Corona-Shutdown erhöhte Arbeitslosenzahl allein im April um knapp 120.000

Verwaiste Fußgängerzone in Koblenz (am 16. April): Knapp 120.000 zusätzliche Arbeitslose verursachte der Shutdown binnen einem Monat
Sascha Ditscher/ imago images/Sascha Ditscher
Deutschland öffnet wieder: Restaurants und Ladengeschäfte, Friseure und Fitnessstudios, Hotels und Freizeitparks – wo wochenlang Stillstand herrschte, kehrt wieder Leben ein, mal mehr, mal weniger schnell. Vom Normalzustand kann vielerorts noch längst nicht die Rede sein, doch der Shutdown liegt hinter uns. Zumindest der erste.
Denn leider könnten angeordnete Betriebsschließungen und drastische Kontaktbeschränkungen wieder nötig werden, wenn auf Deutschland eine für Pandemieverläufe typische zweite Infektionswelle zukäme. Zwar spricht der Virologe Christian Drosten im SPIEGEL-Gespräch von einer "theoretischen Möglichkeit, dass wir ohne zweite Welle durchkommen" – was aber immer noch so klingt, als sollte man vom Gegenteil ausgehen. Hoffnungsvoller stimmt dagegen eine zweite Äußerung Drostens: "Vielleicht entgehen wir einem zweiten Shutdown." Da man das Coronavirus inzwischen genauer kenne, brauche man dann vielleicht nicht mehr "die ganze breite Palette an Maßnahmen".
Die Reaktion auf eine zweite Welle muss also vielleicht nicht mehr zwangsläufig darin bestehen, alle Restaurants, Läden oder Autowerke in der ganzen Bundesrepublik von Greifswald bis Lörrach zu schließen. Denn der wirtschaftliche Schaden der vergangenen Wochen war enorm, mit Folgen nicht nur für die Betriebe, sondern auch für ihre Beschäftigten.
Was zweifellos vielen Menschen Leben und Gesundheit gerettet hat, hat gleichzeitig auch Zehntausende Menschen den Job gekostet. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA). Die IAB-Ökonomen Anja Bauer und Enzo Weber wollten wissen, wie viele neue Arbeitslose im April direkt auf die Shutdown-Maßnahmen in der Bundesrepublik zurückzuführen sind – also nicht auf rein statistische Effekte oder den Umstand, dass Exportmärkte eingebrochen sind und dies deshalb hierzulande Arbeitslose verursacht hat.
Das IAB-Diskussionspapier kommt zu dem Schluss, dass allein die Shutdown-Maßnahmen die Arbeitslosigkeit im April rechnerisch um 117.000 Personen erhöht hat. Ein Anstieg in dieser Größenordnung ist beispiellos. Damit dürften die Schließungen und Kontaktbeschränkungen mit Abstand die wichtigste Ursache für den starken Anstieg gewesen sein, obwohl die Zahl der Arbeitslosen im April insgesamt um 308.000 gestiegen ist. Doch diese Zahl kann man eigentlich vernachlässigen.
Denn dieser offiziellen Arbeitslosenzahl liegt vor allem ein statistischer Effekt zugrunde. In der offiziellen Statistik werden stets jene Arbeitslose herausgerechnet, die Arbeitsagentur und Jobcenter in Schulungen, Weiterbildungen oder andere Maßnahmen schicken. Doch dieser Rechentrick verliert jetzt seine Wirkung. Weil eben diese Maßnahmen durch die Corona-Beschränkungen ebenfalls zumeist nicht mehr stattfinden konnten, tauchten nun auch diese Personen im April in der Statistik auf – obwohl sie bereits vor der Pandemie arbeitslos waren.
Mehr Aussagekraft hat daher eine andere Statistik, die die BA immer zusätzlich zur offiziellen Arbeitslosenzahl veröffentlicht: die Unterbeschäftigung. Sie zählt alle Arbeitslosen, also auch die in Schulungen. Die Zahl der Unterbeschäftigten ist im April lediglich um 184.000 gestiegen – dies dürfte dem tatsächlichen Geschehen auf dem Arbeitsmarkt recht nahe kommen. Gemessen an dieser Zahl sind die 117.000 Shutdown-Arbeitslosen schon eine ganz andere Größe als an der offiziellen Arbeitslosenzahl von 308.000.
Die IAB-Forscher unterschieden bei ihren Berechnungen zwei Ursachen für den Anstieg der Arbeitslosigkeit: Einerseits jene Personen, die in Arbeit waren und ihren Job verloren haben – andererseits jene, die bereits arbeitslos waren oder neu auf den Arbeitsmarkt kamen und wegen des Shutdowns keinen Job bekamen. Denn anders als die normalerweise relativ konstante Zahl der Arbeitslosen nahelegt, herrscht immer eine große Fluktuation: Den vielen Personen, die jeden Monat ihren Job verlieren, stehen stets auch viele Personen gegenüber, die einen neuen Job antreten. Das Verhältnis ist meist sehr ausgeglichen.
Der Shutdown zeigte laut den IAB-Berechnungen bei beiden Ursachen beinahe gleich große Wirkung: 64.000 Personen fielen aus Beschäftigung in die Arbeitslosigkeit, weitere 53.000 Personen wurden nicht eingestellt.
Wirtschaftszweige unterschiedlich betroffen
Die Ökonomen griffen auf das umfangreiche Datenmaterial des IAB und der BA zurück. Sie trafen für jeden von fast 70 Wirtschaftszweigen Annahmen, wie stark er von den Shutdown-Maßnahmen betroffen war – und zwar sowohl direkt als auch indirekt durch die Beeinträchtigungen in anderen Sektoren.
Einige Beispiele:
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So ergab sich etwa für den Urlaubsreisesektor ein Faktor von 100 Prozent – schließlich waren Urlaubsreisen komplett untersagt.
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Auch die Autoindustrie war faktisch stillgelegt und erhielt den Faktor 100 Prozent. Zwar wurden die Autowerke nicht behördlich geschlossen, sie waren aber im betrachteten Zeitraum komplett heruntergefahren.
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Für den gesamten Einzelhandel ergab sich ein Faktor von 40,5 Prozent, da Lebensmittelgeschäfte, Drogerien und Tankstellen weiter geöffnet hatten und sogar mehr Umsatz machten.
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Spediteure waren teilweise direkt von angeordneten Schließungen betroffen (angenommener Faktor: 32,8 Prozent) und litten zudem stark unter dem Auftragsrückgang aus Handel und Industrie, was zu einem Gesamtfaktor von 53,2 Prozent führte.
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Die Pharmaindustrie war hingegen überhaupt nicht vom Shutdown betroffen – Faktor 0 Prozent.
Durch die Unterschiede bei den Entlassungen zwischen den Wirtschaftszweigen konnten die Forscher jahreszeitliche sowie von der Pandemie unabhängige konjunkturelle Effekte herausrechnen. Sie berücksichtigten Trends, die bereits vor der Pandemie bestanden, etwa die strukturelle Krise in der Autoindustrie. Sie rechneten die erheblichen Effekte im Außenhandel heraus, die sich durch die oft noch stärkeren Shutdown-Maßnahmen in wichtigen Absatzmärkten rund um die Welt ergaben. Und sie machten sich zunutze, dass die Shutdown-Maßnahmen nicht in ganz Deutschland gleichzeitig eingeführt wurden, sondern je nach Bundesland mit einigen Tagen Unterschied – kombiniert mit den Daten der regionalen Arbeitsagenturen ließen sich so ebenfalls Effekte berechnen.
Allerdings könnte der Shutdown die Arbeitslosigkeit am Ende durchaus noch stärker erhöht haben – schließlich dürften sich viele Menschen auch noch nach dem Stichtag am 14. April arbeitslos gemeldet haben, und viele Betriebe mögen zwar die ersten Wochen überstanden haben, könnten aber inzwischen oder in den kommenden Wochen in die Knie gehen.
Die IAB-Autoren betonen, dass sich ihre Berechnungen auf den Zeitraum zwischen Mitte März und Mitte April beziehen und nicht einfach fortgeschrieben werden können – ein weiterer Shutdown etwa im Herbst könnte die Arbeitslosigkeit noch stärker erhöhen, aber auch deutlich weniger. Zudem stellen die Ökonomen klar, dass ohne den Shutdown nicht nur Zehntausende mehr Corona-Tote gedroht hätten, sondern mittelfristig auch weit größerer Schaden auf dem Arbeitsmarkt hätte entstehen können.
Dennoch machen die Berechnungen deutlich, wie stark flächendeckende und umfassende Betriebsschließungen und Kontaktbeschränkungen die Arbeitslosigkeit in die Höhe treiben. Sollte es zu einer zweiten Infektionswelle kommen, könnten gezielte, nach Branchen und Regionen differenzierte Maßnahmen diesen Schaden zumindest begrenzen.
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