Nachrichten in der Welt


Nachrichten der Welt

Libanon: Wie ausländische Arbeitskräfte unter dem Kafala-System leiden

June 12
00:12 2020
Jenny (Name geändert) aus Ghana: "Für sie war ich kein Mensch, für sie war ich ein Tier" Icon: vergrößern

Jenny (Name geändert) aus Ghana: "Für sie war ich kein Mensch, für sie war ich ein Tier"

Thore Schröder

Eine Mülltüte mit etwas Kleidung – mehr konnte Vanessa* nicht packen, als sie flüchtete. "An meine Koffer kam ich nicht heran, es musste ja schnell gehen. Meine Madame war nur kurz vor der Tür", sagt die 27-Jährige aus Ghana über den Abend Ende 2019, als sie ihren Peinigern im Libanon entkam. Vor der Tür wartete das Fluchttaxi.

Vier Monate lang hatte Vanessa nach eigenen Angaben bei einer libanesischen Familie in der Küstenstadt Byblos gelebt. "Ich musste auf einer Luftmatratze im Wohnzimmer schlafen. Essen gab es nur einmal am Tag", sagt sie. Bald habe sie nicht nur das Haus, sondern auch die Geschäftsräume der Firma putzen müssen, sagt sie. "Von morgens sechs bis nachts um zehn, sieben Tage in der Woche habe ich geschuftet. Ich war abgemagert wie eine Kranke, hatte ständig Schmerzen." Statt der verabredeten 300 habe sie für ihre Arbeit nur 200 Dollar monatlich bekommen. "Und am Ende zahlten sie gar nicht mehr."

Vanessa sitzt in einem dunklen Zimmer in einem Wohnblock an der Küstenautobahn. Es ist laut, die Luft ist schlecht. Vanessa teilt sich das Zweibettzimmer mit zwei anderen Afrikanerinnen, auch sie sind aus dem Kafala-System geflüchtet. Der SPIEGEL hat mehrere Betroffene getroffen, darunter auch Vanessa. Ihre Schilderungen sind plausibel und decken sich mit den Erkenntnissen von Experten und Hilfsorganisationen zum Kafala-System, lassen sich aber im Detail nicht nachprüfen.

Kafala ist arabisch und bedeutet Bürgschaft. Ausländische Arbeitskräfte werden für libanesische Familien in ihren Heimatländern – direkt oder über Agenturen – angeworben. "Das System ist unterreguliert und intransparent", sagt Zeina Mezher von der International Labor Organization (ILO), eine Unterorganisation der Uno.

Das liegt auch daran, dass es für eine Person oft drei verschiedene Verträge gibt:

  • zwischen der Arbeitskraft und einer Agentur im Heimatland

  • zwischen dem Arbeitgeber und der Agentur im Libanon

  • zwischen der Arbeitskraft und dem Arbeitgeber

Was im Heimatland zugesichert wurde, kann im Libanon nichtig sein; das gilt für Bezahlung, Dauer der Anstellung, Arbeitszeit und vieles mehr. In jedem Fall muss der Sponsor oder Bürge (Kafil) die Rekrutierungskosten übernehmen. Darunter fallen in der Regel die Kosten für die Reise, für die Agenturen, für Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, den Arbeitsvertrag, medizinische Vorab-Tests und Versicherung. Außerdem ist der Kafil für Unterbringung und Verpflegung verantwortlich. Der Bürge übernimmt die volle wirtschaftliche Verantwortung, der Staat hält sich heraus.

"Ihr gesamtes persönliches und soziales Leben wird vom Sponsor geregelt"

Damit befinden sich die Hausangestellten in einem Abhängigkeitsverhältnis. Es ist kaum möglich, unbezahlten Lohn einzuklagen. Sie können ohne Erlaubnis des Bürgen den Arbeitgeber nicht wechseln oder ihren Aufenthalt verlängern. In der Praxis können sie oft nicht einmal ungefragt das Haus verlassen. "Ihr gesamtes persönliches und soziales Leben wird vom Sponsor geregelt", sagt Mezher, "jedenfalls gibt es keine festgeschriebenen Regularien, die das verhindern."

Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International schätzen, dass mehr als 250.000 Ausländer in Libanons Kafala-System leben, rund acht Prozent der Erwerbsbevölkerung.

Seinen Ursprung hat das System in den Golfstaaten, sagt Nasser Yassin, Migrationsforscher von der American University of Beirut (AUB): "Das Konzept stammt aus der Kultur der arabischen Stämme, wurde im Golf in großem Stil angewendet, weil die kleine Bevölkerung dort auf Expats angewiesen ist."

Im Libanon gab es nach dem Bürgerkrieg eine Wohlstandsphase. Damals konnten sich laut Yassin viele Libanesen eine ausländische Haushaltshilfe leisten. Durch die Bindung des Libanesischen Pfundes an den Dollar war die Arbeit im Libanon für viele Frauen aus armen afrikanischen oder asiatischen Ländern attraktiv. Jeden Monat konnten sie Devisen in die Heimat schicken.

Doch in den vergangenen Monaten ist die libanesische Wirtschaft kollabiert. Das Libanesische Pfund hat über 60 Prozent ihres Werts verloren, Dollars gibt es kaum mehr im Land. Die Coronakrise hat den Zusammenbruch beschleunigt und lässt die Ungerechtigkeiten des Kafala-Systems noch stärker hervortreten.

"Er sagte: 'Es gibt keine Jobs mehr. Du kannst nur als Sexarbeiterin Geld verdienen.'"

Nach ihrer Flucht kam Vanessa zunächst in einem Beiruter Armenviertel in einer Wohnung mit anderen Afrikanerinnen unter. Eine von ihnen hatte einen libanesischen Freund. "Er sagte: 'Es gibt keine Jobs mehr. Du kannst nur als Sexarbeiterin Geld verdienen.' Dann machte er Fotos von mir, bald traf ich meinen ersten Kunden", sagt Vanessa.

Ihre Eltern seien früh gestorben, erzählt die 27-Jährige. "Ich kam in den Libanon, um Geld für meine drei kleinen Geschwister zu verdienen", sagt sie, "aber natürlich nicht auf diese Art. Der Vermittler in Ghana hatte gesagt, dass die Bezahlung ordentlich sein wird, dass ich Freizeit bekomme, dass die Libanesen gut sind."

Bald verließ Vanessa die Wohnung in Beirut. Nun lebt sie nach eigenen Angaben schon seit ein paar Monaten mit zwei anderen Frauen zusammen in der Ein-Zimmer-Wohnung an der Schnellstraße. Ihre Mitbewohnerinnen wissen nicht, dass Vanessa ihr Geld noch immer durch Prostitution verdient: "Ich schäme mich, aber was soll ich machen? Eine Putzfrau kann sich keiner mehr leisten, da bleibt doch nur der Sex. Ich muss schließlich überleben."

Vanessa sagt, sie habe umgerechnet knapp 150 Dollar gespart. Ungefähr 700 Dollar wird sie für die Gebühren und das Ticket brauchen, um den Libanon zu verlassen. Wenn der einzige Flughafen wieder öffnet, einen Termin dafür gibt es noch nicht. "Die Botschaft wird meinen Pass für mich holen", glaubt sie. Noch liegen ihre Papiere nämlich bei den Bürgen in Byblos, auch das gehört zur Kafala-Praxis.

Viele Libanesen versuchen, ihre ausländischen Angestellten loszuwerden. Im April bot ein Mann seine nigerianische Haushaltshilfe in einer Facebookgruppe für 1000 Dollar "zum Kauf" an. "Sie ist 30 Jahre alt, aktiv und sehr sauber", schrieb er in seinem Post, für den er später wegen des Verdachts auf Menschenhandel festgenommen wurde.

Andere setzen ihre Arbeiterinnen einfach vor den Botschaften ihrer Länder ab. Am schlimmsten ist die Situation vor der äthiopischen Vertretung in Beirut. Hunderte Frauen drängen sich dort. Einige harren länger als eine Woche aus, ohne Lebensmittel oder sanitäre Versorgung, um dann zu erfahren, dass ihnen die Diplomaten auch nicht helfen können. Die Botschaft teilte auf Facebook mit, sie werde die Kosten für Rückreisen nicht übernehmen.

Die Bürgen werden fast nie zur Verantwortung gezogen

"Viele dieser Frauen leiden unter schweren Traumata", sagt eine Helferin der Organisation This is Lebanon. Farah Salkha vom Anti-Rascism Movement nennt Kafala "moderne Sklaverei". Laut libanesischen Behörden starben schon vor der jüngsten Verschärfung der Krise wöchentlich zwei ausländische Arbeiterinnen. Viele begehen demnach Suizid oder kommen bei gescheiterten Fluchtversuchen um. Die Bürgen werden fast nie zur Verantwortung gezogen.

Dabei werden die Frauen oft nicht nur ausgebeutet, sondern auch beleidigt und geschlagen. Davon berichtet etwa die 21-jährige Jenny*. Sie kam nach eigenen Angaben vor rund einem Jahr ebenfalls aus Ghana in den Libanon. In ihrer ersten Familie habe sie täglich von sieben Uhr morgens bis nach Mitternacht schuften müssen, sagt sie. "Dann wurde meine Mutter zu Hause krank und starb. Als meine Madame mich weinen sah, sagte sie, ich solle aufhören: 'Du bist hier, um zu arbeiten, nicht um zu trauern.'"

Der Wechsel in einen anderen Haushalt brachte keine Besserung, erzählt Jenny. "In der zweiten Familie musste ich auf dem Küchenboden schlafen. Der Mister schlug und trat mich. Der sechsjährige Sohn beschimpfte mich vor seiner Mutter. Nachts, als ich schlief, kippte er Wasser auf mich. Für sie war ich kein Mensch, für sie war ich ein Tier."

"Die einzige Lösung ist die Abschaffung dieses bösartigen Systems"

Das Schicksal der ausgebeuteten Ausländerinnen erregt im Libanon gegenwärtig viel Aufsehen – auch wegen der internationalen Black-Lives-Matter-Bewegung. Farah Salkha vom Anti-Rascism Movement sagt: "Die einzige Lösung ist die Abschaffung dieses bösartigen Systems."

Zeina Mezher von der International Labor Organization hält die Wirtschaftskrise zumindest für eine Chance für Strukturreformen: "Die Quote der beschäftigten Inländerinnen im Bereich Hausarbeit könnte steigen." Bisher gibt es auch für Libanesen, die Haushaltsarbeit oder auch Pflegedienste leisten, keinerlei Arbeitsschutz. Das könnte sich ändern.

Die Vorstellung, dass Kafala gänzlich verschwindet, hält Mezher aber für "allzu simpel." Es werde weiterhin eine – dann zwar kleinere – Gruppe libanesischer Familien geben, die sich eine ausländische Haushälterin leisten können. Es werde weiter die Vermittlungsagenturen geben, die davon profitieren. "Und es wird weiter Migranten geben, die in den Libanon kommen, weil sie einem Traum folgen und glauben, hier mehr Geld verdienen zu können als in ihren Ländern."

Jenny, die inzwischen einen Schlafplatz bei einer anderen Ghanaerin gefunden hat, will trotz allem bleiben. Gerade versucht sie, einen Tagesjob zu finden: "Ich kann noch nicht zurück, ich kann meinem Vater doch nicht erzählen, was mir hier passiert ist. Und ohne Geld zurückkehren, das geht auch nicht."

*Name geändert

Neueste Beiträge

21:57 Köln geht in Darmstadt unter: Eintracht schenkt Hertha mit zwei Riesenpatzern den Sieg

0 comment Read Full Article