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Jean Asselborn über Annexionspläne im Jordantal: “Für Israel wäre das verheerend”

June 11
18:46 2020
Demonstration in Tel Aviv für die Rechte von Palästinensern Icon: vergrößern

Demonstration in Tel Aviv für die Rechte von Palästinensern

Sebastian Scheiner/ AP

Der Nahostkonflikt verschärft sich: Israel will sich große Teile des Westjordanlands einverleiben – mit Rückendeckung von US-Präsident Donald Trump. Die neue israelische Regierung unter Führung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und seines früheren Rivalen Benny Gantz kann laut Koalitionsvertrag ab dem 1. Juli über die Annexion entscheiden.

Es wäre ein Tabubruch: Alle früheren Regierungen Israels und der USA hatten einen solchen Schritt ausgeschlossen, da er de facto das Ende der Zweistaatenlösung mit einem unabhängigen Staat Palästina bedeuten würde. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnt im Interview vor einer neuen Welle der Gewalt und vor einem massiven Ansehensverlust Israels in der Welt.

SPIEGEL: Herr Asselborn, die israelische Regierung plant, ab dem 1. Juli Teile des Westjordanlands zu annektieren. Sie vergleichen das mit der Annexion der Krim durch Russland. Ist das nicht übertrieben?

Asselborn: Nein, ich sehe da überhaupt keinen Unterschied. Eine Annexion ist eine Annexion. Sie ist eine der gröbsten Verletzungen des Völkerrechts. Auch die Vereinten Nationen haben sich klar positioniert: Der Sicherheitsrat hat die israelischen Siedlungen in mehreren Resolutionen für illegal erklärt, zuletzt im Dezember 2016. Im religiös geprägten Nahen Osten könnte man auch anmerken, dass eine Annexion gegen das siebte der Zehn Gebote verstößt: Du sollst nicht stehlen. Eine Annexion von Teilen des Westjordanlands wäre genau das: Diebstahl.

SPIEGEL: Die EU hat wegen der Annexion der Krim harte Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat kürzlich gesagt, dass die Situation im Nahen Osten zwar eine andere sein könnte, man internationales Recht aber nicht "selektiv aufrechterhalten" könne. Sollte die EU also auch gegen Israel Sanktionen verhängen, falls es zu einer Annexion kommt?

Asselborn: Über Sanktionen möchte ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht spekulieren, dazu ist es zu früh. Derzeit versuchen wir Europäer noch alles, um die israelische Regierung vor dem 1. Juli umzustimmen.

SPIEGEL: Derzeit deutet wenig darauf hin, dass das gelingt.

Asselborn: Wir können es nur versuchen. Aber sollten wir keinen Erfolg haben, müssten wir über schärfere Maßnahmen nachdenken. Wieder nur mahnende Briefe zu schreiben, wäre für die EU erniedrigend, und ihre Glaubwürdigkeit wäre extrem geschwächt.

SPIEGEL: Sanktionen der EU gegen Israel gelten als äußerst unwahrscheinlich – schon weil die Bundesregierung ihr Veto einlegen würde. Welche anderen Möglichkeiten gäbe es?

Asselborn: Die Anerkennung Palästinas. Diese Debatte würde eine ganz neue Dynamik bekommen, ich hielte sie sogar für unumgänglich. Bisher haben neun von 27 EU-Ländern den Staat Palästina anerkannt. Anders als bei Sanktionen braucht es dazu auch keinen einstimmigen Beschluss aller 27 Mitglieder, das kann jedes Land selbst entscheiden. Schweden, Malta, Zypern, Tschechien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Polen und die Slowakei haben das bereits getan. Sollten weitere folgen, würde das viel mehr bewirken als Wirtschaftssanktionen.

SPIEGEL: Was würde die Umsetzung von Israels Annexionsplänen für den Nahost-Friedensprozess bedeuten?

Asselborn: Dass es ihn nicht mehr gäbe. Die Zweistaatenlösung, auf die auch die EU besteht, wäre dann auch theoretisch nicht mehr möglich. Jeder, der sich in der Region auskennt, weiß: Falls Israel sich das gesamte Jordantal einverleibt, gäbe es keinen Raum mehr für den Staat, auf den die Palästinenser ein Recht haben.

SPIEGEL: Die israelische Regierung argumentiert mit Sicherheitsinteressen: Unter anderem würde durch die Annexion der Waffenschmuggel unterbunden. Ist das nicht gerechtfertigt?

Asselborn: Das Argument halte ich für vorgeschoben. Eine Annexion würde Israel in Sachen Sicherheit null Vorteile bringen, im Gegenteil: Wahrscheinlich käme es zu einer neuen Welle der Gewalt. Und man muss auch an die Konsequenzen für die Palästinenser denken, deren Familien teils seit Jahrhunderten in diesen Gebieten leben. Bekommen sie die israelische Staatsangehörigkeit? Würden sie sie überhaupt wollen? Es würde zwangsläufig ein Apartheid-Regime mit unterschiedlichen Rechten für Israelis und Nichtisraelis entstehen.

SPIEGEL: Kritiker werfen der israelischen Regierung vor, dass es dieses System schon längst gibt.

Asselborn: Stimmt, aber die weltpolitische Großwetterlage ändert sich gerade. Schauen Sie, in großen Teilen der westlichen Welt gibt es Massendemonstrationen gegen Rassismus – und das wegen eines einzigen dramatischen Schicksals. Sollte Israel ausgerechnet jetzt die Unterdrückung der Palästinenser verschärfen, könnte das gravierende Folgen für sein internationales Ansehen haben. Das kann einer Demokratie nicht egal sein.

SPIEGEL: Derzeit scheint die israelische Regierung mit ihrem Ruf in der Welt ganz gut leben zu können.

Asselborn: Ich bin überzeugt, dass in Teilen der Welt gerade ein neues Bewusstsein für Menschenrechte und die Unterdrückung von Minderheiten entsteht. Erinnern Sie sich an die Unruhen im Gazastreifen im Frühjahr 2018, als israelische Soldaten mehr als hundert Demonstranten töteten. Solche Bilder hätten heute eine ganz andere Wirkung als vor zwei Jahren. Für Israel wäre das verheerend.

SPIEGEL: Für die israelische Regierung scheint zu überwiegen, dass sie die uneingeschränkte Unterstützung von US-Präsident Donald Trump genießt.

Asselborn: Tatsächlich ist in Jerusalem die Ansicht verbreitet, dass man dank Trump eine Jahrhundertchance hat – und sie nutzen muss, um den Palästinensern große Teile ihres Landes wegzunehmen. Doch auch hier sollte man die sich verändernde weltpolitische Lage beachten. Spätestens seit seiner Reaktion auf die Anti-Rassismus-Demonstrationen ist Trump als Dealmaker vollkommen diskreditiert. Es wäre riskant, sein Wort als politischen Freifahrtschein zu nehmen – zumal keineswegs sicher ist, ob er nächstes Jahr überhaupt noch im Amt ist.

Icon: Der Spiegel

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