Nachrichten in der Welt


Nachrichten der Welt

Die Grünen und ihr neues Grundsatzprogramm: Grüne Kampfansage

June 27
00:18 2020
Annalena Baerbock und Robert Habeck: Reif für die Regierungsbank Icon: vergrößern

Annalena Baerbock und Robert Habeck: Reif für die Regierungsbank

Kay Nietfeld/ dpa

Annalena Baerbock und Robert Habeck sind richtig gut gelaunt an diesem schwülen Sommervormittag. Berlin-Wedding, ein Industriegebäude, das zum Co-Working-Space umfunktioniert wurde, die beiden Parteivorsitzenden der Grünen stellen den Entwurf für ihr neues Grundsatzprogramm vor, das sie im Herbst auf ihrem Parteitag verabschieden wollen.

Baerbock spricht als erste, sie sitzt zwischen Habeck und dem politischen Geschäftsführer Michael Kellner: "Das ist ein Programm für die Breite der Gesellschaft, das unseren Führungsanspruch untermauert", sagt sie. Kellner geht noch weiter: "Dieser Entwurf ist die Antwort auf das überholte Konzept der Volksparteien", sagt er. "Es definiert uns als moderne Bündnispartei mit dem Anspruch auf Mehrheitsfähigkeit für die gesamte Gesellschaft."

Führungsanspruch, Mehrheitsfähigkeit: Keine Frage, die Grünen wollen bei der nächsten Bundestagswahl mit der Union um Platz eins kämpfen. Das so deutlich auszusprechen haben sie sich lange nicht getraut. Zu groß war die Angst vor der Scham über die eigene Hybris, sollten die Umfragewerte doch wieder heruntergehen, sollte die Partei bei der Wahl weit hinter Union, vielleicht sogar hinter der SPD landen.

Grüne wollen Union herausfordern

Zur Erinnerung: Bei der Bundestagswahl 2017 erreichten die Grünen 8,9 Prozent und feierten es als gutes Ergebnis. Die SPD lag bei 20,5 Prozent, CDU und CSU bei 33 Prozent der Stimmen.

Jetzt aber, drei Jahre später, sind die Ansprüche andere, sagen die Grünen, sie seien mehr als eine Ein-Themen-Partei. Sie reden erstaunlich wenig über Klimaschutz und Umweltpolitik, sondern über die Auswirkungen der Krise. Über Gerechtigkeit, Bildung, Vorsorge, Wirtschaft.

Sie glauben, die Union bei der Wahl im kommenden Jahr herausfordern zu können. Obwohl sie derzeit in Umfragen 17 Prozentpunkte hinter der Union liegen. "Die Union ist etwas überbewertet in den Umfragen, die strategischen Probleme sind ja offenkundig", sagt Habeck. Wenn man sich schon auf die Umfragen beziehe, müsse man sich die Bewegung ansehen – die Grünen hätten sich nach dem Beginn der Coronakrise wieder zurückgekämpft.

Tatsächlich lag die Partei noch vor wenigen Wochen bei deutlich unter 20 Prozent, eine heute veröffentlichte Infratest-Umfrage sieht sie nun wieder genau dort. Auch in der SPIEGEL-Umfrage des Instituts Civey geht es wieder nach oben.

Am Morgen haben die Grünen der CDU zum 75. Geburtstag einen Präsentkorb überreicht. Rhabarberschorle und Ingwerknollen seien darin gewesen, erzählt Habeck. Weil die CDU seit den Jamaika-Verhandlungen 2017 auch Ingwertee und Rhabarberschorle trinke. "Man kann sehr erfolgreich seinen Stil durchsetzen", sagt Habeck.

Und das grüne Grundsatzprogramm haben sie den Christdemokraten natürlich auch hineingepackt. Ob die Union dieses nun als Kampfansage verstehe, sagt Baerbock, das müsse jeder für sich entscheiden. Dass sie selbst die Interpretation als Kampfansage bevorzugt, ist offenkundig.

"…zu achten und zu schützen…" haben sie das Grundsatzprogramm getauft. Damit beziehen sich auf Artikel 1 des Grundgesetzes, der heißt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Kellner erklärt: "Wir stellen die Demokratie so zentral, weil wir unsere Verfassung schützen müssen." Darunter machen die Grünen es nicht mehr.

Der Programmentwurf ist in Paragrafenform gehalten, die Grünen versuchen, nicht zu wolkig zu klingen, das gelingt nicht immer. Aber immerhin, das Programm hat nur 58 Seiten, das Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2002 ist 190 Seiten lang.

Einige der Hauptpunkte:

  • Die Grünen, in der Vergangenheit durchaus für revolutionäre Tendenzen bekannt, bekennen sich klar zur "sozial-ökologischen Marktwirtschaft" und schreiben sogar, Wachstum in bestimmten Bereichen werde auch in einer künftigen Wirtschaft wichtig sein.

  • Bisher war die Ablehnung von Gentechnik Teil der grünen DNA. Erst in der vergangenen Woche gab es einen Fraktionsbeschluss, in dem steht, es fehle ein "überzeugender Beleg, dass Gentechnik-Pflanzen tatsächlich einen Beitrag zur Verbesserung der Welternährungssituation leisten". Das liest sich im Grundsatzprogramm offener. Dort heißt es: "Nicht die Technologie, sondern ihre Chancen, Risiken und Folgen stehen im Zentrum."

  • Ein weiterer alter Streitpunkt: Das Verhältnis zur Homöopathie und ob die Kosten für die Zucker-Kügelchen von der Krankenkasse übernommen werden sollten. Eine parteiinterne Kommission zur Klärung der Frage scheiterte. Im Entwurf heißt es: "Leistungen, die medizinisch notwendig sind und deren Wirksamkeit wissenschaftlich erwiesen ist, müssen von der Solidargemeinschaft übernommen werden." Die Wirksamkeit von Globuli ist nicht erwiesen.

  • Die Vermögensteuer ist drin – oder auch nicht. Im Entwurf heißt es: Das Aufkommen der Steuern aus Kapital- und Gewinneinkommen und aus großen Vermögen muss wieder erhöht werden.

  • Einer der wenigen Punkte, in denen das Programm konkret wird, betrifft die Bildungspolitik: Die Größe der Schulklassen sollen auf unter 20 Kinder reduziert werden, um Unterschiede auch bei den sozialen Voraussetzungen zu minimieren.

  • Das Programm enthält ein Bekenntnis zur Europäischen Union und zur Weiterentwicklung zu einer Föderalen Europäischen Republik, mit gemeinsamer Fiskalpolitik, dem Euro als Leitwährung und einer gemeinsamen Sicherheitspolitik. Wichtige Grundstoffindustrien sollen in der EU bleiben: "Außereuropäische Übernahmen müssen dann, wenn nötig, auch untersagt werden. Kritische Infrastruktur und Schlüsselindustrien gilt es zu schützen."

Gentechnik dürfte für Streit sorgen

Gerade über die Erforschung und den Einsatz von neuen Gentechnikmethoden in der Landwirtschaft dürfte es bis zum Parteitag Streit geben. Anna Christmann, innovationspolitische Sprecherin der Fraktion, sagt, die Passage über Gentechnik werde dem Anspruch "Neue Zeit, neue Antworten" gerecht. "Ich bin insgesamt begeistert, dass unsere Partei so lernfähig und neugierig auf neue Lösungen ist."

Christmann hatte neulich mit anderen Abgeordneten ein Umdenken der Partei in der Gentechnik gefordert. "Wenn wir uns nicht konstruktiv in den Diskurs über einen neuen Umgang mit Gentechnik einbringen, wird ohne uns die Zukunft diskutiert", hieß es in dem Papier. Eine Woche später fasste die Fraktion den gentechnikkritischen Beschluss.

Tatsächlich findet der Programmentwurf auch unter den Kritikern Anklang. Zu ihnen gehört Harald Ebner, gentechnikpolitischer Sprecher der Fraktion. Ebner sagt, er sei zufrieden, dass Entwurf für eine strenge und konsequente Regulierung der Technik ausspricht. Auch dass das Vorsorgeprinzip im Programm erwähnt wird, begrüßt er. Technologien, die für die Umwelt möglicherweise eine Gefahr bedeuten könnten, dürfen nach diesem Prinzip erst gar nicht genehmigt werden.

Schon bevor das Grundsatzprogramm vorgestellt wurde, hatte es geheißen, dass es Ambivalenzen benennen soll. Die gibt es nun in der Tat.

Reif für die Macht?

Dass die Parteispitze das Grundsatzprogramm ausgerechnet am 75. Geburtstag der CDU vorstellt, dürfte auch kein Zufall sein. In einem Brief von Baerbock und Habeck an die Christdemokraten, der in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" veröffentlicht wurde, schreiben die Grünen-Chefs, es könne gar nicht sein, dass die CDU 75 werde, weil sie schon immer 75 gewesen sein muss. Weil Kohl ewig Kanzler gewesen sei. Weil sie im Jahr 1957 mit dem Slogan "Keine Experimente" geworben hätten. Eine kleine Neckerei.

Habeck und Baerbock schreiben, sie hätten das Selbstverständnis, das die Union im Umgang mit politischer Macht gehabt hätte, heimlich bewundert.

Jetzt, so klingt es, fühlen sie sich selbst reif für die Macht im Land.

Bei der Präsentation am Freitag zählt Habeck auf, welche Erfolge er für seine Partei in den vergangenen Wochen reklamiert: "Verhinderung von Abwrackprämie, Einführung von Coronabonds auf europäischer Ebene, die App ist im Grunde nach unseren Vorschlägen gebaut worden, die Debatte Wahlalter 16, Streichung von 'Rasse' aus dem Grundgesetz, Stopp von einem schlechten Kompromiss für die Sauenhaltung."

Angst vor Hybris haben die Grünen jedenfalls nicht mehr.

Icon: Der Spiegel

Neueste Beiträge

4:17 Kurz nach Flixbus-Unfall: Weiterer Reisebus auf A44 umgekippt

0 comment Read Full Article