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Großbritannien – Messergewalt: Mit der gleichen Dringlichkeit wie Terrorismus

June 25
16:50 2020
Marcellus Baz im Büro seines Boxklubs Icon: vergrößern

Marcellus Baz im Büro seines Boxklubs

Thomas Victor/ DER SPIEGEL

Breitschultrig sitzt Marcellus Baz im ersten Stock einer ehemaligen Schule in Nottingham hinter einem Schreibtisch. Aus dem Nebenraum hört man das dumpfe Klatschen eines Boxtrainings. Über Baz' Handrücken ziehen sich lange, breite Narben. Spuren von einem Messerangriff, verübt von jemandem, der seine Uhr wollte, vor mehr als 20 Jahren in einer dunklen Straße.

Baz hatte noch Glück. Auf einem Schrank steht ein Foto von ihm mit dem britischen Boxeuropameister Henry Cooper. Zwischen den Narben und dem Foto liegt seine Lebensgeschichte – sie beginnt mit Vernachlässigung und Gewalt, auf die schließlich ein Aufstieg folgt, an dessen Ende sogar Prinz Harry sich bei ihm bedankte.

In Großbritannien sterben mittlerweile Hunderte Menschen jährlich durch Messergewalt, Tausende werden verletzt – und Baz kämpft mittlerweile auf der Seite derer, die das ändern wollen.

Baz, Mitte 40, wuchs in einem Arbeiterviertel in Nottingham auf. Seine Mutter war depressiv, schlug den Vater, versuchte sich umzubringen. Baz prügelte sich mit seinen Brüdern. "Ich habe damals mehr Zeit auf der Straße als zu Hause verbracht", sagt er. Sein Vater erledigte einfache Arbeiten, um an Geld zu kommen. Baz' Freunde verdienten es mit Drogen. Er machte bald mit, er trug ein Messer. Das gehörte dazu, wie die erste Festnahme und die erste Verurteilung. Eine Chance auf einen regulären Job sah er nicht.

12,2 Prozent der unter 25-Jährigen sind in Großbritannien arbeitslos, in der Gesamtbevölkerung sind es 3,9 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit ist konstant im Königreich, abgesehen von einem zeitweisen Anstieg nach der Finanzkrise 2008. Sie liegt knapp unter dem EU-Durchschnitt von 15,4 Prozent und weit hinter Ländern wie Griechenland und Spanien mit mehr als 30 Prozent. In Deutschland ist sie mit 5,3 Prozent am niedrigsten.

Einmal, er muss ungefähr 14 gewesen sein, flüchtete Baz vor der Polizei, stand irgendwann vor einem Boxklub und rannte hinein, um sich zu verstecken. Vor ihm tat sich eine unbekannte Welt auf: "Ich sah arme Typen wie mich, die trainierten Seite an Seite mit Kids aus der Mittelschicht", sagt er. "Das hat mich beeindruckt."

Er begann mit ihnen zu trainieren, und er war gut. Ein Verein aus Sheffield bot ihm nach ein paar Jahren einen Profivertrag an. Er unterschrieb und ging am selben Abend mit Freunden feiern. Es war der Tag seines Lebens, seine große Chance.

Auf dem Nachhauseweg lauerten ihm drei Männer auf. Sie umzingelten ihn, zückten eine Machete. "Ich habe meine Arme hochgerissen, um meinen Kopf zu schützen. Sie schlugen zu", sagt Baz, "dreimal insgesamt." Die Klinge schnitt in seine Hände, in seine Finger, in seine Handgelenke. Der Krankenwagen kam.

Im vergangenen Zähljahr, das bis März 2019 ging, gab es knapp 47.000 Straftaten, bei denen ein Messer benutzt wurde in England und Wales, die ihre Statistiken zusammen veröffentlichen. Die Zahl ist ein trauriger Rekord: ein Anstieg von mehr als 40 Prozent seit 2011. In 43 von 44 britischen Polizeibezirken wurden seitdem steigende Fallzahlen vermeldet. Und auch die Anzahl der tödlichen Messerangriffe ist auf dem höchsten Stand seit 1946: Zuletzt waren es fast 300 Tote innerhalb eines Jahres. Ärzte sagen, die Eingelieferten hätten zunehmend schlimmere Verletzungen, seien jünger, und immer mehr Mädchen und Frauen seien unter den Opfern.

Die Strafen auf das Tragen von Messern wurden verschärft, 85 Prozent der Verurteilten müssen für mindestens drei Monate in Haft, vor zehn Jahren waren es noch 53 Prozent. Ihre durchschnittliche Haft beträgt mehr als acht statt zuvor knapp fünf Monate. Gleichzeitig kontrolliert die Polizei jedoch weniger. Vor allem das "Stop and Search"-Verfahren der Polizei wurde nach Rassismusvorwürfen stark zurückgefahren, da insbesondere Schwarze willkürlich angehalten und durchsucht worden sein sollen. Zahlen der Londoner Stadtverwaltung zeigen aber auch, dass junge schwarze Männer und solche ethnischer Minderheiten überproportional oft in Messerdelikte involviert sind – als Täter wie als Opfer.

Forscher der Universität Salford haben ermittelt, dass vor allem Männer aus sozial benachteiligten Schichten zwischen 16 und 34 Jahren mit Messergewalt zu tun haben. Viele geben der Sparpolitik der konservativ-liberalen Koalition nach der Finanzkrise 2008 die Schuld. Damals strich die Regierung staatliche Unterstützungen, schloss Jugendzentren und entließ Zehntausende Sozialarbeiter und Polizisten. 14 Millionen Menschen leben in Armut, fast jedes dritte Kind ist betroffen. Es waren vor allem bereits verarmte Gegenden, die von Sparprogrammen nach der Finanzkrise hart getroffen wurden.

Roger Grimshaw, leitender Forscher am Centre for Crime and Justice Studies, einem unabhängigen Londoner Institut zur Erforschung der Ursachen und Folgen von Gewalt, sagt: "Was wir sehen, sind die Auswirkungen der Austeritätspolitik. Wenn ein Umfeld ohnehin instabil ist und man ihm dann noch die Hilfen entzieht, die negative Entwicklungen abmildern können, setzt das einen Kreislauf in Gang."

Für Grimshaw ist der Drogenhandel der Treiber für eine Spirale aus Kriminalität und Gewalt: "Wir sprechen hier über junge Menschen mit sehr beschränkten Möglichkeiten, die versuchen, ihren Weg zu finden. Sie orientieren sich an dem, was um sie herum passiert. Wenn das Drogenhandel ist, dann wird das auch ihr Weg, an Geld zu kommen." Der Umgang mit Messern entwickle sich dann "wie eine Epidemie", sagt Grimshaw. Einige fangen an, andere rüsten nach, Gangs befeuern sich untereinander.

Es scheint, als habe die Gewalt in benachteiligten Vierteln ihren Anfang genommen, doch längst hat sie um sich gegriffen. Auch in bessergestellten Gegenden tragen Jugendliche Messer, wenn sie auf die Straße oder zur Schule gehen. Beobachter sagen, manche von ihnen hätten Angst, andere wollten sich stark fühlen. Es ist eine ganze Jugendkultur um das Messertragen entstanden, mitsamt einem eigenen Soundtrack: Drill Music, eine Unterform des Rap, die sich in den Zehnerjahren entwickelt hat und in deren Texten es vor allem um rohe Gewalt geht.

London weist mit 169 Messerverbrechen je 100.000 Einwohnern die höchste Zahl auf, wobei kleinere Städte deutlich nachziehen – sie verzeichnen bereits stärkere Anstiege der Zahlen. Als Anfang März 2019 an einem Wochenende zwei 17-Jährige in der britischen Hauptstadt erstochen wurden, forderte der Labour-Politiker und ehemalige Staatssekretär Vernon Coaker, dass Messergewalt mit der gleichen Dringlichkeit wie Terrorismus behandelt werden müsse.

Doch Baz hält mehr Strafverfolgung für den falschen Weg. Niemand fürchte sich vor einer Gefängnisstrafe. Das sei bei ihm auch so gewesen, erzählt er. Wissenschaftler stützen diese These. Einige meinen, statt mehr Polizeikontrollen und härteren Gefängnisstrafen sei es der bessere Weg, Messergewalt als Problem der "öffentlichen Gesundheit" zu behandeln.

Gewaltforscher Grimshaw sagt: "Wir übergeben die jungen Leute in einem Alter an die Welt der Strafjustiz, in dem es besser wäre, sie anders zu unterstützen." Was er meint, ist umfassende Prävention: Beratungen gegen Familiengewalt, integrative Schulen, Freizeitangebote gegen die Langeweile – genau die Hilfestellungen, die in vielen bedürftigen Gegenden eingespart wurden.

Tatsächlich werden bei jedem Messerangriff nicht nur das Opfer und seine Eltern, sondern auch das weitere Umfeld traumatisiert. Diesen Menschen müsse man helfen, um weitere Taten zu verhindern, besagen Studien. Schottland hat gute Erfahrungen mit diesem Ansatz gemacht, und auch in Baz' Leben war genau diese Erfahrung der Wendepunkt.

Die alten Gangfreunde seien ins Krankenzimmer gekommen und hätten gesagt: "Wir haben eine Waffe. Du musst dich rächen. Für die Ehre unseres Viertels." Die neuen Freunde aus seinem Boxklub sagten: "Wie geht's dir? Brauchst du was? Wir unterstützen dich." Boxen konnte Baz mit den zerschnittenen Händen nicht mehr.

Die Freunde aus dem Boxklub verhalfen ihm erst zu einem Ausbildungsplatz als Physiotherapeut und dann – trotz seiner vielen Vorstrafen – zu einem Job in einem Fitnesscenter. Dort sah er Jugendliche, wie er selbst einer gewesen war: arm und wütend. Und sie sahen ihn und fragten: "Wie hast du das gemacht? Wie hast du den Job bekommen?" Baz begann Jugendlichen zu helfen, gründete später selbst einen Boxklub in Nottingham. Er bat die bessergestellten Mitglieder, den ärmeren zu helfen, Nachhilfeunterricht zu geben, Lebensläufe zu schreiben.

Mittlerweile hat er Tausende Jugendliche unterstützt, 32 Unternehmen überzeugt, auch vorbestraften Jugendlichen eine Chance zu geben. Er traf den Boxeuropameister Henry Cooper, dessen Foto nun auf seinem Schrank steht, Prinz Harry kam in seinem Klub vorbei und zog sich für einen Pressetermin Boxhandschuhe an. Im Fernsehen tritt Baz als Experte für Gangkultur auf, reiste in dieser Funktion bis nach Norwegen, Brasilien und in die USA.

Seine Botschaft ist klar: Gebt den Jugendlichen eine Perspektive. Glaubt an das Potenzial der Menschen. Unterstützt die Viertel, die es nötig haben. Sein Prinzip findet Nachahmer, was ihn stolz macht. Was ihn nicht stolz macht: dass die Messergewalt weiter zunimmt.

Großbritanniens Premierminister Boris Johnson versprach vor seiner Wahl Ende 2019, diese "Plage" zu bekämpfen. "Wir müssen entschieden und effizient handeln", sagte er. Jeder, der unerlaubterweise mit einem Messer erwischt werde, solle sofort festgenommen, innerhalb von 24 Stunden angeklagt werden und innerhalb einer Woche vor Gericht erscheinen, war der Vorschlag des Premiers. Noch ist seine Regierung nicht lange im Amt, die Coronakrise hat viele Reformen aufgeschoben und der Lockdown die Messerverbrechen in London vorerst um fast 70 Prozent sinken lassen.

Doch Baz' Geschichte lässt vermuten, dass es so einfach nicht ist.

Icon: Der Spiegel

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