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Libanon in der Krise: Weiter so in den Untergang

June 12
11:12 2020
Die Regierung lässt Wechselstuben schließen, um den Währungsverfall zu stoppen. Icon: vergrößern

Die Regierung lässt Wechselstuben schließen, um den Währungsverfall zu stoppen.

JOSEPH EID/ AFP

Die Währung im jähen Sturz, der Staat de facto pleite, die Wirtschaft in ihrer schwersten Krise seit Jahrzehnten – und nun auch noch Corona: Man sollte annehmen, dass der Libanon sich im Moment seiner existenziellen Probleme annimmt.

Doch die dramatischste Entwicklung der vergangenen Tage, die in Schießereien in der Hauptstadt Beirut, in flammenden Appellen der libanesischen Spitzenpolitiker und des Auslands mündete, waren Spottgesänge auf eine Frau, die seit mehr als 1300 Jahren tot ist – auf Aisha, die Tochter des Propheten Mohammed.

Spottgesänge auf die Tochter des Propheten

Es sollen die Anhänger der beiden schiitischen Milizparteien gewesen sein, Hisbollah und Amal, deren gegrölte Beleidigungen gegen Aisha als wackelige Videos kursierten. Wo genau das geschah, ob die Videos überhaupt echt waren, geriet im Furor zur Nebensache: Es musste gerächt werden.

Und mit einem Schlag war sie wieder da: die Furcht vor einem erneuten Bürgerkrieg, vor der Rückkehr zu den anderthalb Jahrzehnten der Selbstzerstörung dieses eigentlich gesegneten kleinen Landes.

Dabei hatten die Zigtausenden Demonstranten, die seit Oktober überall im Land gegen Korruption und Machtmissbrauch auf die Straße gegangen waren, die alte Spaltung abgelehnt. „Alle heißt alle“, lautete der lautstarke Refrain der Bürgerinnen und Bürger. Christen, Sunniten, Schiiten, Drusen protestierten gemeinsam, wollten sich nicht wieder gegeneinander ausspielen lassen.

Begonnen hatte die Krise im Herbst damit, dass ein gigantisches Schneeballsystem der Banken kollabierte: Jahrelang hatten sie Zinssätze von bis zu zehn Prozent mit immer neuen Einlagen finanziert, ihrerseits dem Staat Geld geliehen, das sie nicht besaßen. Sie schufen eine der höchsten Staatsverschuldungen weltweit und hielten eine Illusion aufrecht: dass das libanesische Pfund eisern stabil im Kurs von 1500 zum US-Dollar wert sei.

Die wechselnden Regierungen bezahlten Milliarden Dollar für astronomisch überteuerte Dienste wie Stromversorgung oder Müllentsorgung, die trotzdem kaum funktionieren, aber – im Fall des Mülls – mehr als sechs Mal so teuer sind wie etwa in Jordanien. Vergangenen Oktober gingen den Banken die Devisen aus. Der Dollar schoss in die Höhe, was im importabhängigen Land eine Kettenreaktion steigender Preise und Firmenpleiten nach sich zog.

In den drei Monaten des Corona-Lockdowns nun waren zwar die Demonstranten zu Hause geblieben. Aber auch die neue Regierung unter Premier Hassan Diab unternahm in der Zeit nur kosmetische Manöver, den Absturz aufzuhalten. Um den weiteren Wertverlust des Pfunds zu verhindern, wurden Phantasiekurse verordnet, Geldwechsler verhaftet. Mit der Folge, dass seit Anfang der Woche das Pfund bis zum Mittwoch auf 4500 zum Dollar gefallen ist. Guthaben, Gehälter, Pensionen sind nur noch ein Drittel wert im Vergleich zum Herbst.

Ein Gesetzesvorstoß zur Kapitalkontrolle wurde vom Parlamentschef Nabih Berri abgeblockt, mit geschätzten 78 Millionen Dollar Vermögen auf Platz 7 der reichsten libanesischen Politiker. Den Bau zweier Stromkraftwerke blockierte Präsident Michel Aoun, weil keines davon für das Gebiet seiner christlichen Klientel vorgesehen war.

Die einzige Rettung wären Auslandshilfen, zuvorderst ein Paket des Weltwährungsfonds, das etwa zehn Milliarden Dollar umfassen soll. Seit Mitte Mai wird verhandelt. Doch der Fond stellt Bedingungen, fordert echte Reformen gegen die fortgesetzte Ausplünderung des Landes durch die Herrschenden. Denen wiederum Anteile der Banken gehören.

Überdies treten am 17. Juni neue, extrem umfassende US-Sanktionen gegen das syrische Regime in Kraft, der sogenannte „Caesar Act“, der sich auch auf Syriens Geschäftspartner erstreckt. Die Maßnahmen werden Libanons Banken, vor allem aber die Hisbollah treffen. Washington will nicht den Libanon zerstören, wohl aber die Hisbollah. Das US-Außenministerium hat jetzt schon schärfere Restriktionen für alle Fördermittel verhängt.

Die Herrschenden verkennen den Ernst der Lage

Libanons Eliten müssten sich entscheiden, ob sie ihre Pfründe oder das Land retten wollten, schrieb schon vor Monaten der Journalist Kareem Chehayeb. Nun sollte endlich ein entscheidender Schritt erfolgen: die Besetzung von 20 Spitzenposten der Regierung, darunter der Bankenaufsicht, einer neuen Anti-Korruptionskommission, mit „unabhängigen Technokraten“.

Am gestrigen Mittwoch wurden ernannt: einige Manager jener Banken, die sie beaufsichtigen sollen, ein gelernter Krankengymnast, allesamt Parteigänger der Oligarchen. Ihre Kernqualifikation scheint darin zu bestehen, dass sie keine haben oder zumindest die Kreise der Mächtigen nicht stören werden. „Diese Regierung ist ein Witz“, twitterte verbittert der angesehene Wirtschaftswissenschaftler Jad Chaaban, „ein schlechter Witz“.

Innerhalb eines Tages stürzt das Pfund weiter ab auf 6000 zum Dollar. In der Nordmetropole Tripoli geht am Abend die Filiale der Zentralbank in Flammen auf. In Beirut und anderen Orten kommt es zu Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten. Aber mancherorts schauen die Polizisten auch nur zu, schreiten nicht mehr ein, als Steine gegen Fassaden und Schaufenster fliegen. "Mein Monatsgehalt ist noch 30 Dollar wert", sagt einer von ihnen am Abend in Beirut.

Die Zeichen stehen auf Sturm.

Icon: Der Spiegel

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