Kitas und das Coronavirus: Wenn das Kind nicht hin darf, weil die Nase läuft

Eva-Marie Neuheim hatte sich darauf gefreut, endlich wieder wie gewohnt arbeiten gehen zu können. Sie lebt im brandenburgischen Senftenberg und hat – wie auch ihr Mann – eine systemrelevante Vollzeitstelle. In den vergangenen Monaten haben beide ziemlich rotiert, um ihre Jobs mit der eingeschränkten Notbetreuung der Kita zu vereinbaren.
Doch als der Regelbetrieb in Brandenburgs Kitas Mitte Juni wieder losging, war ihr fünfjähriger Sohn nicht dabei. "Er hatte am Freitag zuvor in der Kita gehustet", sagt Neuheim, die darum gebeten hat, in diesem Artikel ihren Namen zu ändern. "Wir sollten ihn sofort abholen."
Ihr Sohn sei danach wieder fit gewesen, sagt Neuheim. Trotzdem musste er eine Woche lang zu Hause bleiben, so wie auch seine jüngere Schwester. "Wir haben unterschrieben, dass sie nicht betreut werden können, wenn jemand in der Familie Erkältungssymptome aufweist."
Bundesweit haben Kitas wieder regulär geöffnet – allerdings mit strikten Hygienevorkehrungen. So sieht es die dritte Phase vor, die die Familienminister von Bund und Ländern in einem gemeinsamen Papier erarbeitet haben. Was sinnvoll klingt, stellt viele Familien vor praktische Probleme: Sobald ein Kind eine Schnupfnase hat, kann die langersehnte Regelbetreuung schnell wieder wegbrechen.
Keine Betreuung wegen Neurodermitis
Und dafür braucht es nicht einmal eine laufende Nase: Die zweijährige Tochter einer Mutter aus Essen hatte schon vor der Coronakrise einen juckenden Ausschlag in den Kniekehlen und Armbeugen. "Ihre Erzieherin wusste, dass sie Neurodermitis hat, und das war zunächst auch kein Problem", erzählt die Mutter am Telefon.
Doch dann aß das Mädchen in der Kita mittags Tomatensoße, und das Jucken wurde schlimmer. "Ich war gerade in einem Meeting, als mich die Kita anrief", sagt die Mutter, die darum gebeten hat, hier nicht namentlich genannt zu werden. "Ich solle meine Tochter bitte abholen, weil alle Kinder gänzlich symptomfrei sein müssten, und ihr Ausschlag sehe irgendwie ansteckend aus."
Weil ein Feiertag und ein Brückentag anstanden, dauerte es fünf Tage, bis die Mutter das gewünschte Attest vom Kinderarzt besorgen konnte, in dem stand, dass der Ausschlag unbedenklich sei.
Vor ähnlichen Problemen stehen gerade zahlreiche Mütter und Väter: "Wir bekommen gerade jeden zweiten Tag Nachrichten von Eltern, die beklagen, dass ihre Kinder wegen Schnupfen, Husten oder Ausschlag nicht in die Kita oder Schule dürfen", sagt die Hamburger Journalistin Alexandra Zykunov, die sich bei der Initiative "Familien in der Krise" engagiert.
"Natürlich gehören kranke Kinder nicht in Kitas und Schulen", sagt Zykunov. "Aber dass sie wegen einer abklingenden Erkältung tagelang und immer wieder zu Hause bleiben müssen, ist kein tragfähiges Konzept für Millionen Kinder und ihre Eltern in der Herbstzeit."
"Ich teste"
Die Kinderärztin Karella Easwaran mit eigener Praxis in Köln hat gerade täglich mit Eltern zu tun, die eine "Gesundschreibung" für ihr Kind benötigen, damit es wieder zur Schule oder in den Kindergarten gehen kann. "Gerade die kleinen Kinder holen jetzt in kurzer Zeit all die Infektionen nach, die sie in den Monaten des Lockdowns ausgespart haben", so Easwaran. "Aber ich kann natürlich anhand der körperlichen Untersuchung nicht erkennen, ob ein Kind mit Corona infiziert ist oder nicht."
Easwaran testet daher konsequent alle Kinder, die mit einer fraglichen Symptomatik zu ihr kommen, auf Sars-Cov-2. "Ich bin heute schon mehrfach gehauen und getreten worden, der Rachen- und der Nasenabstrich ist sehr unangenehm für die Kleinen", so die Kinderärztin. "Aber wenn ich es nicht vernünftig mache, hat es keinen Sinn."
Easwaran entnimmt seit Wochen täglich mehrere Proben und lässt diese von einem Boten in ein nahe gelegenes Labor bringen – keiner war positiv. Easwaran macht das auf eigene Veranlassung, ein konzertiertes Vorgehen aller Kinderärzte, eine klar vorgegebene Strategie, wie mit der problematischen Situation in den Kindergärten und Schulen umgegangen werden soll, fehlt. "Ich finde es wichtig, dass wir in dieser eher ruhigen Zeit Daten sammeln, deswegen teste ich", sagt die Kinderärztin. "Ich bin schon erstaunt, dass nicht das Einfachste entwickelt wird, nämlich eine vernünftige Teststrategie für alle Bildungseinrichtungen auf nationaler oder Landesebene."
Fakt ist: Seit Wochen stehen in Deutschland wöchentlich mehr als eine Million Tests zur Verfügung. Ausgeschöpft werden diese Kapazitäten allerdings nicht, in den vergangenen zehn Wochen wurden zwischen 325.000 und 432.000 Tests durchgeführt. Was passiert mit dem Rest? Wer entscheidet, ob die Tests besser in Altenheimen oder Krankenhäusern, in Kitas oder Schulen eingesetzt werden?
Dem Robert Koch-Institut (RKI) zufolge, der zentralen Bundesbehörde für die Krankheitsüberwachung und -prävention, gibt es drei Säulen bei der Teststrategie:
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die Testung von vermutlich Erkrankten,
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die konsequente Nachverfolgung von Personen, die sich möglicherweise infiziert haben und
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die besondere Aufmerksamkeit auf Risikopersonen etwa in Heimen und Krankenhäusern.
Begleitet werde dies – auch in Schulen und Kitas – durch Studien. Dort sei eine Gesamtstrategie erforderlich, die im Hinblick auf die Vorbeugung von Infektionen auch die Organisation des Schul- und Kita-Alltags einschließe.
Über den Einsatz der Tests werde in regional angepassten Strategien in den Bundesländern entschieden, wie etwa in einer eigens dafür eingerichteten Arbeitsgruppe beim Berliner Senat, sagt RKI-Pressesprecherin Susanne Glasmacher. Auf der Coronavirus-Seite des Instituts heißt es zudem: "Von einer ungezielten Testung von asymptomatischen Personen wird aufgrund der unklaren Aussagekraft eines negativen Ergebnisses (lediglich Momentaufnahme) in der Regel abgeraten."
Wöchentliche Tests für jedes Kind?
Die Kölner Mutter Maaike Tiedge, die die Initiative "Familien in der Krise" im Mai mitgegründet hat, fragt: "Wäre es nicht sinnvoll, wöchentlich sogenannte Pool-Tests durchzuführen, um abzuschätzen, ob ein Kind einer Gruppe erkrankt ist? Auf diese Weise kann kostengünstig und schnell eine mögliche Ausbreitung des Virus eingedämmt werden."
Das Prinzip des Proben-Poolings erlaubt Massentestungen. Dabei werden Proben von mehreren Menschen gebündelt und auf Sars-Cov-2 untersucht. Ein negatives Ergebnis spricht dafür, dass keiner der Getesteten infiziert ist. Bei einem positiven Ergebnis müssen die Proben der Untersuchten anschließend einzeln getestet werden. Das Verfahren könnte unter Umständen Zeit und Geld sparen. Für einen Corona-Test erstatten die Krankenkassen ab dem 1. Juli 39,40 Euro.
Dabei wäre das Geld gut angelegt – schon allein, um das Stresslevel der betroffenen Eltern zu senken. Denn ein unverhoffter Anruf aus der Kita bringt regelmäßig nicht nur ihren Arbeitstag durcheinander. Sie geraten auch noch zunehmend in Rechtfertigungsdruck gegenüber ihrem Arbeitgeber. "Mit den ersten Lockerungen hat sich der Eindruck verbreitet, dass man nun zur Tagesordnung übergehen kann", erklärt Bettina Kohlrausch vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans Böckler Stiftung. Vor diesem Hintergrund falle es natürlich negativ auf, wenn Termine kurzfristig abgesagt werden müssten. "Der Stress von Eltern infolge der Schul- und Kitaschließungen war auch darauf zurückzuführen, dass die gesetzlichen Regelungen zur Entlastung von Eltern nicht gut zu der Lebensrealität von Eltern passten. Das kann sich jetzt verschärfen, weil nun wieder der Einzelne aus dem Rahmen fällt, der den Anruf aus der Kita erhalten hat."
Effekt dürfte im Herbst richtig durchschlagen
Die Auswirkungen ließen sich allerdings derzeit noch nicht in Zahlen fassen. Schon allein, weil jede Kita-Erzieherin unterschiedlich auf eine laufende Nase oder einen Hustenreiz reagiere. Zumindest die Perspektive der Eltern fragt das Team um Kohlrausch in einer zweiten Fragerunde der WSI-Feldstudie gerade ab.
Oliver Stettes vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft versucht dagegen, die betroffenen Eltern zu beruhigen. "Die Unternehmen sind sich der Ausnahmesituation bewusst", erklärt der Arbeitsmarktexperte. Das schließe allerdings nicht aus, dass betroffene Mitarbeiter es als besonderen Stress erleben würden, wenn sie die Tagesplanung nach einem Anruf aus der Kita umwerfen müssten.
Mareike Bünning vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung befürchtet, dass der Effekt im Herbst richtig durchschlägt, wenn sich die Erkältungen häufen. "Politik und Arbeitgeber sollten schon jetzt überlegen, wie man dann Arbeitsläufe organisieren und die Eltern weiter unterstützen kann."
Es kann allerdings sein, dass selbst ein negativer Test Eltern nicht davor bewahrt, ihr Kind zu Hause betreuen zu müssen. Eine Hamburger Mutter – auch sie will ihren Namen nicht genannt haben – erzählt: "Am 7. Juni bekam mein Sohn einen Schnupfen. Vier Tage später ließ ich ihn im Rahmen einer Studie auf Covid-19 testen. Der Test war negativ und es ging ihm besser. Eigentlich hätte er dann wieder in die Kita gehen können."
Doch die Kita habe vorgegeben, dass der zweijährige Junge noch eine weitere volle Woche zu Hause bleiben sollte. Die Begründung: "Wenn weitere Kinder Husten und Schnupfen bekämen, sei schwer nachvollziehbar, ob sie sich bei meinem Sohn angesteckt hätten oder doch am Coronavirus erkrankt seien", sagt die Mutter.
Auch andere Eltern hätten ihre Kinder in den vergangenen Tagen vorzeitig abholen müssen – oder durften sie morgens gar nicht erst abgeben, weil ihre Nase lief, sagt die Hamburger Mutter. "Ich frage mich, wie das im Herbst werden soll. Zum Glück sind meine Arbeitgeber und die meines Mannes bisher sehr kulant."
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