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Experte zu Strombörsen-Panne: “Es hat gezeigt, wie abhängig wir von Nachbarländern sind”

July 03
13:46 2024

Wirtschaft

Ohne ausreichende Im- und Exportkapazitäten für  den Strom könnten die Preisschwankungen zunehmen.

Ohne ausreichende Im- und Exportkapazitäten für den Strom könnten die Preisschwankungen zunehmen.

Durch eine Panne schossen die Strompreise an der Börse EPEX in der vergangenen Woche in extreme Höhen. Für Verbraucher mit dynamischen Stromtarifen vervielfachten sich zeitweise die Preise. Der Schaden sei zwar überschaubar, sagt Energiemarktexperte Tobias Federico vom Beratungsunternehmen Montel – Energy Brainpool im Interview mit ntv.de, dennoch gelte es, wichtige Lehren aus der Panne zu ziehen.

ntv.de: Was ist da letzte Woche passiert?

Tobias Federico: Kurzgefasst war es so: Einer der wichtigsten Handelsplätze für Strom für Mitteleuropa, die Strombörse EPEX Spot, hat die Preise für Lieferungen am kommenden Tag so berechnet, als ob kein Im- und Export zwischen den Ländern stattfinden würde. Das wird "Decoupling" – also Entkopplung – der Märkte genannt. Das Resultat waren extrem unterschiedliche Preise in Europa, wobei insbesondere Deutschland hervorgestochen ist, mit kurzzeitig sehr hohen Preisen.

Um zu verstehen, was das bedeutet: Können Sie kurz erklären, wie dieser Stromhandel funktioniert?

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Der europäische Strommarkt ist so organisiert, dass auf digitalen Handelsplätzen Algorithmen Angebot und Nachfrage matchen und anschließend Preise dazu veröffentlichen. Das passiert zunächst für ein spezifisches Lieferland, bevor der Algorithmus in einem zweiten Rechenschritt Im- und Exportmengen zwischen den Ländern berechnet. Das heißt, aus Ländern, wo wir einen sehr niedrigen Strompreis haben, wird Strom in Länder geliefert, wo der Preis hoch ist. Soweit die Im- und Exportkapazitäten – also bildlich gesprochen die Strom-Autobahnen zwischen den Ländern – ausreichen, kommt dabei ein harmonischer europäischer Strompreis heraus. Gibt es Engpässe bei den grenzüberschreitenden Transportkapazitäten, bleiben die Strompreise in den verschiedenen Ländern unterschiedlich hoch. Dieses Prozedere läuft täglich ab, immer einen Tag vor der Lieferung des Stroms. Letzte Woche wurde der zweite Teil, die Im- und Exportmengen, nicht mitberechnet. Das war dann das "Decoupling".

Wie hat sich das auf den Strompreis in Deutschland ausgewirkt?

Bei EPEX Spot handeln viele Unternehmen, die dynamische Stromtarife anbieten, auch an Haushalte. Das sind Tarife, bei denen sich der Preis für die Verbraucher stündlich entsprechend der Entwicklung an einem bestimmten Referenz-Handelsplatz ändert. Infolge des Fehlers vergangene Woche haben manche Stromkunden in der App ihres Anbieters am Mittwoch zwischen sechs und sieben Uhr morgens einen Preis von 2,30 Euro pro Kilowattstunde gesehen.

Dieser Fehler ist zum allerersten Mal aufgetreten?

Es gibt immer wieder Probleme mit solchen Algorithmen. Normalerweise wird die Berechnung einfach wiederholt. Das Besondere ist in diesem Fall, dass der Fehler nicht rechtzeitig behoben werden konnte.

Wie schätzen Sie die Gefahr ein, dass sich das wiederholt?

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Die EPEX Spot und ihre Vorgängergesellschaften mit dem gleichen Handelsalgorithmus gibt es seit mittlerweile 24 Jahren. Ich kann mich an drei Ereignisse erinnern, wo es wirklich zu Problemen kam. Das ist schon eine sehr geringe Ausfallquote. Entsprechend klein ist auch die Wiederholungsgefahr.

Privatkunden mit einem dynamischen Stromtarif haben im schlimmsten Fall an diesem Tag ein paar Euro verloren. Das ist ein überschaubarer Schaden. Wie sieht das aber für industrielle Großverbraucher aus?

Bei Industriestromkunden kommt es darauf an, ob sie einen direkten Börsenzugang haben oder ihren Strom über Dienstleister beziehen, und ob sie den Strom nur an einem Handelsplatz einkaufen. Es waren wohl nicht viele Industriebetriebe betroffen. Aber einige haben echte Probleme gehabt. Es gibt Berichte, dass ein Stahlwerk die Produktion für einen Tag stillgelegt hat, weil der Strom zu teuer war.

Damit könnte man die Geschichte als wahrscheinlich einmaliges Ereignis mit einem begrenzten Schaden abhaken. Oder steckt ihrer Ansicht nach mehr dahinter?

Es war ein singuläres Ereignis. Einigen tat das zwar weh, aber die Auswirkungen sind begrenzt. Interessant ist es aus einem anderen Grund: Es hat uns vor Augen geführt, wie wir vom Im- und Export her von den Nachbarländern abhängig sind.

Und das ist ein Problem? Im Normalfall funktioniert das ja offenbar gut.

Langfristszenarien zeigen, dass wir genau solche Schwankungen in Zukunft erwarten müssen, wenn wir weiter extrem viel fluktuierende erneuerbare Stromerzeugung ausbauen, aber nicht im gleichen Maß Im- und Exportkapazitäten zu unseren Nachbarländern schaffen. Oder wenn wir zu wenige Backupkraftwerke bauen, die zur Not einspringen können. Dieser Softwarefehler an der Strombörse hat uns auf eine Art Zeitreise in dieses Langfristszenario mitgenommen. Das finde ich spannend.

Eine Antwort auf diese Schwankungen sind ja gerade diese dynamischen Stromtarife, die Kunden dazu bringen sollen, Strom möglichst dann zu verbrauchen, wenn viel Sonnen- und Windstrom erzeugt werden. Die Waschmaschine soll also nicht abends laufen, sondern per Timer auf den nächsten Mittag eingestellt werden. Wenn alle das machten, würden die Preisspitzen stark abgefedert. Ist ein solcher Effekt schon zu beobachten?

Das Beispiel mit der Waschmaschine ist schön. Aber wenn man sich anschaut, wie viel eine Waschmaschine verbraucht und wie viele Haushalte es gibt mit Waschmaschinen, dann ist das marginal im Vergleich zu dem, was etwa ein Pumpspeicherkraftwerk speichern und erzeugen kann. Es gibt ein paar Industriekunden, die ihren Stromverbrauch an diese Schwankungen anpassen können. Aber die meisten industriellen Prozesse sind nicht so flexibel. Das Potenzial dieser sogenannten verschiebbaren Lasten ist entsprechend begrenzt auf etwa zehn bis 15 Prozent der Stromnachfrage.

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Welche anderen Stellschrauben muss man angehen, um derartige Preisausschläge in der Zukunft zu verhindern?

Zum einen brauchen wir ein Speichersystem, das Strom zu günstigen Preisen einspeichert und zu teuren Preisen dann wieder ins Netz einspeist. Dazu werden unter anderem Batteriespeicher gehören, aber auch Elektrolyseanlagen, die Wasserstoff herstellen, beziehungsweise aus Wasserstoff Strom produzieren, wenn die Preise hoch sind. In den 2040er und 50er Jahren könnte insgesamt die Hälfte unserer Stromnachfrage preisdynamisch ausgestaltet sein, also in der Lage sein, auf Preisschwankungen zu reagieren.

In den vergangenen Tagen war vielfach zu hören, dass diese Entkoppelung die deutsche Energiewende als eine Art Mogelpackung entlarvt habe. Denn es sei zu sehen gewesen, dass der hohe Anteil erneuerbarer Energieerzeugung in Deutschland nur tragfähig ist, wenn Nachbarländer mit Atom- oder Kohlestrom helfen, die Schwankungen auszugleichen. Stimmen Sie dieser Einschätzung zu?

In relativ seltenen Fällen einer sogenannten Dunkelflaute, wenn weder die Sonne scheint, noch der Wind weht, sind wir auf Nachbarn angewiesen. Aber das Gleiche gilt auch, wenn Frankreich von einer Kältewelle erfasst wird. Dann verlassen die sich auf ihren größten Nachbarn und das sind nun mal wir. Insgesamt glaube ich, dass wir physikalisch sogar in der Lage wären, ohne Im- und Export gut durchzukommen. Kommerziell ist das anders. Ohne Im- und Export hätten wir ein höheres Preisniveau und teils extreme Ausschläge. Kommerziell brauchen wir diese europäische Durchmischung. Aber das ist natürlich ein Geben und Nehmen. Die Franzosen profitieren ja auch von den niedrigen deutschen Preisen zur Mittagszeit. Morgens und abends verdienen die Franzosen an den hohen Preisen in Deutschland. Mittags verdienen die Deutschen, wenn der Strompreis hier teilweise unter null fällt, während er Frankreich ohne Import bei 100 Euro pro Gigawattstunde läge, wie wir letzte Woche sehen konnten.

Mit Tobias Federico sprach Max Borowski

Quelle: ntv.de

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