Der steile Absturz des Börsen-Superstars

Ex-Wirecard-Chef Markus Braun: Chefvisionär a. D.
Bloomberg/ Getty Images
Man kann vom Dax halten, was man will. Aber zumindest musste man bislang normalerweise nicht damit rechnen, dass eins der Unternehmen, die in diesem Index notiert sind, plötzlich Insolvenz anmeldet. Geld haben diese 30 größten börsenfinanzierten Konzerne normalerweise genug, das ist schließlich der Witz an der Sache.
Und doch ist es nun so gekommen: Wirecard, seit 2018 im Dax gelistet, hat die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens beantragt. Im Licht der Ereignisse der vergangenen Wochen: zumindest keine große Überraschung mehr. Es fehlen knapp zwei Milliarden Euro, die auf den Philippinen geparkt gewesen sein sollten – rund ein Viertel der Bilanzsumme des Konzerns. Es fehlt sogar die Gewissheit, dass das Geld je existiert hat. Es fehlt inzwischen auch der langjährige Vorstandschef Markus Braun. Es fehlt womöglich bald eine lebenswichtige Kreditlinie, die gerade nur kurz verlängert wurde. Und es fehlt das Vertrauen, dass das noch irgendwie gut ausgehen könnte.
Für die deutsche Finanzwelt ist das ein ungekanntes Desaster, das Tempo der Entwicklung atemberaubend. Immerhin das kennt man schon von Wirecard – die Geschichte des Konzerns, der noch nicht einmal 20 Jahre alt ist, war schon vor diesem Skandal rasant.
Die Anfänge
Wirecards Aufstieg fällt in die Zeit, als der Neue Markt zusammenbrach. Zur Erinnerung: In den Neunzigerjahren grassierte in Deutschland die Börseneuphorie. Im frisch eingerichteten Börsensegment Neuer Markt waren vor allem Technologieunternehmen gelistet, deren Aktien teils karikaturenhafte Gewinnzuwächse verzeichneten. Gehandelt wurden die Ideen der Gründer und Vorstandschef, aber oft stand dahinter keine Wertschöpfung. Den Terroranschlägen vom 11. September folgte eine Wirtschaftskrise, in der solche Technologieunternehmen reihenweise dichtmachten.
Auch Wirecard, damals noch ein Händler von Softwarelizenzen, steckt in jener Zeit in der Krise. Ein angeheuerter Unternehmensberater soll aufräumen, Markus Braun. Und das tut er, beeindruckt dabei das Management derart, dass er bald selbst als Chief Technology Officer angestellt wird.
Wobei unterschiedliche Deutungen dieser Rettung kursieren. Mancher im Unternehmen hält ihm bis heute vor, in jener Zeit das alte Kerngeschäft an die Konkurrenz vertickt und Wirecard dabei ausgehöhlt zu haben. Er bestreitet das.
Was unstrittig ist: Dass er bereits 2002 auf den Chefposten bestellt wird; dass er mit dem neuen Geschäft der Zahlungsabwicklung dem Laden eine neue Perspektive gibt, die viele Zeitgenossen noch nicht einmal verstehen; dass er die Leerstellen, die gescheiterte Neue-Markt-Unternehmen hinterlassen hatten, als Chance zu deuten weiß.
Digitale Zahlungsabwicklung ist damals etwas, von dem viele sagen: Dafür hat man doch Banken, was soll das? Wobei zu der Dienstleistung dreierlei zählt: Nicht nur die korrekte Abrechnung von Geldsummen bei Händler und Kunde, sondern auch, dass Wirecard das Risiko einer ausfallenden Zahlung bewertet und im Notfall einspringt. Letztlich gleichen Zahlungsabwickler die Unzulänglichkeit der Banken aus, die Zahlungen oft eben nicht in Echtzeit gutschreiben: Ob alles klappt, weiß der Händler sonst erst hinterher, der Zahlungsabwickler garantiert ihm sofortige Sicherheit.
Zu Wirecards ersten Kunden gehören Porno- und Glücksspielanbieter im Internet. Auch das trägt in den frühen Jahren zu einem halbseidenen Image bei. Dabei sind diese Branchen oft einfach jene, die technischen Fortschritt besonders schnell in Geschäft übersetzen. Heute etwa zählen Pornoseiten zu den Vorreitern beim Thema Virtual Reality.
Braun tritt als Chefvisionär in Erscheinung, er baut als Wirtschaftsinformatiker die digitale Infrastruktur von Grund auf, er fädelt die wichtigen Deals ein, zusammen mit seinem Vertrauten Jan Marsalek. Braun wird schnell zum unumstrittenen Kopf des Unternehmens, steuert zentral mit nur einem kleinen Kreis von engen Mitarbeitern. Bis zuletzt besteht sein Vorstand nur aus vier Personen – einschließlich Braun.
Heute erbringt Wirecard seine Dienste an jeder Ecke. Ein Einkauf bei Aldi, per Kreditkarte bezahlt – eine Kartenzahlung bei Rossmann – ein Mitbringsel vom Münchener Flughafen. Weitere wichtige Kunden sind Apple, Google, Alibaba. Und Wirecard ist beileibe nicht mehr der einzige Zahlungsanbieter. Allerdings war die Marke in der Öffentlichkeit bisher wenig bekannt, weil sie, anders als zum Beispiel PayPal, selten gegenüber dem Endkunden in Erscheinung tritt.
Der steile Aufstieg
Zwischen diesen Anfängen und dem jähen (vorläufigen) Ende liegen nur 18 Jahre, ereignisreiche Jahre. Spätestens ab 2007 internationalisiert Braun den Konzern und gründet eine eigene Gesellschaft für den asiatischen Markt. 2014 folgen Australien, Südafrika, die Türkei. 2016 dann Nordamerika, Wirecard erwirbt die Prepaid-Karten-Sparte der Citigroup. 2019 kauft sich der Konzern in China ein.
Das alles beflügelt immer auch die Fantasie der Investoren, von Wirecard erwarten sie Großes. Ab 2006 wird das Unternehmen im Tec-Dax für Technikunternehmen gelistet, im September 2018 schließlich ist Wirecard so groß, dass der Konzern in den Dax aufsteigt. Im Gegenzug fliegt die Commerzbank raus – und viele Beobachter sehen darin ein Symbol dafür, dass die neue Finanzwelt die alte ablöst.
Bis zuletzt gibt es in der Börsengemeinde Gläubige, die sich einen Kurs von 200 Euro pro Wirecard-Aktie vorstellen können. Diesen Donnerstag stürzt er zeitweise auf 2,45 Euro. Dabei gab es schon länger Warnungen: Viel Neugeschäft bei Wirecard komme aus Märkten mit wenig Transparenz bei der Zahlungsabwicklung. In Asien wurden vor allem die Schwellenländer in Angriff genommen, in Europa Rumänien. Die Euphoriebereitschaft vieler Anleger bremste das nicht.
Die Vorwürfe
Selbst als die "Financial Times" ("FT") im Januar 2019 die Bombe zündet, die nun Wirecard zerreißt, halten viele Investoren an dem Konzern fest. Dabei sind die Vorwürfe von Anfang an explosiv: Im Herbst zuvor hatten sich Whistleblower aus Singapur an "FT"-Redakteur Dan McCrum gewandt: Bei ihrem Unternehmen würden Scheinumsätze bilanziert.
In Deutschland wischen das zunächst viele beiseite. Zwar weisen die Behörden in Singapur Fehlbuchungen nach, doch Wirecard gesteht nur einen Umfang von 2,5 Millionen Euro zu, angeblich ein Versehen.
Braun verklagt die "FT", greift McCrum an: Dieser würde von den Vorwürfen – jeder seiner Artikel führt zu Kursverlusten – persönlich profitieren. Sogar die deutsche Bankenaufsicht Bafin ermittelt schließlich in diese Richtung. Die "FT" weist alle Vorwürfe zurück, eine Gegenklage ist anhängig.
Tatsächlich gibt es immer wieder Leerverkäufer, die auf den weiteren Absturz wetten und so Gewinn aus der Krise ziehen. Illegal ist das nicht. Vorerst steht Aussage gegen Aussage, allerdings schließt auch die Bafin nicht mehr aus, dass es Marktmanipulationen seitens Wirecard gegeben haben könnte.
Der Absturz
Fans halten Wirecard lange die Stange, doch so kann es nicht weitergehen. Braun stößt eine Sonderprüfung an. Nachdem die Rechnungsabschlüsse von Wirecard jahrelang von EY (früher Ernst & Young) geprüft wurden, soll nun der Konkurrent KPMG die Zahlen von 2019 erneut unter die Lupe nehmen.
Derweil mehren sich ungute Vorzeichen. Wirecard will eine Anleihe ausgeben, um 500 Millionen Euro für seine weitere Expansion einzusammeln. Doch zwei der Gesellschaften, die dort als Sicherheiten aufgeführt werden, haben keine testierten Rechnungsabschlüsse. Das heißt: Die Wirtschaftsprüfer wollen nicht für deren Zahlen geradestehen. Wirecard weist zwar darauf hin, dass dies am Standort der Gesellschaften, Dubai, seinerzeit rechtlich nicht erforderlich gewesen sei. Aber Vertrauen fördert man so nicht.
Im April 2020 schließlich liegt das KPMG-Gutachten vor. Kurz zuvor frohlockt Braun, dass das Papier seine Firma freisprechen werde. Doch es kommt anders. Beweise für einen gezielten Bilanzbetrug findet KPMG zwar nicht. Doch die Einblicke, die Prüfer liefern, sind erschreckend. Für Zahlungen auf Treuhandkonten, um die es in dem Fall geht, liegen keine ausreichenden Nachweise vor, die Kontrollmechanismen bei Wirecard taugen wenig, es fehle schlicht das Interesse an wirklicher Aufklärung.
Am 18. Juni soll dennoch der Jahresabschluss vorgelegt werden. Doch daraus wird nichts. Die Prüfer von EY vermissen 1,9 Milliarden Euro, die eigentlich auf jenen Treuhandkonten hätten liegen sollen. Sie sind gedacht als Geldreserve für ausfallende Zahlungsvorgänge. EY verweigert Wirecard das Testat – die Voraussetzung für einen regelkonformen Abschluss und für die Fortführung einer wichtigen Kreditlinie über zwei Milliarden Euro.
Nun fliegen die Fetzen. Der Börsenkurs kollabiert. Jan Marsalek, Brauns Vertrauter und einer der vier Vorstände, wird von seinen Aufgaben freigestellt. Kurz darauf verkündet schließlich Braun selbst seinen sofortigen Rücktritt. Die angeblichen Partnerbanken von Wirecard, bei der die Treuhandkonten bestehen sollen, melden unabhängig voneinander: "Wirecard ist kein Kunde von uns."
Hat es die Konten nie gegeben? Eine der beiden Banken bezeichnet die Unterlagen, die die Existenz des Kontos beweisen sollen, als Fälschung. Die Kreditlinie, die Wirecards Gläubiger dem Unternehmen gewährt haben, ist ernsthaft in Gefahr, wird schließlich nochmal kurzfristig verlängert. EY geht inzwischen von einem "umfassenden Betrug" aus.
Doch es hilft alles nichts: An diesem Donnerstag muss der Interims-CEO James Freis die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragen. Es wird spannend, was von Wirecard übrigbleibt, wenn der Rauch sich lichtet.
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