Corona-Lockerungen: Forderungen werden lauter, doch Strategie birgt großes Risiko
Die Warnungen der Kanzlerin verhallen ungehört, die Rufe nach weiteren Lockerungen der Corona-Regeln werden immer lauter. Der schnelle Kurs in Richtung Normalität birgt ein großes Risiko.
Jetzt also die Kirchen. Bundesweit könnten in der Coronakrise Gottesdienste und Andachten bald wieder erlaubt sein. "Wir sind einen großen Schritt weitergekommen", sagte ein Sprecher des Bundesinnenministers am Montag. Entscheidend soll die Runde von Kanzlerin Angela Merkel mit den Ministerpräsidenten kommenden Donnerstag sein.
Die Bundesregierung strebt eine einheitliche Regelung an, wie auch in Kirchen nach den wochenlangen Kontaktverboten und Ausgangsbeschränkungen wieder ein wenig Normalität einkehren könnte. Doch Gottesdienste sind Ländersache, einige Länder haben bereits entschieden, sie im Mai wieder zu erlauben.
Unter anderem Nordrhein-Westfalen. Von Freitag an sind im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland Gottesdienste wieder möglich – wenn Abstands- und Hygieneregeln eingehalten werden. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hat sich zuletzt einen Ruf als oberster Lockerungsfürsprecher erarbeitet. Er ist damit zum Gegenpol der Kanzlerin geworden, die am Donnerstag in einer Regierungserklärung warnte, einige Länder gingen ihr bei derzeit beim gesellschaftlichen Neustart "zu forsch" vor.
Merkels Worte, so scheint es, verhallen weitgehend ungehört. Lange herrschte staatstragende Einigkeit im Kampf gegen das Virus. Doch seit die epidemiologischen Eckdaten Grund zur Hoffnung geben, wird auch der Ruf nach einer möglichst raschen Rückkehr in den Alltag lauter. Gottesdienste, Schulen, Kitas, Geschäfte, Gastronomie, Tourismus – überall wird geklagt und gedrängelt: Wann geht es endlich wieder los?
Mehr noch: Während die Bremser noch vor einem Rückfall warnen, fordern andere bereits, man dürfe sich nicht länger "unter das Joch der täglich wechselnden Fallzahlen stellen", der Lockdown sei im Begriff, "unser soziales, kulturelles und wirtschaftliches Leben zu ruinieren". So schreibt es eine Gruppe prominenter Autoren aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft in einem Gastbeitrag für den SPIEGEL. Am Wochenende schien auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) eine Grundsatzdebatte anstoßen zu wollen, im "Tagesspiegel" sprach er sich dagegen aus, in der Coronakrise jede Entscheidung dem Schutz von Leben unterzuordnen.
Laschet sieht es genauso. Die Politik müsse "viel umfassender diskutieren und "nicht jeden Tag nur auf die Infektionszahlen gucken", sagte er in der ARD. Auch die Kosten im Gesundheitssystem müssten in den Blick genommen werden: Wenn das System nicht mehr finanzierbar sei, weil der Staat sich übernehme, gefährde das auch Leben, so Laschet.
Der Ministerpräsident ist nicht allein in seinem Lockerungseifer. Auch andere Länderchefs mildern die geltenden Beschränkungen schneller, als es der Bundesregierung lieb ist. Alle zusammen gehen damit die riskante Wette ein, dass die Pandemie auch mit diesem Kurs beherrschbar bleibt.
Kramp-Karrenbauer warnt vor Lockerungen
Doch was ist, wenn nicht? CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer warnte am Montag deutlich vor den Konsequenzen. Die Zahl der Neuinfektionen sei mit derzeit 2000 pro Tag nach wie vor hoch. Bei diesen Zahlen sei es eine "sehr riskante Wette", über massive Lockerungen zu reden.
Auch Virologen sind sich nahezu einig: Wird jetzt zu schnell gelockert, besteht die Gefahr einer zweiten Welle, könnten die Infektionen erneut exponentiell ansteigen. Und dann könnte auch in Deutschland die Zahl der Intensivbetten und Beatmungsgeräte nicht ausreichen, warnt Christian Drosten von der Berliner Charité. Die Folge: viele Tote.
Bisher sind solch dramatische Bilder, wie sie aus Italien oder Spanien um die Welt gingen, hierzulande ausgeblieben. Tausende Klinikbetten werden freigehalten für Patienten, die – bislang – nicht gekommen sind. Auch dieser Umstand befeuert nun die politische Debatte.
Politik hat zur Verunsicherung beigetragen
Waren die Maßnahmen am Ende übertrieben? Oder haben gerade sie dafür gesorgt, dass Deutschland bisher so glimpflich davongekommen ist? Und steht uns womöglich das Schlimmste erst noch bevor?
Die Verunsicherung ist groß. Und die Politik hat ihren Teil dazu beigetragen. So schlitterten die Ministerpräsidenten in den Lockdown mehr oder weniger hinein. Nach koordiniertem, einhelligem Vorgehen sahen die ersten Maßnahmen Mitte März nicht aus. Auch wenn sich das in den vergangenen Wochen gebessert hat, die eine oder andere Kehrtwende ist schwer zu erklären.
Beispiel Maskenpflicht: Vor zwei Wochen noch sprachen sich die Ministerpräsidenten, flankiert von der Wissenschaft, gegen eine Maskenpflicht aus – um sie dann einer nach dem anderen doch einzuführen.
Beispiel Tracing App: Zunächst hatten Gesundheitsministerium und Kanzleramt auf einer Speicherung der Nutzerdaten bestanden, nun soll es doch einen dezentralen Ansatz geben.
Auch den Virologen wird vorgeworfen, ihre Empfehlungen in den vergangenen Wochen immer mal wieder verändert zu haben. Laschet griff die Experten dafür in der ARD-Sendung "Anne Will" scharf an. Erst sei das Ziel gewesen, keine Zustände wie in Norditalien zu bekommen, dann habe es geheißen, die Verdoppelungszahl der Infektionen müsse auf einen Wert von nur zehn bis zwölf Tagen steigen. Und dann sei schließlich die Reproduktionszahl ins Spiel gekommen.
"Das kann wirklich schädlich sein"
In der Großen Koalition stößt Laschet damit auf deutlichen Widerspruch. Teilnehmern zufolge kritisierte etwa CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt den CDU-Politiker in einer Videoschalte des Parteivorstands. Politik müsse die Stimmen der Wissenschaft berücksichtigen, sagte Dobrindt demnach: "Unsere Linie ist, Verlässlichkeit und Vertrauen durch wissenschaftliche Beratung zu schaffen. Deshalb dürfen wir keinen Zweifel lassen, dass wir unsere Entscheidungen auf Basis wissenschaftlicher Beratung treffen."