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Flucht aus Mariupol: “Um uns herum schlugen Raketen ein, aber wir kamen ans Ziel”

May 25
11:47 2024

Politik

"Unsere Militärs sagten mir den besten Weg und wir fuhren los", so Darja.

"Unsere Militärs sagten mir den besten Weg und wir fuhren los", so Darja.

Daria Sajzewa stammt aus Mariupol, der Stadt, die von den Russen im Mai 2022 nach blutigen Kämpfen erobert wurde. Mittlerweile lebt sie in Krywyj Rih. Zwei Jahre nach dem Ende der Kämpfe um Mariupol spricht sie mit ntv.de über ihre damaligen Erlebnisse. An die Tage der Besetzung erinnert sie sich mit Schrecken.

ntv.de: Sie kommen nicht ursprünglich aus Mariupol. Wie sah Ihr Leben vor der großen Invasion aus?

Darja mit ihrem Hund am Meer in Mariupol.

Darja mit ihrem Hund am Meer in Mariupol.

(Foto: privat)

Darja Sajzewa: Ich komme ursprünglich aus der Stadt Horliwka in der Region Donezk. Als die Regionen Luhansk und Donezk 2014 besetzt wurden, zogen mein Mann und ich nach Mariupol. Wir haben dort beide für das Energieunternehmen DTEK gearbeitet, er als Ingenieur und ich als Technikerin. Wir haben ein Haus gemietet und ich habe Wirtschaftswissenschaften an der Staatlichen Universität Mariupol studiert. Einen Monat vor dem großen Einmarsch haben wir uns ein Haus im Stadtteil Prymorskyj gekauft.

Und wie hat der 24. Februar 2022 für Sie begonnen?

Am 24. Februar hatte ich frei, weil ich zur Universität musste. Als mein Mann mich am selben Tag weckte und sagte, dass der Krieg begonnen habe, sagte ich ihm, dass das nicht lustig sei und er nicht solche Witze machen solle.

Sie haben nicht geglaubt, dass ein Krieg ausbrechen könnte?

Ich konnte es nicht glauben, denn auf dem Weg zur Arbeit kam ich manchmal an den Asow-Soldaten vorbei. Die wirkten so stark, dass ich dachte, sie würden uns beschützen. Ich habe es erst geglaubt, als wir den Fernseher einschalteten und in den ukrainischen Fernsehkanälen hörten, dass eine großangelegte Invasion von russischer Seite begonnen hatte.

Was haben Sie gemacht, als Ihnen das klar wurde?

Darja und ihr Mann während eines Urlaubs in der Westukraine vor dem Einmarsch der Russen in die Ukraine.

Darja und ihr Mann während eines Urlaubs in der Westukraine vor dem Einmarsch der Russen in die Ukraine.

(Foto: privat)

Wir wollten das Auto auftanken und etwas Geld abheben. Wir kamen gegen sechs Uhr morgens an, aber die Tankstellen waren schon überfüllt. Nach einer Weile gab es eine gewaltige Explosion, sie traf einen Kontrollpunkt der ukrainischen Streitkräfte unweit der Tankstelle. Danach wollte ich nicht mehr dort bleiben. Wir fuhren Lebensmittel kaufen und schafften es sogar, in einem Supermarkt mit einer Karte zu bezahlen, was am nächsten Tag nicht mehr möglich war.

Was geschah auf den Straßen?

Die Menschen wussten nicht, was sie tun oder wohin sie gehen sollten. Die Verkehrsmittel fuhren entweder nicht oder waren überfüllt, kurzum: Es herrschte Chaos. Am nächsten Tag erhielten wir einen Anruf von unserer Arbeit. Und uns wurde mitgeteilt, dass alle bis zum 1. März in bezahlten Urlaub gehen würden.

Haben Sie russische Soldaten in der Stadt gesehen?

Sie sind lange Zeit nicht in die Stadt eingedrungen, sondern haben uns von außen beschossen – mein Viertel zum Beispiel von Schiffen aus, weil es in der Nähe des Hafens war. Und natürlich von Flugzeugen. Vielleicht ist Infanterie in andere Stadtteile eingedrungen, ich habe sie aber nicht gesehen.

Was haben Sie gemacht?

Wir sind zu Hause geblieben. Die Stadt brannte und es war fast niemand mehr auf den Straßen. Als es ruhiger wurde, gingen mein Mann und ich zu Fuß zum Haus meiner Eltern, etwa zehn Kilometer entfernt. Zu dieser Zeit gab es in der Stadt kein Wasser, keinen Strom und kein Gas mehr. Wir brachten meinen Eltern etwas Fleisch, sprachen mit ihnen und sagten ihnen, dass sie zu uns kommen sollten, wenn etwas passiert.

Wann haben Sie sie wiedergesehen?

Die Straße neben dem Darjas Haus nach der russischen Invasion in Mariupol.

Die Straße neben dem Darjas Haus nach der russischen Invasion in Mariupol.

(Foto: privat)

Am 9. März fuhren wir wieder zu ihnen. Wir hatten kein Wasser mehr. Dieses Mal gaben uns unsere Nachbarn etwas Benzin, sodass wir mit dem Auto fahren konnten. Auf dem Weg sah ich, wie eine Frau aus dem 8. Stock eines brennenden Gebäudes sprang, weil sie hoffte, sich auf diese Weise retten zu können. Es war furchtbar und ich habe mich entschieden, meine Eltern dieses Mal mitzunehmen. Wären wir zwei Tage später gekommen, hätten wir meine Eltern nicht mitnehmen können.

Und dann beschlossen Sie, Mariupol zu verlassen?

Es war eine spontane Entscheidung. Ich nahm Kontakt zu unserem Militär auf, sie sagten mir den besten Weg und wir fuhren los.

Wie haben Sie die Stadt verlassen?

Zu diesem Zeitpunkt standen unsere Jungs vom Regiment Asow noch am Hafen. Unser Stadtteil war noch nicht besetzt. Wir fuhren am 21. März los: mein Mann, mein Stiefvater, meine Mutter und meine Schwiegermutter, außerdem zwei Hunde, Katzen und ein Meerschweinchen. Unser erster Stopp war in der besetzten Stadt Mangusch, weil wir Treibstoff brauchten. Um uns herum schlugen Raketen ein, aber wir kamen ans Ziel. Vier Tage standen wir dort in einer Schlange, um Sprit zu kaufen. Am 25. März konnten wir frühmorgens weiterfahren Richtung Berdjansk.

Sind Sie von Russen kontrolliert worden?

Ja. Wir haben den Besatzern an den Kontrollpunkten vorgelogen, dass wir nach Berdjansk fahren würden, weil wir in Mariupol nichts mehr hätten. Irgendwann passte das nicht mehr und wir mussten die Wahrheit sagen: dass wir über Tokmak und Wasyliwka nach Saporischschja fahren würden.

Wie viele Kontrollpunkte haben Sie passiert?

Zwischen Mangusch und Saporischschja waren es 29 Kontrollpunkte. Der schlimmste war in Tokmak. Kadyrows Männer waren dort und zwangen fast alle, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen. Es war sehr kalt und es lag überall Schnee.

Wonach haben sie gesucht?

Sie suchten nach Tätowierungen und Waffenspuren, um sicherzugehen, dass wir keine Soldaten sind. Es kommt mir jetzt komisch vor, aber sie wollten die Arbeitsschuhe meines Mannes mitnehmen, weil sie von guter Qualität waren. Aber da sie für die Besatzer zu klein waren, haben sie sie doch nicht mitgenommen. Wir hatten Glück, denn sie nahmen uns weder Geld noch Dokumente ab. Bekannte von mir, die zwei Wochen später ausreisten, mussten einen Lügendetektortest bestehen und haben nicht alle Sachen zurückbekommen.

Was passierte, als Sie nach Saporischschja kamen?

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Ukrainische Freiwillige gaben uns etwas zu essen und auch Hygieneartikel. Wir konnten uns endlich die Zähne putzen und uns waschen, denn wir hatten einen Monat lang nicht geduscht. Wir verbrachten die Nacht dort und fuhren dann nach Apostolowo zum Haus einer Verwandten, wo wir eine Weile blieben. Schließlich beschlossen wir, nach Krywyj Rih zu gehen.

Kommen Sie klar?

Ja. Mein Mann arbeitet weiter für DTEK, in der gleichen Position wie in Mariupol, aber ich wurde nicht wieder eingestellt.

Haben Sie noch Verwandte oder Freunde in Mariupol?

Ja, mein Patenonkel wollte nicht gehen. Jetzt kümmert er sich um unser Haus. Wir telefonieren per Telegram. Etwa zweimal im Monat meldet er sich.

Spricht er darüber, was jetzt in Mariupol passiert?

Ja, aber auf eine verschleierte Art und Weise. Die Besatzer belästigen die Frauen. Egal, ob es sich um ein zehnjähriges Mädchen oder eine 60-jährige Frau handelt. Sie machen, was sie wollen. Sie halten sich nicht an Regeln oder Gesetze.

Warum sind Sie in der Ukraine geblieben und nicht zum Beispiel nach Europa gegangen?

Ein Militär mit Darjas Pizza in der Hand.

Ein Militär mit Darjas Pizza in der Hand.

(Foto: privat)

Eigentlich möchte ich nach Mariupol zurückkehren, aber wenn es unter ukrainischer Flagge ist. Ich würde aber gern nach Europa in den Urlaub fahren, wenn der Krieg vorbei ist. Hier werden wir gebraucht. Ich schicke zum Beispiel Lebensmittel und andere Dinge an Brigaden, in denen Freunde von mir dienen – selbst angebaute Gurken und Tomaten, selbstgebackene Pizzen und andere Leckereien.

Sie haben viel Schlimmes erlebt. Wie kommen Sie mit all dem zurecht?

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Die ersten Monate waren hart. Manchmal setze ich mich immer noch hin und heule, weil ich nach Hause will. Aber wenn man die ganze Zeit darüber nachdenkt, wird man verrückt. Unsere Soldaten geben mir Kraft. Ich freue mich sehr, wenn sie anrufen und sich bei mir bedanken oder mir einfach schreiben, dass sie noch am Leben sind.

Mit Darja Sajzewa sprach Maryna Bratchyk

Quelle: ntv.de

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