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Eltern, Tiktok, Zukunftsangst: Warum junge Männer in Deutschland nach rechts abdriften

October 19
10:16 2024

Panorama

Bei den vergangenen Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen war die AfD bei den Jung- und Erstwählern am beliebtesten.

Bei den vergangenen Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen war die AfD bei den Jung- und Erstwählern am beliebtesten.

Die jüngste Shell-Studie offenbart alarmierende Tendenzen: Ein Viertel aller jungen Männer bezeichnet sich als rechts. Immer mehr Jugendliche fühlen sich von populistischen Botschaften angezogen. Experten sehen mögliche Ursachen im Elternhaus – und in einer äußerst erfolgreichen Strategie der AfD.

"Echte Männer sind rechts", behauptet Maximilian Krah auf Tiktok. Der AfD-Politiker richtet seine Worte direkt an die jungen Männer vor den Smartphone-Bildschirmen: eine Aufforderung zum rechts sein im 20-sekündigen Hochkant-Format – verpackt als Dating-Tipp ("Dann klappt's auch mit der Freundin"). Das Video sammelte rund 1,4 Millionen Klicks, Zehntausende drückten den "Gefällt mir"-Button. Mittlerweile ist die Aufnahme mehr als ein Jahr alt. Doch mit der jüngst vorgestellten Shell-Jugendstudie gewinnen die fragwürdigen Ratschläge des AfD-Spitzenkandidaten bei der vergangenen Europawahl wieder an Aktualität. Denn: Laut der repräsentativen Umfrage bezeichnet sich jeder vierte junge Mann in Deutschland als rechts.

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Panorama 15.10.24 Shell-Studie 2024 veröffentlicht Jeder vierte junge Mann in Deutschland bezeichnet sich als rechts

Das ist ein deutlicher Anstieg seit der vergangenen Befragung vor fünf Jahren. Damals ordneten sich weniger als jeder fünfte männliche Jugendliche als rechts oder eher rechts ein. Zudem ist die Shell-Studie zwar die jüngste, allerdings lange nicht mehr die einzige Studie, die der Jugend einen Trend zu rechten Positionen attestiert. Schließlich wurde die AfD unter Jung- und Erstwählern bei der Europawahl im Juni zweitstärkste, bei den Landtagswahlen im Osten sogar stärkste Partei.

Einen "allgemeinen Rechtsruck der Jugend" schließt die Shell-Studie trotzdem explizit aus. Vielmehr führe die zunehmende Politisierung dazu, dass sich die Jugendlichen stärker als in den vergangenen Jahren an den politischen Rändern ansiedeln. Tatsächlich ist nicht nur der Anteil junger Männer gestiegen, der sich als rechts oder eher rechts bezeichnet. Auch ordnen sich sowohl mehr männliche als auch weibliche Jugendliche dem linken oder eher linken Lager zu als noch 2019. Im Schnitt verortet sich die Jugend damit noch immer leicht links der Mitte.

Das Spiegelbild der Gesellschaft

Alarmierende Tendenzen gibt es mit Blick auf die Details der Studie trotzdem. Populistische, autoritäre, teils sogar rechtsextreme Denkweisen haben deutlich zugenommen. So halten etwa 18 Prozent der Jugendlichen Gewalt zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte für legitim. 44 Prozent finden, dass "eine starke Hand" mal wieder "Ordnung in unseren Staat bringen" müsse. Schließlich stimmen – trotz Mitte-links-Verortung – fast die Hälfte aller Jugendlichen (48 Prozent) folgender Aussage zu: "Der Staat kümmert sich mehr um Flüchtlinge als um hilfsbedürftige Deutsche."

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Panorama 15.10.24 Neue Shell-Jugendstudie "Krisen gehen an junger Generation nicht spurlos vorüber"

Die Jugend ist also deutlich empfänglicher für Populismus. Das sei erschreckend, allerdings keineswegs überraschend, sagt die Politikwissenschaftlerin Sabine Achour im Gespräch mit ntv.de. "Die Jugendlichen sind das Spiegelbild der Gesellschaft." Und diese wird immer anschlussfähiger für antidemokratischen Populismus, wie etwa die Mitte-Studie 2023, an der auch Achour mitgeschrieben hat, belegt. Vermeintlich einfache Lösungen in krisenhaften Zeiten, etwa die Erklärung von Migration zur flächendeckenden Ursache gesellschaftlicher Probleme, finden insgesamt mehr Anklang. "Wir können also nicht erwarten, dass die Jugend diesem Trend standhält und am Ende unsere Demokratie rettet", mahnt die Expertin.

Zumal das Bild der stets links-progressiven Jugend ohnehin überholt sei, wie der Generationenforscher Rüdiger Maas bei ntv.de betont. "Das Stichwort in diesem Zusammenhang lautet Neokonventionalismus": Die jüngeren Generationen rebellieren immer weniger gegen ihr Elternhaus, der Wunsch zur Abgrenzung – auch durch politische Überzeugungen – wird kleiner. "Zudem sind Eltern heutzutage viel näher an ihren Kindern und damit auch in den Räumen der Jugend, die das viel stärker akzeptiert", fährt Maas fort. Das kann die Mutter sein, die ihre Tochter täglich durch die Gegend fährt oder aber der Politiker auf Tiktok. Auf diese Weise "vermischen sich auch die Werte der Generationen." Traditionelle oder rechtskonservative Werte werden zwangsläufig stärker wahrgenommen und möglicherweise übernommen.

Die Überbehütung

Nun ist die Übertragung von Werten das eine, die Anerziehung von Hilflosigkeit das andere. Maas erklärt: "Wenn ich mein Leben lang überallhin gefahren werde, mir generell jede Verantwortung abgenommen wird, dann habe ich nie gelernt, mein Handlungsspielfeld wahrzunehmen, möglicherweise sogar selbst den Weg zu wählen." Infolge übertragen die Jugendlichen immer mehr Verantwortung auch auf den Staat. Er trägt nun die Verantwortung dafür, dass der Jugendliche einen Studienplatz, einen Job und ein Wohnungsangebot erhält. Passiert dies nicht, mache sich schnell ein Gefühl von Ohnmacht breit. "Im Grunde wünsche ich mir einen totalitären Staat, der in meinem Sinne agiert", sagt Maas. "Und gewissermaßen finden die Jugendlichen das bei der AfD, die ihnen suggeriert: Der Staat sollte dafür sorgen, dass es dir besser geht."

Dass dabei oft demokratiegefährdende Ansätze und Äußerungen im Mittelpunkt stehen, wird demnach oft schlicht verkannt. Sowohl in Sachsen als auch in Thüringen ist die AfD als gesichert rechtsextremistisch eingestuft, im Bund ist sie ein Verdachtsfall. "Trotzdem nehmen viele Jugendliche die Partei nicht als rechtsextrem oder rechtsaußen, sondern als rechtskonservativ wahr", sagt Maas. Das heißt auch: "Für sie sind alle Parteien, die nicht mit der AfD koalieren, automatisch links."

Informationsmaterial zur Europawahl liegt an einem Stand.

Politik 30.05.24 Umfragen-Puzzle zur Europawahl Europa rückt nach rechts – und die Jugend geht voran?

Eine Ursache für diesen Unterschied in der Wahrnehmung könnte in dem ebenfalls nach rechts gerückten Diskurs liegen. "Von einer Brandmauer kann zumindest dort keine Rede mehr sein", sagt Politikwissenschaftlerin Achour. CDU-Chef Friedrich Merz behauptete beispielsweise im vergangenen Herbst, Geflüchtete würden das deutsche Gesundheitssystem ausnutzen. Das Zitat "Wir müssen endlich im großen Stil abschieben" von Bundeskanzler Olaf Scholz prangte etwa zur selben Zeit auf der Titelseite des "Spiegel".

"Für Jugendliche ist kaum zu verstehen, warum das nicht rechts, die gleichen Aussagen von AfD-Politikern aber problematisch sein sollen." Die Einstufung als rechtsextremistische Partei ist vor diesem Hintergrund schwieriger nachzuvollziehen – gerade für Menschen, die noch nicht lange mit Politik zu tun haben. Und im Zweifel, so die Expertin, "denken sie: Wenn doch ohnehin alle gegen Migration sind, warum dann nicht das Original wählen?"

Zukunftsängste und Männlichkeit

Warum aber setzen junge Männer ihr Kreuz so viel häufiger beim "Original" als ihre Altersgenossinnen? Bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg wählten jeweils rund zehn Prozent mehr Männer als Frauen die AfD. Laut der Shell-Jugendstudie liegt der Anteil junger Frauen, die sich als rechts oder eher rechts bezeichnen, bei lediglich elf Prozent (Männer: 25 Prozent) und ist seit Jahren nicht gestiegen.

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Politik 17.10.24 Rassenlehre und SS als Vorbild Rassisten-Netzwerk um AfD-nahen Influencer enthüllt

In Betracht kommen ökonomische und soziokulturelle Faktoren, schreibt der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, in der "Zeit". So belegen Studien, dass Abstiegsängste zu mehr Zustimmung zu antidemokratischen Ansichten führen. Dies treffe nun vor allem auf junge Männer zu: Im Schnitt haben junge Frauen heute "eine bessere Qualifizierung als Männer" und damit auch eine bessere Chance auf eine sicherere finanzielle Lage. Während sie von der Modernisierung profitiert haben, so Fratzscher, zählen Männer zu den Verlierern dieser Entwicklung. Schließlich seien es gerade im Osten überproportional viele Frauen, die aus strukturschwachen Gegenden abwandern. "Zurück bleiben häufig Männer, die Schwierigkeiten haben, eine Partnerin zu finden und eine Familie zu gründen."

Neben Zukunftsängsten und Frust weist Generationenforscher Maas vor allem auf die von den Parteien adressierten Themen hin. "Am Ende geht es im eher linken Spektrum schlicht öfter um Punkte wie Gleichberechtigung und Feminismus und eben weniger um Themen, die klassischerweise für junge Männer attraktiv sind." Tatsächlich stellt auch die Shell-Studie einen deutlichen Interessenunterschied zwischen den Geschlechtern fest: Während es unter den jungen Frauen hohe Zustimmungswerte zu "woken" Themen wie etwa eine bunte, vielfältige Gesellschaft gibt, waren den jungen Männern vor allem Punkte wie Männlichkeit, sportliche Autos oder Wettbewerb wichtig.

Der Tiktok-Sog

Videos wie jenes von Krah, die eine vermeintlich "echte" Männlichkeit zum zentralen Thema machen, stoßen also durchaus auf fruchtbaren Boden. Dass es auf dem Profil des AfD-Politikers etliche solcher Sequenzen gibt, dürfte demzufolge kein Zufall sein. Mal geht es um "unnütze Gender-Studenten", mal um die "Letzte Generation", der Krah "zu wenig Testosteron" attestiert. Der Politiker füttert die Interessen männlicher Jugendlicher, ganz nebenbei wird "rechts sein" beziehungsweise "nicht links, nicht schwach sein" als Mittel zum Glück propagiert.

Dabei ist Krahs Account bei weitem kein Einzelfall, wie eine Studie der Dublin City University belegt. Demnach dauert es gerade einmal 23 Minuten, bis junge Männer auf Tiktok und Youtube "männliche Vorherrschaft propagierende Inhalte" angezeigt bekommen – egal, ob sie danach suchen oder nicht. Stoßen diese auch nur auf das kleinste Interesse, wird der Jugendliche im Anschluss regelrecht überschwemmt. Die Inhalte gleichen einem Sog aus Antifeminismus, Hass, Rassismus und anderen extremistischen Inhalten, wie die Studie beschreibt.

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"Digitale Räume sind zum ersten Einfallstor für rechtes Denken geworden, ganz besonders für junge Männer", bilanziert Achour. Allerdings, so die Politikwissenschaftlerin, "haben es die anderen Parteien der AfD gerade auf diesem Gebiet auch nicht gerade schwer gemacht." Vor allem vor den Wahlen seien die Rechtspopulisten fast dreimal stärker auf Tiktok gewesen als alle demokratischen Parteien zusammen. "Da wurde nonstop gesendet, den ganzen Tag. Natürlich verfängt sich das irgendwann in den Köpfen."

Die digitale Strategie der AfD sticht hervor, doch sie ist nicht die einzige. Die Partei wisse genau, wie Bildungsarbeit funktioniere, sagt Achour. "Im Prinzip übernehmen sie all das, was in den vergangenen 20 Jahren an Jugendarbeit weggekürzt wurde." Dazu gehört die Präsenz in Sportvereinen, speziell Kampfsportgruppen, aber auch die Organisation von Familienfesten. Man müsse es so deutlich sagen, mahnt die Expertin: "Die AfD hat den vorpolitischen Raum so stark eingenommen, dass wir uns mit aller Kraftanstrengung auf die Hinterbeine stellen müssen, um diese Strukturen wieder zu demokratisieren."

Quelle: ntv.de

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