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Mehrwertsteuer wird gesenkt: Doch der Handel floriert auch so

July 01
20:51 2020
Ikea-Filiale in Berlin: Optimierungsbedarf in den eigenen vier Wänden Icon: vergrößern

Ikea-Filiale in Berlin: Optimierungsbedarf in den eigenen vier Wänden

Stefan Zeitz/ imago images

Beinahe idyllisch liegt das Autohaus Sobkowski am Rande der Siedlung an der Holländerstraße am südlichen Zipfel von Berlin-Reinickendorf. Ein lichtdurchfluteter Kasten aus Glas und Stahl, so wie Architekten sich Autohäuser in diesen Zeiten vorstellen. Viel Betrieb ist nicht an diesem Mittwochvormittag. Am Rande der Ausstellungsfläche sitzen die Mitarbeiter – mit Telefon am Ohr oder konzentriertem Blick auf den Bildschirm. Ein Wink mit der Hand zeigt jedoch schnell, dass man nicht unbemerkt bleibt.

Die Ruhe täuscht offenbar: "In den Mittagsstunden und am frühen Nachmittag sind regelmäßig deutlich mehr Interessenten zu Besuch", erklärt Firmenchef Oliver Sobkowski. Und seit den Lockerungen der Corona-Regeln laufe das Geschäft wieder sehr gut. "Der Juni war mit Abstand der beste Monat, den wir in diesem Jahr hatten."

Dass der Familienunternehmer die große Nachfrage lobt, mutet auf den ersten Blick überraschend an. Zu tief sitzt noch der Schock, den Industrie und Handel durch den Lockdown Mitte März erlitten haben. Viele Betriebe wissen immer noch nicht, ob sie die Krise wirtschaftlich überleben werden.

Das 130 Milliarden Euro schwere Konjunkturpaket der Bundesregierung sollte den Absturz verhindern. Als wichtigstes Instrument, um die Kunden wieder in die Geschäfte zu locken, sollte die Absenkung der Mehrwertsteuer dienen. Für sechs Monate nur, von 19 auf 16 Prozent und von sieben auf fünf Prozent beim ermäßigten Satz. Seit diesem Mittwoch ist die Änderung in Kraft.

Doch wie es aussieht, hat kaum eine Branche wirklich darauf gewartet. Zwar spricht der Handelsverband Deutschland (HDE) von einem "positiven Zeichen" für die Binnenkonjunktur. Insgesamt aber habe er "gemischte Gefühle", sagt Geschäftsführer Stefan Genth. Der Aufwand für die Umstellung – und den Dreh zurück in einem halben Jahr – sei immens. Hinzu kämen bei vielen Händlern zusätzliche Kosten in der Coronakrise, etwa für Logistik oder Beschaffung.

Das alles werde sich im Preis wiederfinden, auch wenn viele Händler allein schon durch den Konkurrenzdruck den Steuervorteil an ihre Kunden weitergeben dürften. Insgesamt, sagt Genth, profitierten Handelsunternehmen so nur wenig: "Die Absenkung allein wird den Einzelhandel nicht retten, obwohl sie den Steuerzahler 20 Milliarden Euro kostet."

Rettung ist vielleicht auch gar nicht nötig. Denn die Post-Corona-Geschäfte laufen vielerorts ohnehin schon wieder sehr gut. Rund die Hälfte der Einzelhändler haben laut HDE nach den Lockerungen vom Nachholbedarf ihrer Kunden profitiert. Einige meldeten sogar das größte Umsatzplus seit einem Vierteljahrhundert. Der Onlinehandel etwa verzeichnete laut Statistischem Bundesamt im Mai ein Umsatzplus von 29 Prozent gegenüber dem Vorjahr, beim Lebensmitteleinzelhandel lag die Steigerung bei knapp fünf Prozent.

Vor allem stationäre Modehändler, aber auch Sportartikler haben es indes schwer. Mehr als ein Drittel der Nicht-Lebensmittelhändler sieht laut einer HDE-Umfrage wegen der massiv gesunkenen Umsätze seine Existenz bedroht.

Zu den Gewinnern zählt zweifelsohne die Fahrradbranche. Sie eilt ohnehin seit Jahren von einem Rekord zum nächsten – und hat dank Corona nun eine Sonderkonjunktur. Seit Wiedereröffnung der Läden erleben die Händler einen regelrechten Run, vor allem bei den E-Bikes. Das verlorene Frühjahrsgeschäft ist längst wieder drin, zudem berichten viele Unternehmen von neuen Käuferschichten, weil die Menschen statt Bus und Bahn nun mit dem Rad zur Arbeit fahren. "Nach der Öffnung hatte der Handel im April Mehrverkäufe von 20 bis 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Der Mai war der stärkste Monat jemals", sagt David Eisenberger vom Zweirad-Industrie-Verband. Bis zum Ende des Jahres sollen die Verkäufe auf dem sehr guten Vorjahresniveau liegen.

"Wir hätten die Steuersenkung nicht gebraucht"

Einen reduzierten Mehrwertsteuersatz braucht die Fahrradbranche derzeit wohl kaum. "Ich bezweifle, dass die Steuersenkung der Auslöser zum Kauf ist", sagt Thomas Kunz, Geschäftsführer beim Verband des Deutschen Zweiradhandels. "Wenn, dann macht sich der Rabatt überhaupt nur bei den E-Bikes bemerkbar." Der Aufwand für die Händler allerdings sei immens. Kassen müssten umgestellt, alle Waren neu etikettiert werden. "Das sind mehrere Tausend Euro Kosten pro Betrieb, das geht direkt von der Marge weg. Und das alles, um es dann in einem halben Jahr wieder rückgängig zu machen", sagt Kunz. "Wir hätten die Steuersenkung nicht gebraucht. Geschäft hätten wir auch so gemacht."

Auch in der Möbelbranche läuft es viel besser als erwartet. "Seit der Wiedereröffnung der Möbelhäuser greifen die Kunden gezielt, aber freudig zu", sagt Jan Kurth vom Verband der Deutschen Möbelindustrie. Viele Kunden hätten in den vergangenen Monaten ausgemistet, sähen daheim nun "Optimierungspotenzial" – und gäben das, was sie beim Urlaub in diesem Jahr sparten, etwa für eine neue Küche oder ein frisches Sofa aus.

Das sieht auch Christiane Mußhoff so, die das Magazin in Bonn leitet, ein alt eingesessenes Möbelgeschäft, das zur Manufactum-Gruppe gehört. "Wir geben den Steuernachlass vollständig weiter", erklärt Mußhoff, "auch wenn für die Kunden genau gerechnet nur 2,521 Prozent Nachlass übrig bleiben." Wegen des Konjunkturpakets hätten einige Kunden ihren Einkauf verzögert. "Mir ist aber niemand bekannt, der seine Entscheidung für ein Sofa tatsächlich von der Mehrwertsteuersenkung abhängig gemacht hat."

Noch im April hatte sich das ganz anders angehört: Die Branche vermeldete mitunter einen Rückgang bei den Aufträgen von bis zu 60 Prozent. Während der Corona-Schließung verloren Industrie und Handel über 20 Prozent ihres Umsatzes. Bis Ende des Jahres soll ein wesentlicher Teil davon wieder aufgeholt sein. Denn schon seit Wiedereröffnung der ersten Läden Ende April wird kräftig eingerichtet – drinnen wie draußen.

Der Möbelriese Ikea etwa, der hierzulande 53 Filialen betreibt und im vergangenen Jahr 5,3 Milliarden Euro umsetzte, spricht von einer "erfreulichen Umsatzentwicklung", sowohl im Onlineshop als auch in den Einrichtungshäusern. Man habe "keine Indizien dafür, dass die Kunden geplante Anschaffungen in den letzten Wochen vermehrt zurückgehalten hätten, um auf die Reduzierung der Mehrwertsteuer zu warten", so eine Sprecherin auf Anfrage. Aber natürlich freue man sich über weitere "positive Impulse" durch die Steuersenkung.

Verpuffen also am Ende die 20 Milliarden Steuereinnahmen, auf die der Bund durch die reduzierte Mehrwertsteuer verzichtet, weil die Verbraucher ohnehin kaufen? Tatsächlich könnte der von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) erhoffte zusätzliche "Wumms" für die Binnenkonjunktur womöglich ausbleiben.

Der Handelsverband fordert denn auch schon eine Verlängerung des Geschenks: "Ein halbes Jahr Steuersenkung ist viel zu kurz, um wirkliche Effekte zu sehen", sagt HDE-Geschäftsführer Genth. "Die entstünden erst, wenn die Senkung über den 31. Dezember hinausginge." Dass nämlich der Steuerrabatt Ende des Jahres ausläuft, wie von Scholz bislang hartnäckig behauptet, gilt im Handel keinesfalls aus ausgemacht. Schließlich ist 2021 Bundestagswahl. "Da gelten andere Regeln. Und vielleicht denkt die Politik dann noch einmal über eine Verlängerung nach", hofft Genth.

Luxus ist irrational

Doch es gibt sogar Branchen, denen das gar nicht so recht sein dürfte: zum Beispiel die Luxusgüterhersteller. Zwar läuft das Geschäft seit Monaten mau, die Branche beklagt Umsatzeinbrüche von bis zu 40 Prozent – vor allem, weil China und die Golfstaaten durch die Krise zwischenzeitlich als Abnehmer komplett ausfielen.

Doch von großer Freude über das Steuergeschenk der Bundesregierung ist auch hier nicht viel zu spüren: "Die Kunden werden nicht wegen drei Prozent weniger Mehrwertsteuer die Läden stürmen", sagt Jean-Claude Biver, Präsident des Schweizer Luxusuhrenherstellers Hublot. Schließlich sei Luxus irrational. Es gehe dabei um das Design, die Einzigartigkeit, den Status. Drei Prozent Rabatt? "Das wäre ja ein rationales Argument. Wer so denkt, der kauft sich eine Uhr für 100 Euro, nicht für 10.000", sagt Biver.

Tatsächlich hat seine Branche sogar ein Problem mit Rabatten, gilt der Preis doch bei gut betuchten Käufern als Differenzierungsmerkmal: je teurer die Uhr, die Tasche, das Kostüm, desto seltener und exklusiver. "Mit dem Preis werden der Zugang zu einer Rarität und das Prestige gesteuert", sagt Richard Federowski, Luxusexperte der Unternehmensberatung Roland Berger. Die Hersteller seien deshalb sehr erpicht darauf, dass ihr vorgegebener Preis nicht unterboten werde. "Für die Händler wird es so sehr schwierig bis unmöglich, die Mehrwertsteuersenkung als Anlass für Preisaktionen zu nehmen." Wenn überhaupt, glaubt Federowski, dann dürften die drei Prozentpunkte Steuergeschenk im unteren Luxussegment ein paar Käufer anlocken. "Aber im High-End-Bereich, bei sechsstelligen Summen, müssen andere Mechanismen greifen."

So bleibt die Frage, ob die Steuersenkung überhaupt bei den richtigen ankommt. Autohändler Sobkowski ist da skeptisch. "Viel zu viele profitieren davon, die überhaupt nicht darauf angewiesen sind", sagt der Berliner. "Die kleinen Einzelhändler, die in ihrer Existenz bedroht sind, haben dagegen überhaupt nichts davon. Und die Betreiber von Gaststätten und Bars erst recht nicht."

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