf Twitter mit Gewalt drohte und dabei die Worte eines rassistischen Polizeichefs zitierte: "When the looting starts, the shooting starts." Erstmals markierte Twitter – mit dem Trump ohnehin gerade auf Kriegsfuß steht – diese offiziellen Kurznachrichten sowie einen wörtlichen Retweet des Weißen Hauses als "Gewaltverherrlichung".
Später versuchte Trump seine Tweets als "Fakt" zu relativieren: "Plündern führt zu Schießerei." Bei einem Auftritt vor Journalisten im Rosengarten des Weißen Hauses verlor er dann aber kein Wort mehr über Minneapolis.
So taumeln die USA vorerst führungslos durchs Chaos. "Das Kapitel, das diese Woche geschrieben wurde, ist eines unserer dunkelsten Kapitel", sagt Gouverneur Walz unter Verweis auf die historische Diskriminierung von Afroamerikanern. "Jedesmal sagen wir, dass das nie wieder geschehen soll."
Und jedesmal passiert am Ende – nichts. Bürgerrechtler hoffen nun aber, dass Minneapolis endlich eine Wende bringt. Zumindest scheint der Fall Floyd klarer als andere, vergleichbare Beispiele von Polizeigewalt zuvor.
"I can't breathe!"
Mehrere inzwischen aufgetauchte Augenzeugen-Videos zeigen, wie die Cops den Unbewaffneten zu Boden zwangen. Drei beugen sich über Floyd, Chauvin hockt sich auf seinen Hals, obwohl Floyd rief: "I can't breathe!"
Selbst Cops zeigten sich empört über den Vorfall. "Was wir auf diesem Video gesehen haben, widerspricht allem, was wir gelernt haben, nicht nur als Rekruten oder Polizeibeamte, sondern als Menschen", erklärten die drei Polizeigewerkschaften von San Francisco, Oakland und San Jose. "Wir sehen keine Rechtfertigung für das, was geschah."
"Was zum Teufel tut ihr da?", schrieb die Kongressabgeordnete Val Demings, selbst eine ehemalige Polizistin, in der "Washington Post". Das Verhalten der Cops in Minneapolis sei "dumm, herzlos und rücksichtslos" gewesen und habe "unwiderruflichen Schaden" angerichtet.
Wie genau die nächtlichen Unruhen eskalierten und wer dafür verantwortlich war, blieb zunächst unklar. Während sich Hunderte Demonstranten zu friedlichen Mahnwachen versammelten, lief die Situation vor einem Polizeirevier aus dem Ruder. Die Wache wurde gestürmt, die Cops gaben auf und rasten in ihren Streifenwagen weg – auf Anordnung von Bürgermeister Jacob Frey, wie dieser später sagte. Das Gebäude ging in Flammen auf, Gouverneur Walz rief die Nationalgarde zu Hilfe.
Auch Journalisten kamen nicht ungeschoren davon. Ein CNN-Team um den – schwarzen – Reporter Omar Jimenez wurde vor laufenden Kameras festgenommen, doch wieder freigelassen. Ein weißer CNN-Kollege in der Nähe blieb unbehelligt. Gouverneur Waltz entschuldigte sich – bei dem Sender und allen Journalisten: "Das ist unverzeihlich."
Die Proteste griffen schnell von Minneapolis aufs ganze Land über. Auch im benachbarten Saint Paul, der Haupstadt von Minnesota, kam es zu Unruhen und Vandalismus. Das Kapitol von Colorado in Denver wurde abgeriegelt, nachdem bei einer Demonstration davor Schüsse gefallen waren, außerdem raste offenbar ein SUV in die Menge. In Louisville in Kentucky wurden sieben Menschen angeschossen. In Los Angeles und New York wurden Dutzende Protestler bei Rangeleien festgenommen.
Ob die kommende Nacht ruhiger wird, ist jedoch völlig offen. Zu sehr ähnelt Minneapolis früheren Brandherden wie Ferguson – jenem Vorort von Saint Louis in Missouri, der 2014 nach dem Tod des Teenagers Michael Brown in wochenlangen Unruhen versunken war. Getan hat sich seither kaum etwas.
Nach Ferguson hatte die US-Regierung unter Präsident Barack Obama Polizeireformen veranlasst und insgesamt 14 örtliche Behörden staatlicher Aufsicht unterworfen. Nach Trumps Amtsantritt verwässerte der damalige Justizminister Jeff Sessions diese "consent decrees" jedoch wieder stark.
Es ist klar, wo die Loyalitäten Washingtons zurzeit liegen.
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