Europäische Zentralbank – Chefin Christine Lagarde: »Ich nehme die Schuld auf mich!«
Die EZB erhöht die Leitzinsen so drastisch wie noch nie in ihrer Geschichte, und Präsidentin Lagarde nimmt ihre inflationsblinden Prognostiker in Schutz. Doch das nächste Drama für die Zentralbank kündigt sich bereits an.
Wie sehr sie den Prognosen ihrer Volkswirte eigentlich noch vertraue, wurde Christine Lagarde, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), am Donnerstagnachmittag gefragt. Schließlich waren es die Zahlenschubser um Lagardes Chefökonomen Philip Lane, die die Inflationsgefahren in der Eurozone lange Zeit und als »vorübergehend« kleingeredet hatten. Mit dem Effekt, dass die EZB umso hektischer nachziehen muss, um die horrende Teuerung von aktuell 9,1 Prozent in der Eurozone wieder in den Griff zu bekommen. Immerhin hob die Zentralbank jetzt ihren Leitzins um 0,75 Prozent auf 1,25 Prozent an.
Sie vertraue ihren Leuten, versicherte Lagarde, schließlich hätten die wie alle anderen Fachleute nicht vorhersehen können, dass Russland die Ukraine angreift, dem Westen den Gashahn abdreht und somit eine Inflation heraufbeschwört wie zuletzt in den Siebzigerjahren. Und wie es eine gute Chefin tut, stellte sich Lagarde demonstrativ vor ihre Mitarbeiter. »Ich nehme die Schuld auf mich!«, so die Französin, die selbst nie Notenbankerin war und auch deshalb von Experten zunehmend kritisch gesehen wird.
Lagardes Rückendeckung für ihr Team ehrt die Präsidentin. Doch davon losgelöst bleiben Zweifel, ob es die Zentralbank absehbar schaffen kann, die Teuerung wieder in den Griff zu kriegen. Die jüngsten Entscheidungen der Notenbank sind allenfalls der Anfang eines schmerzhaften und riskanten Prozesses, um das Biest Inflation zu zähmen. Aktuell beträgt
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der Leitzinssatz, zu dem sich Geschäftsbanken bei der EZB Geld leihen,1,25 Prozent;
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der Einlagenzins, zu dem sie Geld bei ihr parken, 0,75 Prozent;
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und der Spitzenrefinanzierungszinssatz, zu dem sie sich über Nacht Geld bei der EZB borgen, 1,5 Prozent.
Das klingt viel angesichts jahrelanger Null- und Negativzinsen. Doch weil die Inflation demnächst zweistellig ausfallen könnte, müssen die Eurozonen-Europäer (wie fast der Rest der westlichen Welt auch) horrende Kaufkraftverluste hinnehmen. Tagesgeldanlagen dürften zwar wieder attraktiver werden, aber unter dem Strich bleiben Wohlfahrtsverluste. Das gilt auch für Menschen, die ihr Geld in Aktien investiert haben, denn die Volatilität an den Börsen ist erheblich, die Stimmung trüb.
Daran werden die heutigen Maßnahmen nichts ändern, Zinsschritte wirken erst mit langer Verzögerung. Martin Moryson, Chefvolkswirt Europa der Fondsgesellschaft DWS; formulierte es so: »Ein großer Schritt für die EZB, ein kleiner Schritt gegen die Inflation.«
Tatsächlich steckt die EZB seit geraumer Zeit in einem perfekten Dilemma: Den Lehrbüchern nach sollen steigende Leitzinsen Bankkredite verteuern, die Nachfrage von Unternehmen und Verbrauchern nach frischem Geld abschwächen und so erst die heiß gelaufene Wirtschaft und dann die Preise abkühlen.
Bloß: Die Wirtschaft in der Eurozone ist nicht heiß gelaufen. Sie wird im Schlussquartal 2022 und zum Jahresauftakt 2023 laut Lagarde stagnieren oder in die Rezession stürzen, je nachdem, was sich der Warlord in Moskau noch für Gemeinheiten ausdenkt.
Weitere Schritte angekündigt
Die Preise steigen also vor allem wegen der hohen Energiekosten, und dagegen kann auch die EZB nichts machen. Was sie indes versäumt hat, ist, Bürgern und Investoren rechtzeitig den Eindruck zu vermitteln, die Inflation mit allen Mitteln zu bekämpfen. Das muss sie jetzt mit drastischen Zinserhöhungen nachholen, Lagarde hat für die nächsten Monate weitere Schritte angekündigt.
Zugleich drohen die hohen Gaspreise die Wirtschaft abzuwürgen. Einer schlappen Wirtschaft kann die EZB aber nicht mehr wie so oft in der Vergangenheit helfen, indem sie die Zinsen wieder senkt; denn die Notenbank ist zuallererst der Preisstabilität verpflichtet. Das sieht inzwischen auch Lagarde selbst so – obwohl sie sich weiterhin und viel öfter als ihre Vorgänger mit zeitgeistlichen Betrachtungen zu Themen wie Geschlechtergerechtigkeit und Klimaschutz zu Wort meldet, die nichts mit der Kernaufgabe einer Zentralbank zu tun haben.
Lagarde und die EZB scheinen gerade noch einmal die Kurve zu kriegen in Sachen Inflationsbekämpfung. »Besser spät als nie«, sagt etwa Ifo-Präsident Clemens Fuest und mahnt an: »In den nächsten Monaten werden weitere Zinserhöhungen folgen müssen. (…) Den Ausstieg aus der expansiven Geldpolitik wegen der Aussicht auf einen Konjunkturabschwung zu verschieben, würde die Kosten der Inflationsbekämpfung nur steigern.« ZEW-Ökonom Friedrich Heinemann nannte den Zinsschritt »unausweichlich«.
Und der vielleicht unangenehmste Moment kommt erst noch: Sollten die Italiener ihrer Neigung zu Verrücktheiten an der Wahlurne nachgeben und bei den Parlamentswahlen am 25. September eine rechtsradikale Dreierkoalition in die Regierung wählen, dürfte das Vertrauen der Investoren in eines der Euro-Kernländer weiter sinken.
Schon jetzt machen die Großanleger einen Bogen um italienische Staatsanleihen. Das hört sich wie Gehirnfutter für Märkte-Nerds an, ist aber gefährlich für die EZB. Denn sie will Ländern beiseite springen, deren Anleihen kaum noch Käufer finden, indem sie selbst die Papiere aufkauft. Das ist etwas, dass sie jahrelang getan hat, aber quer durch die Eurozone – als Retter einzelner Länder ist sie so explizit, wie sie es jetzt vorhat, bislang nicht eingesprungen.
Was für ein Szenario: In Rom regieren Protofaschisten, die schuldenfinanzierte Wohltaten unters Volk bringen, und die EZB muss zu Hilfe eilen, damit daraus keine neue Eurokrise wird. Hoffentlich haben sich Lagardes Zahlenschubser darüber rechtzeitig Gedanken gemacht.