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Corona: Warum ist Indiens Todesrate so niedrig?

July 29
00:43 2020
"Containment Zone" in Bangalore Icon: vergrößern

"Containment Zone" in Bangalore

Foto: 

JAGADEESH NV/EPA-EFE/Shutterstock

Die Betten in der Halle stehen dicht aneinander, es müssen Dutzende sein. Viele Patienten haben sich unter ihre Wolldecken verkrochen. Ein Arzt hat auf einem Klappstuhl neben einem von ihnen Platz genommen. Er fühlt den Puls des Mannes. Kaum jemand trägt Mundschutz.

Das Foto, das die Szene zeigt, ist schwarz-weiß. Es stammt aus dem Jahr 1918, Kansas, USA; aus der Zeit der Spanischen Grippe. Damals war die Not an Betten derart groß, dass die Behörden in aller Welt Säle in Notlazarette umwandeln ließen. Mindestens 50 Millionen Menschen starben damals; die meisten davon in Indien: je nach Schätzung zwischen zwölf und 20 Millionen Menschen.

Wer heute an die Stadtgrenze Bangalores fährt, fühlt sich an die Bilder aus dem vergangenen Jahrhundert erinnert. Hier liegt das Bangalore International Exhibition Center. Früher, als es noch zahlreiche Flüge ins Ausland gab, als Indiens Wirtschaft noch brummte und die vielen Technologie-Firmen der Stadt noch Ausstellungen abhielten, da präsentierten Firmen auf dem Gelände ihre Produkte. Seit Montag haben die vier Messehallen einen anderen Zweck zugewiesen bekommen: Jetzt stehen hier einfache Betten, vor jedem davon ist ein Ventilator aufgestellt – Platz für mehr als 10.000 Covid-19-Patienten.

Indiens Silicon Valley macht sich auf schwere Zeiten gefasst.

Täglich 50.000 neue Fälle

Die Zahlen in der Stadt sind im vergangenen Monat massiv angestiegen, so wie in vielen anderen Teilen des Landes. Mit der Folge, dass Indien derzeit mit offiziell knapp 1,5 Millionen registrierten Corona-Infektionen das am drittstärksten betroffene Land der Welt ist. Jeden Tag kommen rund 50.000 neue Fälle hinzu. Das ist gemessen an Indiens Bevölkerung immer noch wenig. Aber die Größe des Landes führt auch dazu, dass – während sich Europa auf eine mögliche zweite Welle gefasst macht – in Indien das Ende der ersten Welle noch lange nicht in Sicht ist.

In Indien leben 1,37 Milliarden Menschen, dreimal so viele Menschen wie in der EU, mehr Menschen als in Afrika. Es ist hilfreich, Indien weniger als Land, sondern als Kontinent zu begreifen: als eine Ansammlung von 28 Bundesstaaten, viele davon mit mehr Einwohnern als die meisten europäischen Länder. Indien erlebt nicht eine große Welle, sondern viele Wellen, die räumlich und zeitlich versetzt durchs Land schwappen. Mal erholt sich ein Gebiet, dann ist ein anderes betroffen. Erst war es unter anderem Mumbai, dann Delhi, nun ist es Bangalore.

Häuser und Wohnungen werden verbarrikadiert

Im Juni verhängte die Stadt erneut einen einwöchigen Lockdown. Der Verkehr hat seither spürbar abgenommen; die Zahl der Krankenwagen und Gesichtsmasken zugenommen. Wer mit dem Auto unterwegs ist, muss nun häufig wenden: In Häusern, in denen Corona-Fälle bekannt werden, markieren die Behörden die Wohnungen oder verbarrikadieren die Straße. Mehr als 12.000 dieser "Containment Zones" gibt es in der Stadt. Krankenhauspersonal berichtet von dramatischen Zuständen in den Krankenhäusern. Und doch: Es gibt auch Grund zu vorsichtiger Hoffnung.

Die Stadt Delhi, die vor Kurzem noch im Chaos zu versinken drohte, verzeichnet seit ein paar Wochen sinkende Zahlen an Neuinfektionen – trotz steigender Testzahlen. Allerdings ist diese Entwicklung mit großer Vorsicht zu bewerten.

Indiens Datenerfassung ist historisch schlecht. Delhi setzt zudem vermehrt auf Schnelltests, die zwar binnen weniger Minuten ein Ergebnis liefern, aber weniger zuverlässig sind. Das könnte ein Grund für die niedrigen Zahlen sein: Neue Fälle werden seltener erfasst. Die Behörden wenden jedoch ein: Auch die Zahl der Todesfälle sinkt seit geraumer Zeit.

Im Juni stellte der Indische Rat für medizinische Forschung eine Antikörper-Studie vor, die für Aufsehen sorgte – und für Skepsis: Danach sollen sich mehr als 23 Prozent der Einwohner Delhis bereits mit dem neuen Coronavirus infiziert haben. Das wären zwischen vier und fünf Millionen Einwohner – anstatt der rund 130.000 bislang bekannten Fälle. Sollten sich diese Zahlen bewahrheiten, würde das bedeuten, dass von 38 Neuinfektionen lediglich eine entdeckt wird. Das wäre besorgniserregend, ließe aber auch hoffen: Denn es könnte bedeuten, dass die Pandemie hierzulande weniger tödlich verläuft als angenommen.

Auch Pakistan und Bangladesch melden niedrige Todesraten

Bislang sind offiziell rund 33.000 Inder an Covid-19 verstorben. Diese Zahl ist allerdings auch mit großer Sicherheit eins: falsch. Selbst in normalen Zeiten stellt bei rund 80 Prozent aller Todesfälle kein Arzt einen Todesschein aus. In mehreren Fällen wurde bekannt, dass Ärzte Todesfälle durch Covid-19 bewusst oder unbewusst unterschlagen haben. Es liegt daher nahe, dass viele Corona-Tote nicht erfasst werden. Und dennoch: Zwar kam es vielerorts zu dramatischen Szenen, aber die große Angst, dass Indiens Krankenhäuser unter der Last zusammenbrechen könnten, hat sich bislang nicht erfüllt. Und auch die Nachbarländer Pakistan und Bangladesch melden bislang vergleichsweise niedrige Todesraten.

Einer der Gründe dafür ist, dass viele indische Städte mittlerweile in der Lage sind, den Patientenansturm besser zu bewältigen. Dazu gehören auch Isolierstationen wie jene in den Messehallen Bangalores und die vielen Hotels, die zu Covid-19-Zentren umgewandelt wurden: Einmal am Tag müssen Patienten ihre Sauerstoffsättigung und Puls-Werte durchgeben. Nur wer schwer erkrankt, wird ins Krankenhaus eingewiesen. Sobald ein Patient keine Symptome mehr zeigt, wird er entlassen. Dadurch haben es zum Beispiel Delhis Behörden geschafft, die Betten in den Krankenhäusern freizuhalten.

Eine weitere Erklärung könnte Indiens junge Bevölkerung sein – nur fünf Prozent der Inder sind älter als 65. Aber ob das tatsächlich der Fall ist und was passiert, wenn sich das neue Coronavirus erstmal in ländlichen Gebieten ausbreitet, wo es kaum ärztliche Versorgung gibt – all das lässt sich noch nicht sagen. Denn dafür bräuchte Indien endlich, was sich in dieser Pandemie als essenziell herausgestellt hat: verlässliche Zahlen.

Icon: Der Spiegel

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