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Covid-19 in Indien: Wo Abstand Luxus ist

June 13
11:55 2020
Andrang vor einer privaten Klinik in Bangalore, wo Menschen nach Ayurveda-Produkten anstehen Icon: vergrößern

Andrang vor einer privaten Klinik in Bangalore, wo Menschen nach Ayurveda-Produkten anstehen

MANJUNATH KIRAN/ AFP

"Indiens Gesundheitssystem war schon vor der Pandemie überlastet. Jetzt kollabiert es", sagt Kunal Purohit aus Mumbai am Telefon. Er habe es selbst mitangesehen.

Drei Tage lang habe sein Onkel über Husten geklagt. Am vierten Tag kam starke Atemnot hinzu. Die Familie rief den Covid-19-Notruf der Stadt – niemand nahm ab. Ein privates Krankenhaus nach dem anderen wies sie ab. Es seien keine freien Betten verfügbar, keine Krankenwagen. Die Familie besitzt kein Auto. Ein Nachbar erklärte sich schließlich bereit, den Onkel in ein Krankenhaus zu fahren.

Die Fahrt dauerte lediglich 20 Minuten, aber für den Erkrankten war der Weg zu weit. Purohits Onkel starb unterwegs im Auto. Er wurde 59 Jahre alt. Sein Covid-19-Test, der erst am Tag darauf zurückkam, war positiv.

Erst sechs Stunden später wird der Tote abtransportiert

Die Familie lebt zu siebt unter einem Dach, wie es in Indien häufig der Fall ist. Wenige Tage nach dem Onkel verstarb auch die 86-jährige Mutter. Purohit weiß nicht, woran. Der Familie war es nicht gelungen, sie testen zu lassen. Zwei weitere Familienmitglieder sind an Covid-19 erkrankt. Purohit sagt, er erzähle das, weil er überzeugt sei: "Das ist es, was uns jetzt bevorsteht."

Mehr als 280.000 Inder haben sich bislang offiziell mit dem Coronavirus infiziert.Damit liegt Indien auf Platz vier der am meist betroffenen Länder. Auch wenn die Zahlen gemessen an der Gesamtbevölkerungszahl gering ausfallen und es bislang wenig Tote gibt, sind viele Beobachter besorgt. Denn die Zahl der Fälle verdoppelt sich alle 15 Tage.

Laut einer Modellrechnung der University of Michigan könnte es im besten Fall am 1. Juli 558.000 Infizierte im Land geben; im schlechtesten 1,9 Millionen. Die Epidemiologin Bhramar Mukherjee, die die Forschergruppe leitet, glaubt nicht, dass die Zahlen vor Ende Juli sinken werden. "Die nächsten zwei Monate werden schwierig", sagt sie.

Denn Indien plant, den Lockdown trotz ansteigender Infektionszahlen weiter zu lockern. Seit dieser Woche dürfen Tempel, Moscheen, Einkaufszentren und Restaurants wieder öffnen, wenn auch mit Einschränkungen. Die Straßen, die wochenlang ungewöhnlich verwaist dalagen, füllen sich langsam aber sicher wieder mit Menschen und Verkehr. Es gibt seit Kurzem wieder Flug- und Zugverbindungen im Land.

Die Zahl der Armen wird zum ersten Mal wieder steigen

Vor allem die Metropolen Delhi, Mumbai, Chennai und Ahmedabad sind von Corona betroffen. Ein Video aus einem Krankenhaus in Mumbai zeigt Patienten, die auf Kartons auf dem Boden schlafen. Am Dienstag verkündete die Regierung der Stadt, man erwarte, dass die derzeit fast 29.000 Fälle bis Ende Juli auf 550.000 steigen könnten. Dann würden 80.000 Betten benötigt. Vorhanden seien jedoch nur knapp 20.000.

Schon jetzt fehlt es zudem mancherorts an Ärzten und Krankenhauspersonal. Weil etwa nicht genug Pfleger anwesend waren, um die Leiche von Purohits Onkel in den Leichensack zu heben, mussten der Nachbar und ein Cousin mitanpacken. Erst sechs Stunden später wurde ein Krankenwagen frei, um den Toten abzutransportieren.

Dabei nahm Indien die Krankheit von Anfang an ernst. Anders als zum Beispiel sein brasilianischer Kollege Bolsonaro erkannte Premier Narendra Modi die Gefahr, die von dem neuen Coronavirus ausging. Als der Premier am 24. März seinen Bürgern den Lockdown verkündete, beschwor er sein Volk regelrecht dazu, nicht aus dem Haus zu gehen.

Damals gab es gerade mal 500 Fälle im Land und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) pries Indien für sein schnelles Handeln. Zweieinhalb Monate später schlug der Premier andere Töne an. Das Virus werde "auf lange Sicht Teil unseres Lebens werden", sagte Modi, als er erste Lockerungen ankündigte.

Sein Kurswechsel kommt nicht von ungefähr. Die indische Wirtschaft könnte 2020 zum ersten Mal seit 40 Jahren schrumpfen. Mehr als 140 Millionen Menschen haben ihre Arbeit verloren. Hunderttausende Wanderarbeiter sind zu Fuß nach Hause gelaufen, weil sie in den Städten kein Einkommen mehr fanden und die Regierung den Lockdown schlecht geplant hatte. Die Zahl derer, die in extremer Armut leben, könnte zum ersten Mal wieder steigen statt sinken.

Dem Land fehlt schlicht die Kraft, um den Lockdown weiter durchzuhalten. Hinzu kommt: Die Ausgangssperre hatte nicht den gewünschten Effekt. Anders als in Europa ist es in vielen Regionen Indiens nicht gelungen, die Infektionskurve "abzuflachen". Vor allem in den großen Städten hat sich die Epidemie zwar langsamer verbreitet als vorher, aber die Zahl der Neuinfektionen sank nicht, im Gegenteil. Mit der paradoxen Folge, dass die Rückkehr an ihren Arbeitsplatz für die Bürger Mumbais und Delhis nach dem Lockdown gefährlicher ist als vorher.

Einer der Gründe dafür ist die Art und Weise, wie indische Städte aufgebaut sind, glaubt die Epidemiologin Mukherjee: "Die hohe Bevölkerungsdichte, mehrere Bewohner in einem Haushalt, Slums, das Teilen sanitärer Anlagen, all diese Probleme haben Europa und die USA nicht." In Mumbai zum Beispiel leben mehr als 18 Millionen Menschen – rund 40 Prozent von ihnen in Slums. Abstand ist hier ein Luxus, der nicht existiert.

"Wer Geld hat und die richtigen Leute kennt, muss wenig befürchten"

Fast jede indische Regierung der vergangenen Jahrzehnte hat versprochen, mehr in die Gesundheit zu investieren, passiert ist wenig. Indien ist heute die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt, aber es gibt lediglich rund 1,3 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Gesundheitskosten aus. In Indien kommen laut Weltbank im Schnitt tausend Einwohner auf 0,7 Krankenhausbetten. In China sind es 3,8, in Brasilien 2,2. Ein großer Teil dieser Betten gehören zudem zu privaten Krankenhäusern. Die Folge ist, dass in der Krise die sowieso bereits große Ungleichheit zwischen den Starken und Schwachen noch deutlicher zutage tritt.

Purohits Tweet über das, was seinem Onkel zugestoßen ist, wurde viele Tausende Male geteilt. Ein paar Tage danach meldete sich ein hochrangiger Politiker bei ihm. Der Mann machte ein paar Anrufe und plötzlich ging alles ganz schnell. Die Familie wurde auf das Virus getestet, der infizierte Cousin ins Krankenhaus eingeliefert. Purohit sagt: "Wer Geld hat und die richtigen Leute kennt, muss wenig befürchten. Alle anderen sind auf sich allein gestellt."

Icon: Der Spiegel

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