Corona ist real – Rassismus auch: Kommentar zu Demonstrationen ohne Abstand

Anti-Rassismus-Demonstration in Austin, Texas
Mario Cantu/ imago images/ZUMA Wire
Es waren ungewohnte Bilder, die am Wochenende aus mehreren deutschen Städten kamen: Menschenmassen auf öffentlichen Plätzen, ohne den Mindestabstand. Sie hinterlassen ein mulmiges Gefühl – die Angst vor Superspreadern und der Corona-Pandemie in Deutschland ist real und sie ist berechtigt.
Einige empörten sich denn auch angesichts dieser Bilder und vermengten die Debatte mit der um Schulöffnungen oder anderen Corona-Restriktionen: Noch immer dürfen Kinder wenn überhaupt nur unter strengsten Vorsichtsmaßnahmen für wenige Stunden Kitas oder Schulen besuchen – aber Zehntausende können demonstrieren, als wäre das Virus egal?
Dieser Reflex ist zwar verständlich, die Frage lenkt aber ab und ist etwas scheinheilig. Denn so lange beengte Zustände in europäischen (auch deutschen) Flüchtlingsheimen und -lagern hingenommen werden, solange in Schlachthäusern und Erntehelferunterkünften keine Hygienestandards eingehalten werden und solange Menschen auf Schlauchbooten Partys feiern, wird es ohne Impfstoff sowieso keine absolute Sicherheit vor dem Virus geben.
In der Pandemie müssen wir uns fragen: Was ist wirklich wichtig? Worauf können wir auf keinen Fall verzichten? Das Demonstrationsrecht, das Recht, auf Fehler im System hinzuweisen, gehört dazu. Es gehörte dazu, als Menschen gegen ausgedachte Corona-Impfpflichten und die angebliche "Merkel-Diktatur" protestierten. Und es gehört dazu, wenn es darum geht, gegen Rassismus zu kämpfen.
Die Angst nicht weißer Menschen, Opfer von Polizeigewalt zu werden, ist nämlich ebenfalls real. Sie hat die Protestierenden auf die Straßen getrieben, trotz Corona. Das zeigt auch, wie groß diese Angst sein muss. Sie speist sich aus Fällen wie dem Oury Jallohs, der in einer Gewahrsamszelle des Dessauer Polizeireviers verbrannte. Sie speist sich aus den jahrelang fehlgeleiteten Ermittlungen zu den NSU-Morden, die die Täter im Umfeld der Opfer suchten und die Nazi-Terroristen unbehelligt ließen. Sie speist sich aus den Meldungen über rechte Strukturen in Polizeieinheiten und aus unzähligen Situationen von "racial profiling", der diskriminierenden Polizeikontrolle von Menschen allein wegen ihrer Hautfarbe – eine Praxis, die von weißen Menschen nicht wahrgenommen wird, weil sie sie selbst nie erleben und weil sie statistisch nicht erfasst wird.
Spätestens seit dem NSU-Terror wissen wir, dass es systematischen Rassismus in deutschen Behörden und Sicherheitsorganen gibt. Und wir wissen auch, dass das die allermeisten Menschen in Deutschland nicht kümmert. Oder schlimmer noch, dass viele nicht mal davon hören wollen. Reflexhaft wird die Polizei in Schutz genommen: Die meisten BeamtInnen seien doch verantwortungsvoll und gingen ganz ohne Diskriminierung ihrer Arbeit nach. Diese Behauptung kann nicht ausreichen. Unser Anspruch an die Sicherheitsbehörden muss höher sein. Sie sollen Demokratie, Freiheit und Sicherheit gewähren und schützen. Ihre Integrität muss über jeden Zweifel erhaben sein.
Dass das Vertrauen von People of Color in Polizei und Rechtsstaat gestört ist, haben fast 200.000 Menschen am Wochenende gezeigt. Sie haben gezeigt, dass ihre Angst groß ist. Nicht weiße Menschen müssen Angst haben vor dem Virus und vor Rassismus. Denn beides kann sie töten.
Icon: Der Spiegel