Corona – zweite Welle: “Regierung hat mit den Lockerungen ein falsches Signal gesendet”
Wann wird das Leben wie vor der Coronakrise? Noch sehr lange nicht, meint die Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum. Sie befürchtet, dass wir bald wieder da stehen, wo wir am Anfang waren.
Alles macht den Eindruck, als wäre das Schlimmste vorüber: Seit Anfang der Woche dürfen kleinere Geschäfte wieder öffnen, ab Mai soll der Schulbetrieb schrittweise wiederaufgenommen werden. Die Kontaktbeschränkungen gelten zwar noch, aber die Lockerungen der Corona-Maßnahmen vermitteln das Gefühl, dass wir bald endlich wieder unseren Alltag aufnehmen können. Weit gefehlt.
Nicht nur die Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte vor "Öffnungsdiskussionsorgien" und zerschlug Hoffnungen, schon bald wieder zum normalen Leben zurückkehren zu können. Auch Virologen raten besorgt dazu, die Füße still zu halten. Christian Drosten, der den Corona-Ausbruch so lange beobachtet wie kaum ein anderer deutscher Virologe, warnte im NDR-Podcast vor einer zweiten Infektionswelle, die Deutschland mit noch größerer Wucht treffen könnte als die erste. Das Virus verbreite sich unter der Decke der Maßnahmen weiter, twitterte er am Sonntag. "Auch jetzt schon."
Die Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig stimmt dieser Einschätzung zu. Im Interview erklärt sie, warum die Lockerungen ein falsches Signal an die Bevölkerung sind und was es bräuchte, damit Deutschland wirklich wieder zur Normalität zurückkehren kann.
SPIEGEL: Frau Brinkmann, wie sehr hat Sie die Entscheidung überrascht, das Oktoberfest abzusagen?
Brinkmann: Gar nicht. Die Absage des Oktoberfests war für mich total klar – und absolut notwendig. Doch selbst in meinem Bekanntenkreis gab es teilweise erstaunte Reaktionen, weil es ja erst in fünf Monaten stattgefunden hätte. Offenbar dachten sie, bis dahin ist alles wieder vorbei. Das hat mir gezeigt, dass ein großer Teil der Bevölkerung das Ausmaß der Situation noch nicht realisiert hat. Jetzt sehen die Menschen, dass einige Maßnahmen gelockert werden, und das vermittelt ihnen den Eindruck, dass der Lockdown jetzt nach und nach aufgehoben wird und sie schon bald zum Alltag zurückkehren können.
SPIEGEL: Unser bekannter Alltag ist noch weit entfernt?
Brinkmann: Leider ja – und zwar noch sehr weit. Es ist eine Illusion, dass wir von einer Besserung sprechen können. Wir stehen immer noch am Anfang der Pandemie, das vergessen viele. Die Regierung hat mit den Lockerungen nun ein falsches Signal gesendet, und ich befürchte, dass viele das Virus jetzt nicht mehr so ernst nehmen und wieder mehr Kontakte treffen. Wenn das passiert, stehen wir bald wieder da, wo wir am Anfang standen.
SPIEGEL: Christian Drosten prophezeit sogar, dass es uns bei der zweiten Welle noch viel schlimmer treffen wird. Glauben Sie das auch?
Brinkmann: Wenn wir das jetzt auf die leichte Schulter nehmen, wird es genau zu diesem Szenario kommen, ja: Wir werden eine zweite Infektionswelle bekommen, die noch schwerer verläuft als die bisherige, weil sie im ganzen Land stattfinden wird und weniger lokal begrenzt, wie es bei der ersten Welle der Fall war. Durch die Lockerungen wird die Ansteckungsrate vermutlich wieder über eins steigen – dann haben wir wieder ein exponentielles Wachstum, das man nur sehr schwer unter Kontrolle bekommt.
SPIEGEL: Derzeit liegt die Ansteckungsrate – also die Zahl der Menschen, die ein Infizierter durchschnittlich ansteckt – unter eins. Das Virus geht also zurück, daher haben Bund und Länder ja auch die Lockerungen beschlossen. Könnte man die Maßnahmen nicht einfach wieder verschärfen, falls die Epidemie wieder an Fahrt aufnimmt?
Brinkmann: Das Risiko liegt darin, dass die tagesaktuellen Zahlen ja den Stand von vor zehn Tagen abbilden. Durch den Meldeverzug, die lange Inkubationszeit und die Zeit, bis ein Infizierter einen Arzt aufsucht und ein Testergebnis vorliegt, kommen die Zahlen erst zeitverzögert. Wir bemerken also viel zu spät, wenn die Neuinfektionen wieder steigen. Dann könnte ein exponentielles Wachstum schon wieder in Gang sein. Und das wird dann auch zunehmend in die ältere Bevölkerung eingeschleppt werden, was zu einer höheren Todesrate führen wird. Die Folgen für das Gesundheitssystem und die Wirtschaft wären dann noch viel schlimmer als jetzt, weil wieder nur drastische Maßnahmen im ganzen Land als Lösung bleiben würden. Auch die Schulen und Kitas müssten sehr viel länger geschlossen bleiben, als wenn wir jetzt noch ein wenig durchhalten.
SPIEGEL: "Noch ein wenig durchhalten" ist sehr optimistisch: Derzeit kann niemand genau sagen, wie lange der Ausnahmezustand anhält. Für die Politik ist es verständlicherweise schwierig, die Balance zwischen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und gesundheitlichen Interessen zu finden. Vermutlich hat sich die Regierung dabei noch nie so sehr auf das Urteil von Virologen verlassen.
Brinkmann: Aus virologischer Sicht gibt es jedenfalls keine Grundlage, den Lockdown jetzt schon zu lockern. Ein intelligentes Anpassen ja, aber in Summe können wir uns kein Wiederaufflammen der Infektionszahlen leisten. Wir haben ja noch immer keine Tools an der Hand, mit denen wir dem Virus begegnen können, sollte es wieder Fahrt aufnehmen.
SPIEGEL: Mit "Tools" meinen Sie einen Impfstoff?
Brinkmann: Zum Beispiel. Oder wirksame Medikamente. Wir kennen die Krankheit ja noch nicht einmal gut, Ärzte wissen noch viel zu wenig über Therapiemöglichkeiten. Wenn wir die Krankheit und ihre Auswirkungen erst einmal besser verstehen, können wir sie früher und besser behandeln. Erst dann könnte man auch über Lockerungen sprechen. Gerade haben wir aber nur eine einzige Möglichkeit, die Ausbreitung einzudämmen: die Kontaktverfolgung, um Infizierte aus dem Verkehr zu ziehen. Und die ist aufwendig und bei den hohen Fallzahlen kaum zu bewältigen. Jetzt stellen sich auch noch Datenschützer entsprechenden Apps, die die Nachverfolgung viel schneller machen könnten, in den Weg.
SPIEGEL: Sie meinen also, in diesem Fall geht die Eindämmung der Pandemie über den Datenschutz?
Brinkmann: Ich finde es unglaublich, dass diese Debatte überhaupt geführt wird. Wir leben in Deutschland, einem der entwickeltsten Länder der Welt, unser Gesundheitssystem ist fantastisch und gut vorbereitet. Wir haben die besten Voraussetzungen – nutzen sie aber nicht richtig. Und jetzt hängen wir bei der digitalen Unterstützung hinterher. Dabei ist die Kontaktverfolgung immer noch die beste und quasi einzige Maßnahme, die wir aktuell haben. Ich denke, wir müssen für Pandemiefälle Datenschutzregeln zeitlich befristet lockern. Letztlich steht der Datenschutz in Konkurrenz zu Grundrechten, die uns im Moment genommen sind. Alles können wir nicht haben, bis die Pandemie vorüber ist.