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Corona in Schweden: Das Missverständnis vom Sonderweg

April 26
16:29 2020

Offene Schulen und Restaurants: Im Kampf gegen das Coronavirus verweisen Lockdown-Gegner gern auf den schwedischen Sonderweg. Doch den gibt es so gar nicht.

In der Coronakrise schielen viele Europäer nach Schweden – sowohl Befürworter noch härterer Einschränkungen als auch jene, die vehement Lockerungen fordern. Denn während andere europäische Länder den harten Lockdown verhängen mussten, gehen schwedische Kinder weiter zur Schule, selbst Cafés haben geöffnet.

Der Eindruck, Schweden befinde sich auf einem Sonderweg, basiert jedoch auf einem Missverständnis. Alle Länder haben dasselbe Ziel: Die Infektionskurve möglichst flach halten, um eine Überforderung des Gesundheitssystems zu verhindern. Das gilt auch für Schweden.

Eine möglichst schnelle Herdenimmunität auf Kosten der bestmöglichen Gesundheitsversorgung zu erreichen, ist nicht das Ziel, betonte die Regierung mehrfach. Es wäre ohnehin tückisch, solange niemand weiß, wie lange eine Immunität überhaupt hält. Mit den steigenden Fallzahlen bilden zwar auch mehr Menschen Antikörper, aber Corona-Partys gibt es auch in Schweden nicht. Dort sind die Menschen ebenfalls deutlich weniger unterwegs, es wird möglichst von zu Hause aus gearbeitet, Besuche in Altenheimen sind untersagt.

Als Architekt des vermeintlichen Schweden-Sonderwegs gilt Anders Tegnell, Epidemiologe bei der schwedischen Gesundheitsbehörde, deren Empfehlungen die Politik bisher gefolgt ist. Auch Tegnell sagte jüngst im Interview mit "Nature News", der Nachrichtenplattform des renommierten Fachblatts, es werde überschätzt, wie einzigartig der schwedische Umgang mit dem Coronavirus ist.

Ziel des Landes sei es, die Ausbreitung so weit wie möglich einzudämmen – wie in jedem anderen Land auch. Ohne einen Impfstoff lasse sich die Krankheit nicht aufhalten. "Wir brauchen langfristige Lösungen, die die Verbreitung von Infektionen auf einem bestimmten Level halten", betonte der Staatsepidemiologe aus Uppsala.

Doch welche Freizügigkeit für das Gesundheitssystem verkraftbar ist, lässt sich nur schwer abschätzen. Großbritannien musste das schmerzlich erfahren, nachdem es sich zu viel Freiheit gegönnt hatte. Die Fallzahlen schossen in die Höhe, Premier Boris Johnson – eben noch demonstrativ Hände von Covid-19-Patienten schüttelnd – erkrankte selbst und musste auf die Intensivstation.

Ob Schweden und andere Länder einen ähnlichen Weg gehen werden, wird sich in den kommenden Monaten zeigen. Im Vergleich zu anderen Ländern wie Deutschland und Spanien erscheinen die offiziellen Fallzahlen in Schweden extrem niedrig. Allerdings leben in dem Land auch deutlich weniger Menschen. Und Kritiker monieren, es werde viel zu wenig getestet.

Ein Blick auf die Kurve der pandemischen Entwicklung in Schweden allein zeigt: Während sich die Wachstumskurve in anderen Ländern allmählich abflacht, steigt sie in Schweden kontinuierlich an. Noch scheint das Gesundheitssystem dadurch nicht überlastet zu werden. Das kann sich jedoch ändern.

Weil das Infektionsgeschehen so dynamisch ist, müssen es die Länder und die Maßnahmen auch sein. Was heute noch der schwedische Weg ist, könnte in einigen Monaten der von Italien sein und umgekehrt. Das zeigt sich gerade bei Österreich. Wenn die Restaurants dort wie geplant bis Mitte Mai öffnen, ist die Situation in der Alpenrepublik vergleichbar mit Schweden. Von einem österreichischen Sonderweg spricht aber niemand.

Auch Deutschland war – was das Ausmaß der Einschränkungen angeht – Schweden selbst vor den jüngsten Lockerungen näher als Ländern wie Frankreich, Italien oder Spanien, wo ganze Regionen unter Quarantäne standen oder jeder, der vor die Tür wollte, eine Ausgangsbescheinigung ausfüllen musste.

Schweden könnte sich indes zum Österreich von vor einigen Wochen entwickeln. Zumindest gerät Staatsepidemiologe Tegnell zunehmend unter Druck. Schon Mitte März forderten Wissenschaftler in einem offenen Brief einen Kurswechsel der Regierung. Vergangene Woche entflammte die Diskussion erneut, als Forscher in der Zeitung "Dagens Nyheter" den Gesundheitsbehörden vorwarfen, versagt zu haben.

"Wir in Schweden glauben, wir sind besser als die anderen und müssen nicht auf die WHO hören. Das ist dumm", sagte einer der schärfsten Kritiker, Bo Lundbäck, Professor für klinische Epidemiologie von Lungenerkrankungen in Göteborg der Deutschen Presse-Agentur dpa. Der Preis, den Schweden im Kampf gegen das Coronavirus zahlt, sei zu hoch.

Tatsächlich sterben in Schweden derzeit ungewöhnlich viele Menschen, Experten sprechen von Übersterblichkeit. Sie ist ein Gradmesser dafür, wie viele Todesfälle tatsächlich auf eine bestimmte Krankheit zurückgehen. (Mehr dazu lesen Sie hier.)

Noch vor wenigen Wochen schienen in Schweden nicht mehr Menschen zu sterben als sonst; dies zeigt eine Übersicht des Projekts Euromomo, das wochenweise die Übersterblichkeit für 24 europäische Staaten erfasst. Inzwischen ist sie in Schweden jedoch sehr stark erhöht, wie diese Karte zeigt.

Nur in Ländern wie Spanien, Italien oder Frankreich ist die Todesrate noch stärker gestiegen. Dort war das Gesundheitssystem teilweise überlastet, sodass nicht mehr alle Covid-19-Patienten optimal versorgt werden konnten. Für Deutschland erfasst Euromomo nur die Teilgebiete Berlin und Hessen, dort ist die Todesrate bisher nicht erhöht. (Mehr über die Erfassung von Todesfällen in Deutschland lesen Sie hier.)

Selbst wenn das deutsche Gesundheitssystem auch in den kommenden Monaten stabil bleibt, ist Deutschland nicht vor einer erhöhten Sterblichkeit gefeit. Auch mit der bestmöglichen Versorgung können Menschen an Covid-19 sterben.

Die Bundesländer tasten sich derzeit vor, welche Lockerungen vertretbar sind, um die Fallzahlen auf einem stabilen Level zu halten und das Gesundheitssystem nicht zu überfordern.

In Nordrhein-Westfalen haben die ersten Schulen wieder geöffnet, in Berlin flattern bald keine Sperrbänder mehr um Spielplätze und in Hamburg hat ein Gericht die 800-Quadratmeter-Regel für die Wiedereröffnung von Geschäften gekippt. Es droht eine Prozesswelle, wer zuerst öffnen darf.

Mit den Lockerungen werden auch die Corona-Fallzahlen steigen. Der Blick nach Schweden zeigt, dass auch ohne den Kollaps des Gesundheitssystems mehr Menschen sterben. Die Umsetzung der jüngsten Corona-Beschlüsse mit ihren Lockerungen wirke "in Teilen sehr forsch, um nicht zu sagen zu forsch", warnte Angela Merkel in der ersten Regierungserklärung am Donnerstag. Das Prinzip Hoffnung überzeugt sie nicht.

Auch Schwedens Chef-Epidemiologe Tegnell gibt zu: Die Situation in Pflegeheimen sei unterschätzt worden. Die Behörden hätten mehr kontrollieren müssen, ob die geltenden Vorgaben dort eingehalten werden. Trotzdem glaubt er nicht, dass Schweden von seinem Weg abweichen wird. Ob diese Einschätzung der epidemiologischen Entwicklung standhalten wird, muss sich zeigen.

Ministerpräsident Löfven: "Die Gefahr ist noch lange nicht vorbei"

Zweifel sind angebracht. Zuletzt gab es bei gleich zwei für das schwedische Vorgehen entscheidenden Corona-Studien peinliche Pannen, berichtet die "Tagesschau". Das Karolinska-Institut musste eine Studie zurückziehen, laut der sich bereits bis zu 30 Prozent der Schweden mit dem Coronavirus angesteckt hätten und damit potenziell immun sein könnten.

Das Problem: Es ist nicht auszuschließen, dass unter den untersuchten Blutproben – die eigentlich zufällig ausgesucht werden sollten – Proben von nachweislich Infizierten gelandet sind, deren Blutplasma zur Therapie von Covid-19-Patienten verwendet werden sollte. Wenn das so ist, wäre es keine Überraschung, dass der Anteil der Proben mit Antikörpern so hoch ist. Für Rückschlüsse auf die gesamte Bevölkerung wäre die Studie wertlos.

Zudem hat die schwedische Gesundheitsbehörde in einer Analyse mit einer viel zu hohen Dunkelziffer gerechnet. Sie ging davon aus, dass auf einen bestätigten Corona-Fall 999 weitere kämen. Gemessen an den nachgewiesenen Corona-Infektionen müssten in Stockholm dann allerdings mehr als sechs Millionen Menschen infiziert sein. Die Stadt hat aber nur eine Million Einwohner.

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