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Kanada – Justin Trudeau: Corona als Ausflucht

August 04
01:16 2020
Kanadas Premier Trudeau bei seinem virtuellen Auftritt vor dem Finanzausschuss des kanadischen Parlaments: "Ich wusste, dass Fragen gestellt werden würden" Icon: vergrößern

Kanadas Premier Trudeau bei seinem virtuellen Auftritt vor dem Finanzausschuss des kanadischen Parlaments: "Ich wusste, dass Fragen gestellt werden würden"

Foto: BLAIR GABLE/ REUTERS

Justin Trudeau erschien auf dem Monitor, mit Vollbart und Pandemiefrisur. Eineinhalb Stunden lang beantwortete der kanadische Regierungschef die Fragen der Abgeordneten: Nein, bei der Vergabe eines Hilfsprogramms für Studenten an die Stiftung WE Charity habe es keinen Interessenkonflikt gegeben. Nein, seine Familie sollte in keiner Form davon profitieren und habe das auch nicht getan. Vielmehr, so Trudeau, hätten er und seine Regierung schnell gehandelt, um Menschen zu helfen, wie so oft im Kampf gegen das Coronavirus.

Kanadierinnen und Kanadiern, die vor wenigen Tagen die virtuelle Sitzung des Finanzausschusses verfolgten, boten sich mehrere ungewohnte Bilder. Sie sahen einen amtierenden Premierminister vor einem Ausschuss des Unterhauses, ein sehr seltenes Ereignis in der kanadischen Politik selbst in normalen Zeiten. Außerdem erlebten sie Parlamentsarbeit in Zeiten von Kontaktsperren, samt Stromausfall beim Ausschussvorsitzenden, und bekamen Einblick in die Arbeitszimmer der Politiker: Familienfotos und Landesflaggen, Zupfinstrumente und Shakespeares gesammelte Werke.

Zugleich lieferte die Anhörung etwas, was der kanadischen Öffentlichkeit mittlerweile nur allzu bekannt ist: einen Regierungschef Trudeau, der Fragen zu einem Skandal beantworten muss.

Der jüngste Skandal: ein Corona-Hilfsprogramm und eine Trudeau-nahe Stiftung

Im Juni beschloss Trudeaus liberale Regierung ein Programm im Umfang von umgerechnet knapp 600 Millionen Euro, um Studenten während der Coronakrise zu unterstützen. Wer wegen der Beschränkungen keinen Sommerjob bekam, sollte gemeinnützige Arbeit leisten und dafür bezahlt werden können. Mit der Umsetzung des Stipendienprogramms wurde WE Charity beauftragt, eine gemeinnützige Organisation, die in den Bereichen Bildung und Jugendhilfe tätig ist. Für ihre Dienste sollte sie umgerechnet bis zu 43 Millionen Euro bekommen.

Brisant dabei: WE Charity hat Verbindungen zu Trudeaus Familie und der seines Finanzministers Bill Morneau. Die Stiftung zahlte der Mutter und dem Bruder des Premiers in den vergangenen fünf Jahren Rednerhonorare von insgesamt rund 283.000 kanadischen Dollar (umgerechnet knapp 180.000 Euro). Morneaus Tochter arbeitet für die Organisation. Außerdem wurde bekannt, dass WE Charity einen Teil der Kosten zweier Reisen des Finanzministers und seiner Familie im Jahr 2017 getragen hatte. Morneau zahlte den Betrag erst jüngst zurück.

Öffentliche Entschuldigungen halfen den beiden Politikern wenig. Die Umfragewerte der Liberalen Partei purzelten. Kanadas Ethikkommission hat eine Untersuchung eingeleitet – schon die dritte gegen Trudeau.

Eine Reihe von Skandalen in den vergangenen Jahren hat dazu geführt, dass der Premier, einst das Sonnenkind der kanadischen Politik, an Glanz verloren hat:

  • 2017 geriet er wegen eines Familienurlaubs auf einer Privatinsel des Milliardärs Aga Khan in die Kritik.

  • Im vergangenen August kam die Kommission zu dem Schluss, dass Trudeau im Bestechungsfall um die Baufirma SNC-Lavalin versucht habe, die Ermittlungen der damaligen Justizministerin, Jody Wilson-Raybould, auf unangemessene Weise zu beeinflussen. Wilson-Raybould war die erste indigene Frau auf dem Posten und schied im Streit aus der Regierung.

  • Kurz darauf wurde ein Foto aus dem Jahr 2001 öffentlich, das Trudeau auf einem Kostümball in sogenannter Brownface-Verkleidung zeigt, mit Turban und dunkler Gesichtsbemalung.

Ein kurzes Sorry und weiter im Programm

Trudeaus Umgang mit den Affären folgte demselben Muster: ein kurzes Sorry, durchwurschteln, dann weiter im Programm. Die Fehler – so die mal ausdrückliche, mal implizite Botschaft des Premiers – seien bedauerlich, er müsse sich aber um die großen Herausforderungen kümmern. Arbeitsplätze, Klimawandel, Trump.

Gelingt es ihm, auf diese Weise auch die Causa WE Charity zu den Akten zu legen?

Die Stiftung sei von unpolitischen Beamten für die Umsetzung des Stipendienprograms ausgewählt worden, verteidigte sich Trudeau bei seinem Auftritt vor den Parlamentariern. Sein Kabinett sei anschließend vor eine "binäre Wahl" gestellt worden: den Vorschlag annehmen oder ganz verwerfen. Weil er sich der Optik des Ganzen bewusst gewesen sei, habe er die Entscheidung um zwei Wochen aufgeschoben und die Beamten angewiesen, nochmals sicherzustellen, dass man ganz korrekt verfahre, sagte Trudeau. "Denn ich wusste, dass Fragen gestellt werden würden."

Manch ein Kommentator im Land hält die Erklärung nicht für überzeugend. Sie ist durchaus nicht frei von Widersprüchen: So will Trudeau einerseits aus Gründen der öffentlichen Wahrnehmung bei der Vergabe auf die Bremse getreten haben. Andererseits machten er und seine Stabschefin Katie Telford vor dem Ausschuss geltend, dass es in der Coronakrise darauf angekommen sei, den Studenten schnell zu helfen.

Die Politikwissenschaftlerin Lori Turnbull glaubt dennoch, dass der Premier den Termin gut überstanden hat. Er stehe da wie jemand, der "einen kleinen Fehler" gemacht habe, sagte sie der "New York Times". Zugleich habe er seine Botschaft transportiert: In Krisenzeiten sei auf die Liberalen Verlass.

Kanadas Corona-Bilanz: nicht glänzend, aber besser als beim Nachbarn

Sollte Trudeau auch die jüngste Affäre überstehen, dann wohl auch deshalb, weil die Bürger im Großen und Ganzen zufrieden damit sind, wie seine Regierung die große Herausforderung dieser Tage bisher bewältigt.

Kanadas Corona-Bilanz ist zwar nicht herausragend. 8945 Menschen sind bisher an den Folgen einer Infektion gestorben. Das sind nur rund 200 weniger als in Deutschland, wo doppelt so viele Menschen leben.

Allerdings ist es gelungen, die Zahl der Neuninfektionen deutlich nach unten zu drücken. Die Provinzen des Landes riefen Mitte März den Notstand aus. Umfassende Lockdowns wurden verhängt. Zum befürchteten Zusammenbruch des Gesundheitssystems kam es nicht.

Trudeau, der sich nach der Ansteckung seiner Frau zu Beginn der Pandemie ins Homeoffice zurückgezogen hatte, arbeitete eng mit Experten und Provinzgouverneuren zusammen. Politiker agierten über Parteigrenzen hinweg geschlossen.

Kanada unter Trudeau hob sich so in vielerlei Hinsicht positiv von den USA unter Trump ab. Das Nachbarland im Süden verzeichnet auch gemessen an der Gesamtbevölkerung deutlich höhere Fall- und Totenzahlen. "Wir waren imstande, das Virus besser zu kontrollieren als viele unserer Verbündeten", sagt Trudeau im Juli. "Einschließlich, und insbesondere, unseres Nachbarn." Die früh beschlossene Schließung der Grenze für nicht essenzielle Güter wurde bis zum 21. August verlängert.

Derzeit bewegt sich die Zahl der Menschen, die täglich am Virus sterben, im einstelligen Bereich. Kanada gehört zu jener Handvoll Staaten, deren Bürger ohne Einschränkungen in die EU einreisen können.

Allerdings kann sich die Lage schnell drehen. Das zeigt die Erfahrung von Ländern, die die erste Pandemiephase noch deutlich besser gemeistert hatten. Ferner bereiten immer wieder aufflackernde Infektionsherde den kanadischen Behörden weiter Sorgen. Ein Bericht für den kanadischen Senat kam im Juli zu dem Schluss, dass das Land für eine zweite Welle nicht gut gerüstet ist.

Sollte sich die Lage deutlich zuspitzen, würde das wohl auch auf Trudeau zurückfallen. Denn dann wäre der Premier an einer großen Herausforderung gescheitert. Das wäre womöglich unverzeihlicher als ein weiterer Skandal.

Anmerkung: In einer früheren Version des Textes hieß es, die Trudeau-Regierung wolle Studenten mit umgerechnet knapp 600 Milliarden Euro unterstützen. Tatsächlich war von umgerechnet 600 Millionen Euro die Rede. Wir haben die Angaben korrigiert.

Icon: Der Spiegel

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